Christian Lentz

Kinder des Atoms


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Ort versammelt und so glücklich, wie er glücklicher nicht sein konnte. Er sah wieder aus dem Fenster und dachte an seine eigene Kindheit. Liebevolle Eltern, ein behütetes Heim, innige Freundschaften…Das alles wurde ihm schlagartig an seinem 17. Geburtstag entrissen. Der 7. Juli 2005 öffnete sein Tor zur Hölle, das seither nie mehr vollständig geschlossen werden konnte. Im Zuge der schwersten Selbstmordattentate in der Geschichte Londons hatten sich mehrere islamistische Terroristen in der U-Bahn sowie in einem Doppeldeckerbus in die Luft gejagt. Unter den unzähligen Opfern befanden sich auch seine Eltern und Großeltern, die an diesem Tage mit der Bahn Richtung Russell Square unterwegs waren, um sich dort mit ihrem Sohn und Enkel zum Brunch zu treffen. Nach den Anschlägen war nichts mehr so wie es war. Michael wurde von einem Tag auf den anderen zum Vollwaisen. Alle um ihn herum versuchten ihn zu trösten, boten ihm Hilfe, offene Ohren und starke Schultern an. Aber Michael wollte keinen Trost, er wollte Rache.

      Nachdem er die Schule beendet hatte, ging er zum Militär und schloss dort seine Grundausbildung ab. Sein Ausbilder war von der Entschlossenheit und Willensstärke des jungen Rekruten beeindruckt und forderte und förderte ihn auch über die Grundausbildung hinaus. Schließlich empfahl er dem Jungen, für seine persönliche Entwicklung über den Tellerrand hinauszublicken. Dank eines Empfehlungsschreibens und persönlicher Kontakte verbrachte Michael die folgenden Jahre an der Universität der Bundeswehr in München und studierte dort Technische Informatik und Kommunikationstechnik. Die Einblicke in eine andere Armeestruktur taten ihm sichtlich gut und brachten ihn in seiner Entwicklung ein gutes Stück weiter. Nach mehreren NATO-Manövern, Einsätzen am Hindukusch und in Afghanistan sowie im Irak, spürte Michael, dass er das Loch, das die Selbstmordattentäter in sein Herz gerissen hatten, als normaler Soldat nicht füllen konnte. Er wollte mehr tun. Und er sollte seine Chance kriegen. Jack O`Connell, Michaels alter Ausbilder bei der britischen Armee, hatte ihn für die „Blades“ vorgschlagen. Und so wurde Michael zu einem Mitglied der Spezialeinheit SAS (Special Air Service), die die Interessen Großbritaniens in Auslandseinsätzen und geheimen, nachrichtendienstlichen Operationen sicherte.

      Was Michael zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste war, dass Alex Older ein Auge auf ihn geworfen hatte. Older war ein alter militärischer Wegbegleiter O`Connells, der vor einigen Jahren zum Leiter des Secret Intelligence Service, besser bekannt als MI6, ernannt worden war und seitdem etwas für junge, aufstrebende Männer und Frauen übrig hatte, die ihrem Land dienen wollten und die über besondere Fähigkeiten und Charaktereigenschaften verfügten. Olders Interesser war geweckt. O`Connells Näschen für Talente, die das Zeug zum Agenten hatten, war besonders fein. Und so wurde Michael Weg, ohne dass er davon Kenntnis nahm, von ganz oben mit großem Interesse verfolgt.

      Heather hatte bereits in der Schule ein Auge auf Michael geworfen. Nach einer kurzen Liebelei kam der Anschlag dazwischen und Michaels Welt war zu zerstört, als dass dort noch Platz für so etwas wie Liebe gewesen wäre. Jahre später, er war bereits ein Jahr bei der Spezialeinheit tätig, trafen sie sich zufällig in einem Londoner Pub wieder und die Funken begannen wieder zu fliegen. Die Liebe, die Michael vor Jahren noch für unmöglich hielt, traf ihn nun umso heftiger und Heather und er wurden ein Paar. Gekrönt wurde ihre Liebe nur ein Jahr später durch die Geburt von Drillingen.

      »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich nach so vielen Jahren wiederfindet und dann obendrauf noch Drillinge bekommt? Sie sind wahrlich gesegnet«, hatte der Priester damals gesagt, vor dem sie sich damals in der Union Chapel das Ja-Wort gegeben hatten.

      Michael hatte jedoch ein Dilemma. Zum Schutz seiner Familie durfte er niemandem etwas von seiner tatsächlichen Tätigkeit erzählen. Also beschloss er schweren Herzens, diesen Teil seines Lebens vor Heather geheim zu halten. Je weniger sie wusste, umso mehr wären sie und die Kinder geschützt. Er hatte ihr erzählt, er habe Archäologie studiert, sei viel in der Welt rumgekommen und würde nun in einem ruhigen Job für die Regierung an einem projekt im British Museum arbeiten. »Ein schönes gemeinsames Leben mit einer Lüge ist allemal besser, als die Einsamkeit mit der Wahrheit«, sagte sich Michael immer dann, wenn er zu zweifeln begann.

      »Nun ist es aber genug«, rief Heather in gespielt-gebieterischem Tonfall und warf die Decke mit einer fließenden Bewegung von sich. Michael lachte, griff sich zwei der Kinder und gemeinsam gingen sie die Treppe herunter in die Küche des Hauses. Wenig später saßen alle fünf am Frühstückstisch. Während die Kinder ihre Croissants aßen und ihren Saft tranken, saß Michael vor der aufgeblätterten Times und nippte gelegentlich an dem dampfenden Becher mit dem schwarzen Kaffee. Kurz sah er von der Zeitung auf und blickte in das wunderschöne Gesicht seiner Frau, die gerade dabei war, Cathy einen Saftbart von der Oberlippe zu wischen. Er lächelte und vertiefte sich dann wieder in die Zeitung. Wenige Augenblicke später klingelte das Telefon. Heather ging ran, kam einige Sekunden später zurück in die Küche und gab Michael den Hörer. »Es ist Pete von der Arbeit. Michael, es ist Samstag«, sagte sie, verdrehte die Augen, nur um zwei Schritte auf ihn zuzuspringen und ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken.

      Lachend hielt Michael den Hörer ans Ohr. »Pete mein Freund. Können die Mumien nicht bis Montag warten?«

      »Mike, wir sind aufgeflogen. Alle! Die Nachrichten bringen es auf allen Kanälen. Mach den Fernseher an verdammt.« Michael spürte, wie ihm heiß und kalt wurde und sich ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengegend breit machte. Er beendete das Gespräch, sah Heather kurz an und ging dann ins Wohnzimmer, um den Fernseher anzuschalten.

      Dort lief gerade eine Sondersendung, in der der Nachrichtensprecher die aktuellen Entwicklungen kurz zusammenfasste. Offensichtlich waren in der Nacht von Freitag auf Samstag unter anderem Dokumente geleaked worden, die brisante Informationen über den SAS, den MI6 und die für den Service tätigen Agenten beinhalteten. Wenige Augenblicke später erkannte er das gesamte Ausmaß der Katastrophe. Die für jedermann frei zugänglichen Informationen waren offenbar im Darknet aufgetaucht, von wo sie nicht rechtzeitig gesperrt und aus dem Verkehr gezogen werden konnten. Dank unzähliger Kopien, die es mittlerweile davon geben musste, war es nun unmöglich, die Verbreitung dieser Informationen noch aufzuhalten. Auf der Jagd nach Clickbaits würde man in den nächsten Stunden nun überall im Netz Artikel und Hinweise zu diesen Dokumenten finden. Und so hatten sich auch die traditionellen Medien entschieden, darüber zu berichten, auch wenn sie natürlich nicht die Namen und Adressen im Fernsehen zeigen würden. Jedoch wusste jeder, der es wollte, wo er diese Informationen herbekommen konnte.

      Michael loggte sich an seinem Laptop ein und drei Klicks später befand er sich bereits auf einer Seite, auf der unzensiert die Identitäten, Aliasnamen, Photos und Wohnadressen von Agenten und Mitarbeitern sowohl des Inlandsgeheimdienstes MI5 als auch des Auslandsgeheimdienstes MI6 gezeigt wurden. Nachdem er gerade das Gesicht und die danebenstehenden Informationen seines Kollegen Pete Cunningham gelesen hatte, traf ihn die nächste Seite wie ein heftiger Schlag in die Magengrube.

      »Michael Zain, 33 Jahre, 1,87m groß, 88 Kg schwer, dunkelblondes Haar, Soldat des SAS seit 2015, verdeckte Einsätze im Irak, Afghanistan, Südafrika, Deutschland…, verhinderte Anschläge: 2017 Düsseldorfer Altstadt…", las er ungläubig vor und überflog die weiteren Informationen bis zum Ende der Seite. Dort stand schließlich das, wovon er so sehr gehofft hatte, dass es womöglich doch geheim geblieben wäre.

      »Verheiratet mit Heather Zain, Vater von Drillingen, wohnt in der Albany Street, Hausnummer 44.« Nachdem er den Zeitstempel am unteren Ende der Seite geprüft hatte und sah, dass dieser Beitrag bereits seit der Nacht in Dauerschleife lief, wusste er, dass es höchste Zeit zum Handeln war.

      »Schatz, kommst du mal bitte«, rief er aus dem Wohnzimmer. Heather sah ihn fragend an, erkannte dann aber die Panik in seinen Augen und trat noch einen Schritt auf ihn zu. Es sollte ihr letzter gewesen sein. Ohne dass Michael etwas dagegen tun konnte, wurde ihm von einer Sekunde auf die andere alles geraubt, was ihm im Leben noch lieb und teuer war. Er hörte ein leises Pfeifen, dann splitterndes Glas. Heather sah ihn noch einmal an, dann zuckte ihr Körper ruckartig nach vorne und fiel Michael schlapp und leblos in die Arme.

      »Nein, nein, nein. Das darf nicht sein«, schrie Michael und strich Heather über die Haare und das Gesicht. Der Wohnzimmerteppich um sie herum färbte sich langsam rot. »Die Kinder! Oh nein«, merkte er im nächsten Moment, legte Heathers toten Körper so behutsam es eben ging auf den blutgetränkten Teppich und rannte