Andrea Länger

Das Lebenslust-Prinzip


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17.000 Frauen. Eine viertel Million Frauen sind also pro Jahr in Deutschland, Österreich und der Schweiz neu von Krebs betroffen. Hochgerechnet auf zehn Jahre müssen sich 2,5 Millionen Frauen der Diagnose Krebs stellen; sie lernen mit dem Krebs zu leben und hoffen auf ein Überleben.

      Brustkrebs ist die häufigste Krebsart bei Frauen. Jährlich erkranken daran in Deutschland 60.000 Frauen. An zweiter Stelle liegt Darmkrebs mit etwa 36.000 Neuerkrankungen, an dritter Lungenkrebs mit über 13.000 Frauen pro Jahr. In der Reihenfolge der Erkrankungszahlen in Deutschland folgen Gebärmutterkörper-, Eierstock-, Haut-, Magen-, Harnblasen-, Bauchspeicheldrüsen-, Nieren- und Gebärmutterhalskrebs. Zu den selteneren Krebsarten bei Frauen gehören Non-Hodgkin-Lymphome, Leukämien und Schilddrüsenkrebs.

      Moderne Früherkennungsuntersuchungen führen zu einem Anstieg der Krebsdiagnosen. Durch das flächendeckende Mammografie-Screening werden in Deutschland beispiels-weise mehr Brustkrebstumore entdeckt als noch vor einigen Jahren. Gleichzeitig wird dadurch das Überleben vieler Frauen gesichert. Je früher ein Tumor entdeckt wird, desto höher sind die Überlebenschancen. Dies gilt für alle Tumorarten.

      Die steigende Lebenserwartung erhöht zudem die Anzahl von Frauen mit Krebs. Im Alter über 60 Jahre steigt die Zahl der Neuerkrankungen bei Frauen rapide an. Krebs jedoch nur als Alterskrankheit zu sehen wäre fatal und wird der persönlich erlebten Dramatik einer Krebserkrankung als junge oder jüngere Frau nicht gerecht. Wer mit 50 oder 60 Jahren an Krebs erkrankt und den Krebs überlebt, hat noch Jahrzehnte mit dieser Erfahrung und möglichen Auswirkungen auf Körper, Geist und Seele zu leben.

      Nicht wenige Frauen erkranken sogar doppelt oder mehrfach an Krebs – wohl auch, weil wir immer älter werden. Sie sind mehrfach mit der Diagnose, mit Fragen zur Lebensgestaltung und zur Lebensqualität konfrontiert. Krebsrückfälle und Metastasen fordern Frauen heraus, sich oftmals über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte mit dem Krebs zu beschäftigen und so ganze Phasen des Lebens unter dem Eindruck dieser Krankheit zu erleben. Neben den körperlichen Herausforderungen sind auch die emotionalen Belastungen enorm. Krebs lässt sich nicht in einigen Wochen oder Monaten abhaken. Krebs ist immer ein einschneidendes Lebensereignis und erfordert auch eine seelische Bewältigung dieser Krise.

      Die Verbesserung der Therapiemöglichkeiten in den letzten Jahrzehnten haben die Überlebensraten von Frauen mit Krebs wesentlich erhöht. Chemo-, Strahlen- und Hormontherapie sind heute Standard und sichern das Überleben vieler Betroffener. Auch setzen Frauen mit Krebs auf ein breites, nicht nur schulmedizinisches Wissen. Sie nutzen alternative Behandlungsmöglichkeiten und verfolgen Wege zur Stärkung Ihrer Selbstheilungskräfte. Psychoonkologische, biologische, psycho-soziale, naturheilkundliche und ganzheitliche Therapieansätze werden von Frauen mit Krebs für ihr Gesundwerden und ihre Heilung ergänzend in Anspruch genommen.

      Immer mehr Frauen sind in unterschiedlichen Lebensaltern und in verschiedenen Stadien von einer Krebserkrankung betroffen. Sie müssen sich mit Fragen zu ihrer Lebensgestaltung während der Behandlung und der Integration dieser Krise in ihr Leben „danach“ auseinander setzen. Frauen mit Krebs tun dies aktiv. Sie sind quasi Vorreiterinnen, was die Beschäftigung mit Sinn- und Lebensfragen betrifft. In Selbsthilfegruppen und geleiteten Gruppen, in Seminaren und Beratungsgesprächen sind Frauen in der Überzahl. Zahlreiche Initiativen, Vereine, Stiftungen und Organisationen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz sowie weltweit wurden von Frauen (mit Krebs) gegründet. Die Palette ihres Engagements umspannt Forschung, Fortbildung, Beratung, Begleitung, Unterstützung für Familien und Kinder, Vorsorge, Nachsorge, Existenzsicherung, Leben mit Krebs, Sport, Bewegung, Ernährung, Selbstheilung, alternative Behandlungsmethoden bis zur Sterbebegleitung und Hospizbewegung. Verantwortungsbewusst und mitunter kritisch stellen sich Frauen ihrer Erkrankung und den Folgen für ihr Leben. Sie fordern Verbesserungen im Umgang mit Patientinnen sowie in der Kommunikation und der Wahrnehmung von Patientinnen. Frauen mit Krebs sehen sich selbst nicht als Opfer. Selbstbewusst und meist ehrenamtlich verbessern sie Therapiebedingungen, Früherkennung und Nachsorge sowie die psycho-sozialen Bedingungen für nachfolgende Krebspatientinnen.

      Wenn sich immer mehr Menschen mit der Endlichkeit des Lebens auseinander setzen (müssen), dann können wir alle daran wachsen und reifen. Wir können uns bewusst werden, was für unser individuelles Leben und unser Zusammenleben in der Gesellschaft wertvoll ist. Krebs ist die Chance, Themen wie Krankheit, Sterben und Tod zu integrieren, mit dem Ziel einer lebenswerten und sozialeren Gesellschaft, in der ein bewusstes Leben vor Krankheiten und vor dem Tod möglich ist. Wertediskussionen, Fragen zu Nachhaltigkeit, zum Umgang miteinander und mit unserer Umwelt sowie zur Erhaltung der Lebensqualität insgesamt, nicht nur bezogen auf die Krankheit, haben sich Frauen mit Krebs längst gestellt. Schneller, höher, weiter sind für uns keine Werte mehr. Dieses Bewusstsein haben Frauen durch den Krebs entwickelt. Der Krebs hält auch für unsere Gesellschaft ein Geschenk bereit.

      Die Frage nach dem Nutzen und die Frage „Was würde fehlen?“ wird in Therapiesitzungen und in Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung häufig gestellt. Was ist der Nutzen von Krebs? Was würde fehlen, wenn es die Krankheit Krebs nicht gäbe?

      Fehlen würde vor allem der finanzielle Nutzen für die Pharma- und Medizinindustrie. Die Pharmaindustrie verdient mit Krebstherapien eine Menge Geld. Doch ist wirklich jede Chemotherapie, Bestrahlung oder Hormontherapie bei der einzelnen Frau notwendig? Oder ist der Einsatz dieser Therapien, bei denen der individuelle Nutzen für jede einzelne Frau nie hundertprozentig sichergestellt ist, nur der Versuch, die kollektive Angst vor Krankheit und Tod zu verdrängen? Die Pharmaindustrie verfügt bereits über Tests, mit denen vor der Therapie deren Wirksamkeit festgestellt werden könnte. Werden die Tests nicht eingesetzt, weil die Krankenkassen sie nicht bezahlen oder weil die Pharmaindustrie kein Interesse daran hat? Womöglich würde deutlich werden, dass viel weniger Frauen von einer Chemo-, Strahlen- oder Hormontherapie profitieren als bisher angenommen. Damit wäre auch eine Einnahmequelle für die Pharmaindustrie zerstört.

      Was wirklich fehlen würde, wenn es Krebs nicht gäbe, wäre die Liebe, die Nähe, die Zuneigung und Aufmerksamkeit, die Fürsorge und Pflege, die Menschen mit Krebs und ihre Familien und Freunde sich gegenseitig geben und miteinander erleben. Von Krebs Betroffene, ihre Angehörigen und Freunde stellen sich und ihr Leben in Frage, sie wenden sich einander zu, sie reden miteinander und zeigen ihre Gefühle. Durch Krebs entsteht ein Bewusstsein für sich und andere. Liebe zueinander und Verbundenheit miteinander werden sichtbar und erlebbar. In manchen Familien zum ersten Mal. Für manche Betroffene das erste Mal. Selbst Menschen, die den Krebs nicht überleben, lernen für ihr Leben und für ihr Sterben. Das kann für sie Heilung bedeuten. Erst am Ende ihres Lebens wird für manche erkennbar, dass der Krebs ihnen und ihren Angehörigen das Geschenk macht, sich verabschieden zu können.

      Ängste haben, Schwäche zeigen, krank sein und sterben müssen, stellt unsere Welt des schönen Scheins, des Traums vom perfekten Körper und des stets wachsenden Konsums in Frage. Was uns fehlt ist der Mut, zu unseren Ängsten und Schwächen zu stehen und darüber zu sprechen. Warum ist diese Angst vor Schwäche so groß? Ist es die Angst vor den Gefühlen? Davor, sich überhaupt Ängste eingestehen zu müssen? Wie lebendig sind wir, wenn wir nicht fühlen? Haben wir Angst vor dem Leben? In diesen vermeintlichen Schwächen liegt ein großes persönliches Entwicklungspotenzial. Diese Schwäche und schwierige Gefühle erleben Frauen durch den Krebs zwangsläufig. Sich diesen Gefühlen zu stellen ist die große Herausforderung – nicht nur für Krebskranke. Für diese ganz besonders, da durch den Krebs womöglich weniger Zeit zum Leben bleibt.

      Mit sich selbst und den eigenen Gefühlen (wieder) in Verbindung zu treten, die eigene Gefühlssprache zu lernen, ist die Aufgabe für jede Frau mit Krebs und letztlich für jede von uns. So wie wir in Beziehungen eine eigene Sprache mit dem Partner oder der Partnerin entwickeln, so können wir die Kommunikation mit uns selbst einüben. Wer dies kann, dem fällt es leichter, Krebsbetroffenen offen und ehrlich zu begegnen und heikle Gefühle anzusprechen. Krisen und schwierige Lebensphasen lassen sich besser bewältigen, wenn wir uns unseren Gefühlen stellen. Krankheiten und das Sterben bedrohen uns dann nicht mehr so sehr. Im Gegenteil: Wir können durch unsere Verlust-, Todes- und Existenzängste, unserer Angst vor dem Sterben ebenso lernen wie von unserer Wut, Panik, Verzweiflung, Ohnmacht, Traurigkeit und Trauer. Wir können durch den Krebs für unser Leben lernen: Liebe