sich das uns damals von den Alliierten aufgezwungene föderalistische Bildungssystem, das in letzter Konsequenz dazu führte, dass es in den 70er-Jahren allein in Hamburg 20 verschiedene Lesebücher für Erstklässler gab. Jedes Bundesland nutzte seine Bildungshoheit und setzte eigene Prioritäten. Übrigens wollte es das Schicksal, dass ich nach der Lehrzeit und dem Studium bei ebendieser Firma als Laboringenieur anfing und einige der damals fünf Auserwählten wieder antraf. Wie sie mir im Nachhinein augenzwinkernd mitteilten, wussten sie von Gönnern, Bekannten und Schulfreunden, die diese Prozedur schon hinter sich hatten, in etwa, was sie bei der Auswahlprüfung erwartete. Da hatte ich als „Provinzler“ natürlich „schlechte Karten“. Mein „Wissen“ war damals sehr lückenhaft, wurde es mir durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse doch in neun (!) verschiedenen Schulen vermittelt, die nationalsozialistische, kommunistische oder westliche (amerikanisch orientierte) Ziele verfolgten.
Also wieder heim nach Cuxhaven und weiter gesucht. Das Arbeitsamt lud zum Test. Primitive Fragen waren zu beantworten: „Welche Handwerkzeuge kennen Sie?“ Aus Kolonnen von Zahlen waren nach der Stoppuhr immer die gleichen anzustreichen. Ein Modell einer Wasserpumpe musste aus Einzelteilen zusammengesetzt werden, wobei bei meinem Bausatz ein Teil fehlte. Der Drehsinn mehrerer gekoppelter Zahnräder sollte markiert werden. Schließlich waren komplizierte Zeichnungen seitenverkehrt darzustellen und zum Schluss noch Geld zu zählen. Alles natürlich unter Zeitdruck. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Tests noch jahrzehntelang in gleicher Art von den Arbeitsämtern als „Eignungsuntersuchung“ durchgeführt wurden.
Was hat sich da in den vergangenen Jahrzehnten doch alles getan, was haben die Jugendlichen von heute für Angebote und Chancen! Anfang der 50er-Jahre gab es nichts von alledem, weder Berufsfindungspraktika noch die breite Palette der Berufsberatungsliteratur, die Unterstützung durch die Ämter, Gewerkschaften, Banken oder sonstiger Institutionen. In den 70er-Jahren gab es dagegen in Hamburg schon den „Gleisplan Bildung“, der es theoretisch ermöglichte, auch als Sonderschüler noch seinen Weg bis zum Professor zu gehen. Fachoberschulen, Fernuniversitäten, diese nützlichen Dinge für den „Zweiten Bildungsweg“ gaben Spätentwicklern noch manche Chance. Uns blieb nur der Weg über eine Staatliche Ingenieurschule und einen Abschluss mit „gut“ als Zugang zu Universitäten.
Doch so weit mochte ich gar nicht denken. Immerhin bekam ich meine technische Begabung bestätigt und gleich eine „Laufkarte“ ausgehändigt. Diese Karte war wörtlich zu nehmen, musste man sich doch zu den vom Arbeitsamt vorgegebenen Lehrfirmen begeben und sich einer Prüfung stellen. Ich musste mich bei dem Inhaber einer Werkstatt für Elektrogerätereparaturen vorstellen. Der Lehrherr war stadtbekannt für grundsolide, erstklassige Arbeit, galt aber als humorlos und äußerst streng. Das Testergebnis vom Arbeitsamt genügte Roland G. natürlich nicht. Er hatte sich seinen eigenen mathematischen Spezialtest ausgedacht und siebte alle Bewerber nochmals gnadenlos. Sein Vorrat an hässlichen, eingekleideten Trickaufgaben war unerschöpflich. Listig musterte er mit stechendem Blick aus seinen tiefliegenden Augen den unglücklichen Aspiranten und sagte mit leiser, fast gehauchter Stimme: „Ein Baumstamm ist in zehn Teile zu zersägen, wie viele Sägeschnitte sind dazu notwendig?“ Das war aber nur der Einstieg. Dann ging es aber Schlag auf Schlag: Es folgten zusammengesetzte Dreisatzaufgaben und ganz üble Aufgaben aus der Kombinatorik von der Art: „Ein Fahrzeug soll 15 Arbeiter von Punkt A nach B bringen. 17 Mann können befördert werden. Drei Personen steigen unterwegs aus, zwei an einem anderen Ort dazu, noch drei sollen am Punkt C abgeholt werden, etc.“ Irgendwann lief der unglückliche Bewerber in die Falle, weil er sich die vielen Details im Kopf nicht merken konnte und zu irgendeinem Zeitpunkt das Fahrzeug überbesetzt war. Es konnten ja nur 17 Personen befördert werden. Mit Fahrer oder ohne? Man hätte da vorher fragen sollen, unterließ es aber. Schriftliche Notizen gab es nicht, und das Finale waren dann Aufgaben, die hart an der Grenze zur Minima-Maxima-Rechnung angesiedelt waren. Zur Lösung solcher Aufgaben müsste ich heute meine alten Mathematik-Kollegs heraussuchen und sehr, sehr lange nachdenken, falls ich das noch schaffte. Immer, wenn ich mal wieder „ins offene Messer“ gelaufen war, zog der Meister bedächtig seine Stirn kraus, schüttelte bedenklich mit dem kurz geschorenen Graukopf so, als wollte er sagen, „so geht das aber nicht“ und ließ durch herabhängende Mundwinkel Verachtung und Desinteresse an meiner Person erkennen. Und schon hatte er hinter grauen, teilnahmslosen und kalten Augen schon wieder die nächste Aufgabe parat. Heimlich kostete er wohl die Niederlage des Aspiranten voll aus.
Parallel zum Bewerbergespräch hatte er natürlich durch die Fenster seiner verglasten Meisterbude die Aktivitäten in der Werkstatt voll im Blickfeld und unter Kontrolle. Ihm entging nichts. Die wenigen Leute arbeiteten ohne sichtbare Freude und ohne zu scherzen oder zu singen, stoisch vor sich hin und waren ganz auf ihre Arbeit konzentriert. In dieses freudlose Dasein wollte ich mich nicht einreihen und brauchte es zum Glück auch nicht. Eine der Werften am Ort hatte mir eine Praktikantenstelle zugesagt, so dass ich bei Roland G. „außer Konkurrenz“ antrat, was natürlich mein Geheimnis blieb. Was er letztlich auf der Laufkarte notierte, das blieb dann sein Geheimnis, denn ich musste einen verschlossenen Umschlag mit Laufkarte wieder beim Arbeitsamt abgeben.
Berufsstart als Praktikant, 1953
Praktikant, das war im Gegensatz zu heute kein leichtes Brot! Gearbeitet wurde grundsätzlich ohne jede Bezahlung. Auf der Werft galt das Motto: „Der Praktikant ist in unserem Betrieb nur auf der „Durchreise“. Ihm geht es nur um die Bescheinigung, die er zum Studium benötigt. Wenn er später sein „Patent“ hat, wird er uns schikanieren. Also, Leute, schont ihn nicht, und lasst ihn schuften bis zum Umfallen.“ Für die letzten zwei Worte galt auf der Werft eine andere, drastischere Sprachregelung, die ich hier nicht wiedergeben möchte, das aber nur der Vollständigkeit halber... Jedenfalls war diese Aussage die einhellige Meinung der Werftarbeiter bis zum Meister. Und damit sind wir schon beim besagten 1. April 1953.
Frage ich meinen Bio-Taschenrechner, dann meldet der mir für den damaligen Mittwoch die folgenden Daten: Körperlich – flau, gefühlsmäßig – harmonisch und geistig – kreativ. Wie im Horoskop war da ein bisschen Wahrheit enthalten, besonders, was „körperlich – flau“ anbetrifft. Wer beginnt schon einen neuen Lebensabschnitt völlig unbeteiligt?
Mützelfeldtwerft
Es war ein Arbeitstag, und wir mussten auf der Hut sein. Der Meister und die Gesellen wollten ihre Gaudi haben und hatten schon die Fallstricke für die „greenhorns“ ausgelegt, um uns „Neue“ in den April zu schicken.
Wir „Neuen“, das waren Heinz Sch. (14), Uwe S. (15), Joachim v. G. (16) und ich, Conrad H. v. S. (17). Pünktlich um 07.00 Uhr hatten wir uns zum Dienstantritt bei dem Meister der E-Werkstatt zu melden. Für die Arbeitskleidung, bestehend aus einem blauen Overall, einer Mütze und festem Schuhwerk hatten wir selbst zu sorgen, wie uns zuvor mitgeteilt wurde.
Meister L. lässt sich mit wenigen Worten kaum beschreiben, aber ich habe bei ihm viel gelernt, und da er schon lange nicht mehr unter uns weilt, will ich objektiv sein. Er war ein Original, ein Hüne von Gestalt, etwa zwei Meter groß, sehnig und hager, das war seine äußere Statur. Wie viele große Menschen, ging er stets ganz leicht nach vorne gebeugt, immer auf der Hut, sich nicht an den Decksbalken und den niedrigen Schotten der Durchgänge auf den Schiffen den Kopf zu stoßen. Der „harte Hut“ der heutigen Werftarbeiter war damals noch unbekannt. Sein ebenso hageres Gesicht war geprägt von einer riesigen Nase. Die kleinen, zurückliegenden, listigen Augen, versteckt hinter buschigen Augenbrauen und zeitweise einer dunklen Hornbrille, sahen alles! Seine Haut war faltig, ledern und von dunklem Teint, den langen Hals zierte ein herausquellender Adamsapfel, und aus dem stets offenen rot karierten Flanellhemd lugte eine tierische Behaarung. Seine mächtigen Pranken, die hart zupacken, aber auch blitzschnell Ohrfeigen verteilen konnten, rundeten das äußere Erscheinungsbild ab. Meister L. trug zur Sommer- und Winterszeit eine fladengroße Marineschirmmütze, und wo einst das Hoheitszeichen befestigt war, schmückte nun das rot-weiße Werftabzeichen die Kopfbedeckung. Auch seine Kleidung blieb über Jahre gleich: Er hatte eine rote und eine