Conrad H. von Sengbusch

Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936


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wurden diese Planen aber auch schon aus imprägniertem starken Packpapier gefertigt, das sich nur als Verpackungsmaterial eignete. Im Sommer trug ich eine selbst genähte Windjacke aus Tarnzeltplanenstoff, der ballenweise eine Zeit lang angeboten wurde. Die Knöpfe zur Jacke holte ich in einem kleinen Kurzwarengeschäft im vier Kilometer entfernten Triebes. Dort waren die braunen Bakelitknöpfe oder Blechknöpfe, wie sie einst für die Zeltbahnen gebraucht wurden, noch zu bekommen, wie es sich schnell herumsprach. Dann hatte ich noch eine abgelegte, speckige und im Bereich der unteren Hosenklappe recht morsche Lederhose, einen verblichenen maigrünen BLEYLE-Strickanzug mit kurzer Hose und etlichen geflickten Mottenlöchern, einen Regenmantel von der Gummiwarenfabrik KLEEBERG & MEYER am Ort, ein Luftwaffenkoppel, das ich mir in der Schule gegen ein Reklame-Taschenmesser aus dem Schreibtisch meines Großvaters eingetauscht hatte und als Unterwäsche luftige Netzunterhemden und ebensolche Hosen, die meine Mutter aus Spinnstoffresten, die sie erworben hatte, angefertigt hatte. Das Netzmaterial war dunkelgrün und ursprünglich für den Afrika-Einsatz des Militärs als Moskitonetz gedacht gewesen.

      Im Sommer trugen wir „Klappern“, also Sandalen mit Gelenk und Holzsohlen und Halbschuhe aus „Igelit“. Das waren aus einem Stück gegossene Schuhe. Ohne Strümpfe hatte man in diesen Schuhen im Sommer immer nasse, übelriechende Füße... Im Herbst und im Winter trug ich eine verschossene, ererbte, pluderige Trainingshose, einen grauen Mantel aus einer billigen Militärwolldecke, vielfarbige Pullover mit Phantasiemustern, für die meine Mutter das Garn aus aufgerebbelten alten Wollsachen gewonnen hatte. Wenn es im Winter sehr kalt war, trug ich grüne „Schießhandschuhe“ mit Kaninchenfellfütterung, die gewöhnungsbedürftig waren, weil der Zeigefinger abgespreizt in einem „Fingerhandschuh“ steckte und die restlichen Finger nebst Daumen zu einem Fausthandschuh gehörten. Die Kopfbedeckung im Winter waren gestrickte graue Stirnbänder von der ehemaligen Wehrmacht, und wenn es sehr kalt wurde, auch kaninchenpelzgefütterte Pelzmützen des Militärs, die den russischen Kopfbedeckungen nachempfunden waren. Das Material außen war aber feldgrauer Uniformstoff. Unser Winterschuhwerk waren Stiefel mit Holzsohle und einem Obermaterial aus Leder. Bei Pappschnee bildeten sich leicht Eisklumpen unter den Schuhen, die dann festklebten und die Fortbewegung erschwerten. Wir nagelten uns die fünfeckigen „Soldatennägel“ darunter, um schneller voranzukommen. Unvorstellbar, wie bescheiden wir damals noch waren, aber den meisten anderen ging es ebenso, und so fielen wir gar nicht auf. Der Konfirmationsanzug war jedenfalls unsere erste, anständige Kleidung und wurde natürlich auch noch für die Prüfungen und die spätere Abschlussfeier der Schule gebraucht.

       Schulabschlussprüfungen, 1950

      Die Prüfung zum Ende der Einheitsschule wurde mit viel Aufwand organisiert, eine Übung, die im sozialistischen Vaterland zur damaligen Zeit im Jahre 1950 perfekt beherrscht wurde. Sie dauerte vom 29.6.1950 bis 14.7.1950 und erfasste alle Fächer. Zum Ritual gehörte als Mittelpunkt die allzeit präsente Prüfungskommission, zusammengesetzt aus einem Vertreter des Staates, einigen jüngeren Neulehrern und noch ein paar älteren Kollegen des Lehrkörpers oder soll ich sagen „Lehrkaders“? Alle Herren hatten sich der Würde des Tages entsprechend gekleidet und Orden und Ehrenzeichen angelegt. Einige „harte Marschierer“ hatten auch schon das Parteiabzeichen der SED am Revers. Die Herren hatten es sich am Kopfende des Klassenzimmers bequem gemacht und saßen mitten in einem Arrangement von transportablen Buchsbäumen und wirkungsvoll platzierten Fahnen der Stadt und der Republik. Natürlich wurde das Ereignis auch mit einem Beitrag der großen Sowjetunion gewürdigt: Das blutrote Transparent, das sonst das Portal unserer Schule schmückte, wurde in den Raumschmuck mit einbezogen und verkündete in großen, weißen Lettern: „LERNEN, LERNEN UND NOCHMALS LERNEN“, ein Ausspruch von Lenin, wie in kleiner Schrift darunter stand... Nun, denn!

      Selbst unser Klassenlehrer hatte sich fein gemacht: Eigentlich kannten wir ihn jahraus, jahrein, nur in seiner taubenblaugrauen, entmilitarisierten Fliegeroffiziersuniform. Dazu gehörten die scharfen Breecheshosen und im Sommer Halbschuhe, im Herbst die Langschäfter aus feinem, weichen Leder und im Winter die, wie er uns erzählte, einst beheizbaren Fellstiefel. Das zackige Auftreten war geblieben, da hatte er in der Bewältigung der Vergangenheit wohl noch etwas Nachholbedarf. Zur Prüfung erschien er dann in ungewohnter ziviler Kleidung im damals hellgrauen Nadelstreifenanzug aus Zellwolle. Wer jemals diese Kreationen getragen hat, das einzige Tuch, das es damals auf Bezugschein gab, wird sich erinnern, dass das gute Stück nicht nass werden durfte. Dann geriet es völlig aus der Facon, und aus dem Sonntagsanzug wurde ein ausgebeulter Trainingsanzug. Nicht zu vergessen, zu dem Anzug gehörten auch Strümpfe aus Zellwolle, die mit Sockenhaltern getragen wurden... Das war auch nötig, denn diese Fußbekleidungen passten nur beim ersten Anziehen, dann wurden sie immer weiter und weiter, bis sie bei uns schließlich gerollt auf den Knöcheln lagen... Jedenfalls setzte sich unser Lehrer F. „in Szene“. Er stand der Kommission vor, hatte er doch einst gelernt, sich in solchen Situationen zu bewegen. Er genoss sichtlich die ihm zugeteilte Rolle.

      „Pisa“ hätte von uns damals noch lernen können: Wie es heute noch in Frankreich gang und gäbe ist, hatte man erkannt, dass „Gleiches nur mit Gleichem zu vergleichen war“. Es gab in der DDR keinen Föderalismus wie in Westdeutschland. Berlin war die Zentrale, und hier wurde für das Volk vorgedacht, entschieden, und delegiert!

      Die Prüfungsaufgaben galten für alle Schulen der DDR und kamen in großen, versiegelten A-4-Kuverts. Vor unser aller Augen präsentierte F. die Kuverts und ließ sich die Unversehrtheit der Siegel vom staatlichen Beisitzer schriftlich bestätigen. Dann gab es eine kleine, der Würde des Moments nicht entsprechende Pause, denn weder eine Schere noch ein Taschenmesser hatte die Kommission zur Hand, um die Umschläge stilvoll zu öffnen. Ein Aufreißen wäre in diesem Moment unfein gewesen, das wurde schnell erkannt. Ein Schüler konnte aushelfen und stellte sein Taschenmesser unter dem Grinsen der Prüflinge für die Prozedur zur Verfügung. Vor unseren Augen und überwacht vom Kollegium wurden nun die Siegel erbrochen, das Kuvert geöffnet und die Prüfungsaufgaben an die Tafel geschrieben. Es standen mehrere Themen zur Auswahl, so dass das Pensum in der vorgegeben Zeit für alle Fächer zu schaffen war.

      So nahm dann die Prüfung über mehrere Tage ihren Lauf. Glück hatte ich in Russisch, denn ich war ja von 1947 bis 1949 in einer westdeutschen Schule und hatte dort keinen Russischunterricht gehabt. Es hatte sich aber in der Zwischenzeit nichts Wesentliches getan, wie ich zu meiner Freude feststellen konnte. Wir waren nämlich trotz vieler Anläufe immer nur bis auf Seite 18 unseres Standardwerks „Mein russisches Lehrbuch“ gekommen. Wohl gemerkt, das war das Lehrbuch für das fünfte (!) Schuljahr, und wir waren doch die 8. Abschlussklasse! Der Grund war, dass die 1945 eilig ausgebildeten Neulehrer auch nur bis Seite 18 gekommen waren und nur über ein minimales Grundwissen im Russischen verfügten. Dann gingen sie, wie es die Planwirtschaft vorsah, zu weiterbildenden Kursen oder stellten fest, dass ihre Schwerpunkte wo anders lagen. Neue Junglehrer wurden ausgebildet, und die fingen dann auch wieder ganz von vorne an, bis auch sie bei Seite 18 ankamen. Planwirtschaft in Reinkultur! Schließlich lernten wir zur Abwechslung mal ein russisches Gedicht und natürlich den Text des Liedes „Kalinka“. Bei der Prüfung brauchte ich nur eine kurze Textstelle vorzulesen, ebendieses Gedicht aufzusagen und den Text von „Kalinka“ vorzutragen. Es reichte in der Benotung gerade noch für ein „ausreichend“. In anderen Schulen der DDR mag es anders gewesen sein. Schließlich erkannte man auch in Berlin, dass es im Russischen mancherorts noch Defizite gab und sich der Plan so nicht umsetzen ließ. Man kam dann auf den glorreichen Gedanken, die Baltendeutschen, die als Flüchtlinge auf dem Gebiet der DDR lebten, mit in das Bildungswesen einzubeziehen. Immerhin waren diese Menschen meistens noch im zaristischen Russland zweisprachig aufgewachsen. So kam meine Tante, Anni B., noch zu Ehren, als Russischlehrerin eingesetzt zu werden. Bei der gymnasialen Bildung an den ostdeutschen Schulen war Russisch die erste Fremdsprache, gefolgt von Französisch und Englisch. Latein gehörte auch noch dazu, ja, den Schülern wurde damals einiges mehr als heute abverlangt.

      Alles hat einmal ein Ende, auch die Prüfungen. Im größten Ballsaal der Stadt, „Pohland´s Lokal“, aus dem später das Kulturhaus der Stadt wurde, wurde die Zeugnisübergabe nochmals zum gesellschaftlichen Ereignis, zu dem auch die Familie eingeladen wurde. Mein Vater war nicht dabei, hatte er sich als Reichsdeutscher aus dem Baltikum doch schon 1946 nach Westdeutschland abgesetzt, was nicht ohne Konsequenzen für meinen späteren Lebensweg bleiben sollte... Mein Name