Conrad H. von Sengbusch

Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936


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Stakkato übergingen und in herausgeschleuderten Hasstiraden endeten. Selbst die Frisur hatte nichts Weibliches: Solange ich die Dame kannte, trug sie einen äußerst knappen Herrenschnitt, den ich damals als sehr herb empfand, der aber, die heutige Damenwelt möge es mir verzeihen, z. Z. durchaus „im Trend“ ist. Aber heute ist eh alles anders, deshalb weiter im Gestern. Tante M. war die „Fleischwerdung eines Grabes der Gefühle“, wenn es so etwas gibt. Zur Familie gehörte auch Onkel P., ein rühriger, menschlicher, gebildeter, humorvoller hoher Staatsbeamter, eine Seele von Mensch, bei dem ich im Krieg an seinem Dienstort in Westpreußen sehr schöne Ferien verbracht hatte. Ein Wunder, wie solche Charaktere zusammenfinden und auch noch eine Großfamilie mit drei Kindern gründen können.

      Wir saßen im dämmerigen Salon, dessen Interieur von Jagdtrophäen aller Art geprägt wurde, wie man das auch in einem Forsthaus erwartet. Hirschgeweihe, Rehbockgehörn, Spießergehörne, ein paar ausgestopfte Tiere. Vernehmlich laut tickte die Standuhr und erhöhte die unerträgliche Spannung, denn es wollte an diesem Tag nicht so recht hell werden. Die Stunde unseres Aufbruchs rückte näher und näher. Wir mussten „schwarz“ über die „Grüne Grenze“, wie man damals sagte. Nur ab und zu wurde leise gesprochen. Meine Schwester Monika, damals 15 und ich, 13 Jahre alt, hatten zu schweigen, wie es sich für Kinder gehörte. Ich hörte Gesprächsfetzen, wie „Führer“, „Offizier“, „ehrenhaft“, „Ritterkreuzträger“, „verlässlicher Mensch“, „40 Mark West pro Person“ und machte mir daraus ein Bild einer generalstabsmäßig geplanten Vorbereitung unseres Vorhabens. Die Ehrfurcht vor Chargierten steckte noch in den Knochen der Älteren, und auch wir waren davon nicht unbeeindruckt. Es war ja auch erst ein paar Jahre her, dass wir mit Uniformen um uns aufgewachsen waren. Einige Ritterkreuzträger kannte ich von meiner Postkartensammlung, die ich als Kind hatte und die wöchentlich ergänzt wurde. Unser „Führer“, ein professioneller Grenzgänger, ehemaliger höherer Offizier und Ritterkreuzträger, verlässlich, erprobt und erfahren, war bereits ausgesucht und bezahlt, blieb aber namentlich anonym. Ihm hatten wir uns bedingungslos anzuvertrauen. Das Unternehmen konnte starten.

      Im alten Vorkriegs-OPEL-Kadett von Onkel P. den natürlich Tante M. chauffierte, näherten wir uns dem Grenzort Tann. Während der Fahrt eisiges Schweigen, das ab und zu von kurzen Vorhaltungen unterbrochen wurde, die sich aufschaukelten und in Keifen übergingen, weil sich Onkel P. mit Kommentaren zurückhielt. Das war für uns als Unbeteiligte natürlich keine angenehme Situation. Wir saßen zusammengekauert im Fond und schwiegen betreten. Mehrfach erging nun die Aufforderung an Onkel P., das Fahrzeug sofort auf freier Strecke zu verlassen, was er natürlich nicht tat. Auf thüringisch hörte sich das so an: „Baul, naus!“ oder auf hochdeutsch „Paul, hinaus!“ Als nach Jahrzehnten die Nachricht kam, Onkel P. sei inmitten seines geliebten Reviers plötzlich tot umgefallen, muss es für ihn eine Erlösung gewesen sein.

      Wir erreichten Tann im strömenden Regen. Kalte Windböen und Regenschauer peitschten übers Land, dazu eine schnell hereinbrechende Finsternis, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Ich keuchte jetzt schon unter der Last meines 40 Pfund schweren grauen Luftwaffenrucksacks voller Fischdosen, die die sandige, rosarote Masse aus zerriebenem Muschelfleisch, genannt Fischpasta, enthielten. Die Dosen hatte ich wohl nicht richtig gepackt, denn sie drückten gewaltig im Kreuz. Mein Mantel, den mir die Wirtschafterin aus einer hellgrauen dünnen Wehrmachtsdecke genäht hatte, war schon voll Wasser gesogen und hing schwer an mir. Die ererbten pluderigen, verschossenen und jetzt hellvioletten Trainingshosen waren unten schon ganz nass und legten sich wie kalte Prießnitz-Wickel um die Waden.

      Jemand wies uns den Weg zum Sammelplatz am Waldrand. Nach und nach fanden sich weitere, schwer bepackte West-Ost-Grenzgänger ein. Wir waren die einzigen Kinder. Nun erahnte ich zum ersten Mal die Statur unseres „Führers“. Groß, stattlich und wortkarg habe ich ihn in Erinnerung. In seiner Feldjacke mit Kapuze konnte ich sein Gesicht nicht klar erkennen, doch war die Stimme vertrauenserweckend. Er gab der Gruppe Verhaltensregeln für den Notfall, wie sicher ein paar Jahre zuvor seinem Trupp: Nicht rauchen, nicht sprechen, ruhiges Verhalten, Orientierung am Vordermann, Gänsemarsch.

      Los ging es. Die Nacht wurde stockdunkel, so dass man wirklich nicht die Hand vor den Augen sah, und doch wusste der Anführer, wo der Pfad nach Osten führte. Mein Platz in der Aufstellung war gleich hinter dem „Führer“ und meine einzige Orientierung war eine nasse, kalte Lederschlaufe an dessen prallgefülltem Rucksack. Die Militärrucksäcke hatten damals Lederschlaufen für Dinge wie das Kochgeschirr, das damals aber nicht mehr benötigt wurde. Und an diesen Zipfel der Sicherheit klammerte ich mich. Keinesfalls wollte ich den Anschluss verlieren, denn an mir orientierten sich ja auch die anderen. Stundenlang und ohne Rast ging es unerbittlich voran. Kein trockener Fetzen war mehr am Leib, und allein die Bewegung hielt warm. In der Ferne bellten Hunde, drangen unverständliche Rufe an unser Ohr. War etwa eine andere Gruppe entdeckt worden? Meine Gedanken waren erfüllt von Bangen und Hoffnung, und mein Körper am Rande der physischen Erschöpfung.

      Es dämmerte bereits der Morgen, ich hatte mich vom Vordermann etwas gelöst, strauchelte und fiel in eine Wildschweinsuhle. Der schwere Rucksack knallte mir ins malträtierte Kreuz. Verdreckt und klitschnass rappelte ich mich hoch, niemand nahm davon Notiz, denn jeder war sich selbst der Nächste. Weiter ging es, immer weiter. Fahl begann der Morgen, der von dräuenden, schweren, dahin ziehenden Regenwolken verhangen war. Gegen das Morgenlicht gewahrten wir sich scharf abzeichnende Konturen von ein paar Panzern. Ein neuer Schreck durchfuhr mich. Waren wir in ein russisches Biwak geraten? Der „Führer“ hatte die Situation längst erfasst und kannte sie offenbar: Wortlos deutete er auf einen etwas abseits stehenden Tank, und wir erkannten ein geborstenes Geschützrohr. Hier im Niemandsland stand der Rest einer Kampfgruppe der ehemals „Großdeutschen Wehrmacht“, an den sich die allgegenwärtigen Schrotthändler offenbar noch nicht herangetraut hatten.

      So wortlos, wie die Tour begann, so endete sie auch, als die ersten Häuser von Kaltennordheim in Sicht kamen. Kleine Grüppchen sonderten sich nach und nach ab und verschwanden grußlos hinter der nächsten Gartenhecke. Auch der „Führer“ ging seines Weges. So standen wir plötzlich alleine im Dorf, das gerade erwachte. Einzelne Straßenlaternen beleuchteten gespenstisch die noch leeren Dorfstraßen, und unsere nächste Sorge war, möglichst nicht von einer Streife der KVP (Kasernierte Volkspolizei) aufgegriffen zu werden. Es galt also, möglichst ungesehen zum Bahnhof zu kommen. Natürlich durften wir niemanden nach dem Weg zum Bahnhof fragen, mussten aber auf jeden Fall mit dem ersten Frühzug den Ort in Richtung Eisenach verlassen. Für diesen Fall hatten meine Eltern vorgesorgt. So waren wir schon „Weltbürger“ im Kleinen. Meine Mutter hatte uns in der DDR nicht abgemeldet, so dass wir noch die Kennkarte hatten. Zusätzlich waren wir mit meinem Vater schon 1947 nach Lübeck-Pöppendorf gefahren, um uns registrieren zu lassen. Anderenfalls hätte es keine Zuzugsgenehmigung nach Schleswig-Holstein und keine Lebensmittelkarten gegeben. So hatten wir auch als Westbürger eine Legimitation. Pässe waren aber auch in der DDR lebenswichtig, sonst bekam man an den Grenzbahnhöfen keine Fahrkarten.

      Wir fanden schließlich den Bahnhof, indem wir den typischen Rangier-, Anfahr- und Anlege-Geräuschen der Dampflok nachgingen. Der Morgenzug war schon bereitgestellt. Er bestand aus einer alten Dampf-Tenderlok und alten preußischen Abteilwagen, die ich aus der Kriegszeit nur als 3.-Klasse-Wagen in Erinnerung habe. Das war die Bauart mit den harten Holzbänken, Gasbeleuchtung, gestricktem Gepäcknetz, in dem notfalls auch Kinder schlafen konnten, Fenstern mit Lederriemen, die nach dem Krieg aber oft abgeschnitten und zu Schuhsohlen verarbeitet wurden und weiter dadurch gekennzeichnet, dass jedes Abteil eine Tür und wohl jedes dritte oder vierte einen Abort hatte. Als wir erschöpft, durchnässt und fröstelnd auf den harten Holzbänken Platz genommen hatten, setzte sich der Zug ächzend und quietschend in Bewegung. Das Schlimmste schien überstanden zu sein. In der Tat sollte die Fahrt aber schon an der nächsten Station, es könnte Fischbach gewesen sein, abrupt enden.

      Ungewöhnlich lange warteten wir hier und glaubten an eine Betriebsstörung, bis wir laute Kommandorufe, das Murmeln der Reisenden und vereinzelt Schreie hörten. „Vopos“ hatten den Zug umstellt und suchten nun systematisch Abteil für Abteil nach Grenzgängern ab. Natürlich versuchte meine Mutter alles, um uns nicht als Grenzgänger, sondern als schlichte Reisende darzustellen. Sie wies uns als DDR-Bürger aus und appellierte an das Gewissen der Volkspolizisten, allein, es half nicht. Grinsend deutete ein Vopo auf meine