Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Niflheim


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wir uns später online?“, fragte sie an Juli gewandt, die ihr gefolgt war.

      „Hm, ich weiß nicht, ob ich heute noch mal ins Spiel will. Dein_Tod wird uns keine Ruhe lassen.“

      Thea lachte. „Dann bleiben wir einfach in der Stadt hocken und sehen uns an, wie er im Worldchat schimpft.“

      „Das können wir gerne machen“, erklärte sich Juli einverstanden. „Also bis später!“

      Behutsam bettete Thea die verpackten Becher in den Fahrradkorb, verabschiedete sich und radelte davon. Noch immer hatte die Aktivität auf den Straßen nicht nachgelassen, nur die Autos, mit den vollgestopften Kofferräumen, waren vor den Häusern verschwunden. Man schien die Einkäufe ohne Umwege auf den Grill gelegt zu haben, denn von überall her drang der Duft von gebratenem Fleisch.

      Zu Hause angekommen überkam Thea ein seltsames Gefühl, das sie über ihre Schulter blicken ließ. Ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder, als sie den rothaarigen Mann aus der Eisdiele entdeckte, der ihr durchdringend nachsah. Rasch knallte Thea die Tür zu, aber ehe sie sich ihrem Unbehagen hingeben konnte, tanzte ihr kleiner Bruder um sie herum. Er trug, wie schon in den vergangenen zwei Wochen, seine Lieblingshose – eine kurze, karierte Shorts, die er sich selbst ausgesucht hatte und die ihm viel zu groß war. Wie Glocken schaukelten die Hosenbeine um seine dünnen Knie. Fast jeden zweiten Abend stopfte Theas Mutter das Kleidungsstück in die Waschmaschine, damit es am nächsten Morgen keine Wutausbrüche gab, weil Mats eine andere Hose tragen sollte. Thea brachte der Trotzphase des dreijährigen Gnoms nur wenig Verständnis entgegen. Sie war fest davon überzeugt, dass sie als Mutter anders handeln und sich nicht derart terrorisieren lassen würde, Dennoch liebte sie ihren Bruder abgöttisch. Immer wenn er Thea mit seinen Kulleraugen ansah, konnte sie ihm nicht böse sein. Genauso wenig wie jetzt, da er sich mit seinen kleinen nackten Füßen und seinem nackten Oberkörper gierig nach den Eisbechern reckte und mit den schmutzigen Fingern an ihrem T-Shirt riss.

      „Was hast du mir mitgebracht? Was?“, rief er fröhlich.

      „Bananensplit. Hier nimm und gib schon Ruhe!“, sagte Thea liebevoll und reichte ihm das Päckchen.

      Auch Theas Mutter ließ nicht lange auf sich warten. „Warum schlägst du so die Tür?“, fragte sie vorwurfsvoll.

      Thea warf einen Blick durch das Flurfenster und stellte fest, dass der Fremde noch immer auf der Straße stand und sie beobachtete.

      „Ich glaube, dieser Typ hat mich verfolgt“, erklärte sie.

      Frau Helmken stürzte augenblicklich zum Fenster und starrte hinaus.

      „Wer?“, fragte sie.

      Thea folgte ihrem Blick, doch die Gegend war menschenleer. Kurzerhand riss Frau Helmken die Eingangstür auf und hastete hinaus auf die Straße. Mit wachsamen Augen wanderte sie den Bürgersteig hinauf und ließ auch den kleinen Fußgängerpfad nicht aus. Kopfschüttelnd kam sie zurück.

      „Niemand da“, erklärte sie.

      „Tut mir leid“, entschuldigte sich Thea abwesend. „Vielleicht ist er auch nur zufällig hier gewesen und ich habe mich geirrt.“

      „Du bist doch sonst nicht so ängstlich! Wie sah er aus?“, hakte Frau Helmken besorgt nach.

      Thea rümpfte die Nase. „Ich weiß nicht genau. So ein Rothaariger mit einem Bart.“

      „So ein Rothaariger“, wiederholte Frau Helmken schmunzelnd und ließ eine Strähne von Theas roten Schopf durch ihre Finger gleiten. „Rothaarige gibt es nicht viele. Vielleicht hat er dich doch verfolgt und war er auf der Suche nach einer Gleichgesinnten.“

      Thea fasste ihre Haare am Hinterkopf zusammen, zwirbelte sie und legte sie über die rechte Schulter. „Der war mindestens zwanzig“, empörte sie sich.

      Frau Helmken hob den Finger. „Ich glaube auch an einen Zufall. Aber sollte er dir noch einmal folgen, droh ihm mit der Polizei!“

      „Ja, ja und laut schreien“, erwiderte Thea und war schon auf dem Weg in ihr Zimmer.

      „Ich hätte wetten können, dass du dir einen zweiten Eisbecher einpacken lässt“, schmunzelte ihre Mutter, nachdem sie einen Blick ins Wohnzimmer geworfen hatte, in dem Mats über seinem Bananensplit saß. Der Becher der Mutter stand unbeachtet in der geöffneten Verpackung.

      „Ich hatte daran gedacht, aber ich hatte noch einen Zusatzmilchshake“, gestand Thea fröhlich und winkte über ihre Schulter. In ihrem Zimmer zog sie das Handy aus der Tasche und wählte Julis Nummer.

      „Hallo Frau Ungeduld. Hast du vergessen, dass ich nach Hause laufen muss?“, lachte es aus dem Hörer.

      „Juli, dieser Typ mit den roten Haaren – den wir gesehen haben, als wir im Eiscafé saßen …“, stammelte Thea und schob ein paar CDs mit ihrem Fuß zusammen, die vor dem Regal der Stereoanlage verstreut lagen.

      „Das ist jetzt ein wenig spät. Wenn du einen Typen entdeckst, zeig ihn mir doch gleich!“

      Thea fuhr ihren Computer hoch. „Er ist mir bis vor die Haustüre gefolgt“, entgegnete sie.

      „Wie jetzt?“

      „Als ich zu Hause angekommen bin, stand er hinter mir auf dem Gehsteig.“

      „Echt jetzt? Du meinst, er ist dir nachgelaufen?“

      „Einhundertprozentig!“, versicherte Thea.

      „Das war doch sicher nur ein Zufall!“

      „Vielleicht. Trotzdem komisch.“

      Thea setzte sich auf den Schreibtischstuhl, stellte das Gespräch auf Lautsprecher und legte das Handy neben der Tastatur ab. Rasch gab sie ihr Passwort ein.

      „Sah er denn gut aus? Vielleicht ist er ja verliebt“, lachte Juli.

      „Sehr witzig. Der ist unheimlich! Und viel zu alt. Er ist sicher schon 25!“

      „Komm schon! Wenn er dich verfolgt hätte, wäre er sicher noch da.“

      „Mutter hat ihn bestimmt verschreckt.“

      „Guck raus und wenn er wieder da ist, rufst du die Polizei“, schlug Juli vor.

      Mit mulmigem Gefühl gehorchte Thea. Sie stieß sich mit beiden Händen vom Schreibtisch ab, rollte in Richtung Tür und saß noch halb in ihrem Stuhl, während sie nach der Klinke griff. Leise schlich sie die Treppe hinab und lupfte den Vorhang. Der Mann blieb verschwunden.

      „Er ist weg“, erklärte sie.

      „Na siehst du. Es war nur ein Zufall“, beruhigte Juli sie.

      „Wahrscheinlich hast du Recht“, pflichtete Thea ihr bei.

      Zurück in ihrem Zimmer verabschiedeten sich die Freundinnen. Thea loggte sich ins Spiel ein und wartete, bis Juli mit Tiray auf dem Monitor erschien. Ist er noch einmal aufgetaucht? stand in der Sprechblase über dem Zwerg. Bisher noch nicht, tippte Thea zur Antwort. Ich spreche von Dein_Tod1995, erwiderte Juli. Ach so! Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen, schrieb Thea. Dann wollen wir hoffen, dass es so bleibt. Levelst du mich ein wenig? Thea schmunzelte und tippte: Ich dachte, du wolltest nur in der Stadt hocken!

       DAS IST LANGWEILIG stand in großen Buchstaben über Julis Zwerg. Thea lachte und führte Juli in ein nahe gelegenes Waldstück, in dem sie die nächsten vier Stunden damit verbrachten, Sumpfmonster zu töten.

      Tage vergingen und das Ereignis mit dem Rothaarigen verschwand aus Theas Gedanken. Dafür tauchte Dein_Tod immer häufiger in ihrer virtuellen Nähe auf und machte ihr das Leben schwer. Der Zwischenfall mit ihm, Juli und ihr hatte einen Gildenkrieg heraufbeschworen, der all ihre Zeit und Konzentration in Anspruch nahm. Kaum dass sie nach der Schule zu Hause angekommen war, eilte Thea zum Computer und verließ den Schreibtisch erst wieder zum Abendessen. Ein mütterlich verhängtes Computerverbot setzte dem Treiben