Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Niflheim


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sich ein, nur noch in Gruppen zu spielen, bis der Gildenkrieg beendet war. Stunden später, als es bereits dunkelte, sah Thea das erste Mal auf die Uhr.

      „Es ist schon halb zehn!“, stellte sie mit Schrecken fest und nahm unwillkürlich ihr Handy zur Hand. „Oh nein! Der Akku ist leer! Sie wird mich umbringen“, raunte Thea.

      „Du bist sechzehn Jahre alt. Es wird dir ja noch erlaubt sein, bis um zehn Uhr auszugehen“, motzte Juli.

      Thea schrieb eine Verabschiedung in den Gildenchat. Sie loggte sich aus dem Spiel aus. „Ich gehe besser, sonst gibt es wieder Ärger.“

      Brummend stimmte Juli zu. „Wir sehen uns dann morgen in der Schule“, verabschiedete sie sich. „Und wenn sie ausflippt, kommst du einfach wieder.“

      Thea nickte, im besseren Wissen, dass ihre Mutter nicht dazu neigte auszuflippen und verabschiedete sich. Juli hielt mit starrem Blick den Monitor im Fokus und nahm kurz die Hand von der Maus, um zu winken. Sicher, dass Juli sie nicht zur Tür begleiten würde, ging Thea alleine hinaus. Sie war kaum der ersten Straße gefolgt, als sie aus dem Winkel einer Seitengasse den rothaarigen Mann von der Eisdiele erspähte. Er lehnte an einer Hauswand und löste sich aus seiner Haltung, als er Thea entdeckte. Mit einem Mal war die Erinnerung an ihn wieder da. Angst packte Thea. Sie begann zu laufen. Ihre Schritte hallten im Gleichklang zu ihrem Herzen auf dem Asphalt wider. Als sie wagte sich umzusehen, wurde ihre böse Vorahnung traurige Gewissheit. Der Mann hatte die Verfolgung aufgenommen und eilte unerbittlich auf sie zu. Nun rannte sie und kurz darauf gesellte sich zu ihren Schritten ihr keuchender Atem hinzu. Gehetzt zog sie das Handy aus der Tasche, aber es ließ sich nicht anstellen. Der Fremde hielt Schritt, kam näher und näher und drohte Thea jeden Augenblick zu packen. Tränen der Verzweiflung rannen über ihre Wangen, als sie gegen eine der Haustüren hämmerte. Aber sofort rannte sie weiter, da der Fremde sie zu erreichen drohte, ehe sich diese öffnen würde. Instinktiv folgte sie dem gewohnten Weg durch den Park nach Hause. Die Zweige der Bäume wiegten sich friedlich im Abendwind und wirkten doch abschreckend auf Thea. Die wenigen Laternen, die entlang des Schotterweges standen, erleuchteten die Szenerie nur spärlich. Alle Farben waren aus dem Park gewichen. Die freundliche Grünanlage breitete sich schwarz und unangenehm vor ihr aus, oder war es ihre Angst? Weit und breit war keine Seele zu erblicken. Schon spürte sie eine feste Hand auf ihrer Schulter, die sie erbarmungslos packte und sie zu Fall brachte.

      „Ich will dir nichts!“, sprach der Fremde sie an und kniete sich neben sie. Mit aller Wucht hieb Thea ihm ins Gesicht, rappelte sich hoch und lief weiter. Sie hörte das ärgerliche Knurren des Mannes und sah, wie er erneut die Verfolgung aufnahm. Verzweifelt rief sie um Hilfe. Aber nur ein Falke flog über die Szenerie hinweg und begleitete ihre Schreie.

      Endlich entdeckte Thea eine weitere Person. In ihrem weißen Kleid stand sie wie ein rettender Engel in der Dunkelheit. Das lange schwarze Haar der Frau war zu einem Zopf geflochten und vom hinteren Teil des Nackens über ihren Kopf gelegt. Ein paar einzelne Strähnen baumelten lose hinter den Ohren.

      „Helfen Sie mir!“, rief Thea und lief der Frau geradewegs in die Arme. „Helfen Sie mir“, schluchzte sie ein weiteres Mal, als sie sich in der Umarmung der Fremden wiederfand.

      „Keine Angst“, beruhigte die Frau sie und hob die Stimme. „Thor, du Tölpel! Du solltest die Kleine nicht erschrecken!“

      Alarmiert sah Thea zu der Frau auf. Sie kannte den Mann! Schon war sie zur Flucht bereit, da spannten sich die Muskeln der Fremden und ihre rettende Umarmung wurde zu einem Gefängnis. Ihr Griff war ungewöhnlich stark.

      „Keine Angst, keine Angst! Wir ersuchen dich um Hilfe, wir wollen dir nichts tun“, sprach die Frau beruhigend auf sie ein. Aber Thea konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie in eine Falle gelaufen war.

      „Ihr Angst einjagen …“, grummelte der Mann und wischte sich immer wieder das Blut aus dem Gesicht, das ihm aus dem Mundwinkel quoll.

      „Was wollt ihr von mir?“, wimmerte Thea. Schluchzend wand sie sich im Griff der Frau.

      Der Mann, der Thor hieß, hockte sich ins Gras und schaute zu Thea auf. Seine blauen Augen stachen trotz der Dunkelheit entschlossen aus dem gebräunten Gesicht. „Wir haben lange nach dir gesucht, Thea. Ich wusste nicht recht, wie ich dich ansprechen sollte, ohne Aufsehen zu erregen. Zu deiner eigenen Sicherheit ist es unerlässlich, dass wir unentdeckt bleiben. Deshalb haben wir es gestern über dein Computerspiel versucht. Aber auch da hörst du uns nicht an. Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe.“

      Der Griff der Frau lockerte sich, da sie scheinbar bemerkte, dass Thea bereit war zuzuhören. Was blieb Thea auch anderes übrig?

      „Wie, über das Computerspiel? Seid ihr etwa diese Cheater gewesen?“

      „Wir haben keine Ahnung von solchen Sachen, ein Mensch hat uns dabei geholfen“, erklärte er.

      „Wer? Dein_Tod?“

      „Das spielt keine Rolle. Hör zu! Wir waren lange auf der Suche nach dir! Du bist eine Nachfahrin Fengurs, des Schmieds. Mit Hilfe Lokis fertigte er vor ewiger Zeit das Feuerschwert Kyndill an. Eine mächtige Waffe, der es gelingen würde, selbst Götter zu töten. Wir wissen, dass Loki Kyndill sucht. Mit diesem Schwert will er seinem Schicksal entrinnen. Das darf nicht passieren!“

      Mit zunehmendem Grauen stellte Thea fest, dass sie zwei Verrückten in die Arme gelaufen war. Ihr Puls pochte bis zum Hals, während sie um Atem ringend nach einer Möglichkeit suchte, sich aus der Situation zu stehlen.

      „Haben Sie schon einmal versucht, sich professionelle Hilfe zu holen“, druckste sie verlegen.

      „Gerade eben“, sagte Thor offenherzig.

      Die Frau hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Das meint sie nicht“, erklärte sie dem Mann. Verstimmt sah sie Thea an. „Wir sind nicht verrückt, Thea“, sagte sie energisch. „Außerhalb deiner Welt gibt es noch andere Heime. Das Wissen um sie ist fast in Vergessenheit geraten, aber sie haben nie aufgehört zu existieren – ebenso wie wir. Von Thor wirst du vielleicht schon gehört haben. Er ist der Gott des Donners. Ich bin Wal-Freya, Göttin der Liebe und Anführerin der Walküren.“

      Mit wachsendem Unbehagen sah sich Thea im Park um, ein rettender Helfer blieb jedoch aus. Thea hatte schon genug Fantasy-Spiele gespielt, um Walküren zu kennen. Schildjungfrauen des Odin, die gefallene Krieger nach Walhall bringen. Das ging nun wirklich zu weit.

      „Ich würde jetzt gerne gehen. Ich bekomme sowieso schon Ärger“, sagte sie.

      Der Mann, der sich Thor nannte, sprang auf und schimpfte: „Es war dein Ahne, der das Schwert schmiedete. Du trägst Verantwortung für sein Tun!“

      „Ich? Warum ich? Wann soll er dieses Schwert überhaupt geschmiedet haben?“

      Die Frau, die sich Wal-Freya nannte, streckte ihre Hand vor die Brust des Rothaarigen und bedeutete ihm Ruhe zu bewahren. Dann antwortete sie: „Vor über 1500 Jahren, Thea.“

      Thea schnaufte. „Vor über 1500 Jahren? Und ich soll dafür den Kopf hinhalten? Wofür noch? Dass Kleopatra von einer Schlange getötet wurde?“

      „Fengur und Loki haben das Schwert in Nidhöggrs Flamme gebrannt und es anschließend in der Quelle Hvergelmir gehärtet. Es ist ein magisches Schwert, nur Loki oder ein Nachfahr Fengurs wird es führen können. Wir haben sehr lange gebraucht, um dich zu finden. Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.“

      „Und was soll mein Part bei dieser Geschichte sein?“

      „Du sollst Kyndill finden, bevor es Loki tut“, antwortete die Frau unbeeindruckt.

      Thea betrachtete die Gestalten einen Augenblick. „Na gut!“, sagte sie dann, senkte den Kopf und stöberte den Boden ab.

      Ungläubig runzelte Thor die Stirn und sah zu Wal-Freya. „Was tut sie?“

      „Uns für dumm verkaufen“, knurrte die Walküre. Sie verschränkte die Arme und betrachtete das Schauspiel mit wachsendem Zorn.

      Thea