Stephan Waldscheidt

Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter


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hat mir der Sprecher auch so gar nicht gefallen. Irgendwie bin ich nicht mit ihm warm geworden und das macht für mich schon die Hälfte von einem guten Hörbuch aus.« (cvcoconut über Romy Fölck, »Bluthaus«)

      Mit dem Sprecher eines Hörbuchs gesellt sich eine weitere Stimme zum Chor hinzu. Das Gleiche gilt für Filme und TV-Serien nach Romanvorlagen. Und erleichtert oder erschwert dem Hörer oder Zuschauer den Zugang zur Geschichte. In jedem Fall beeinflusst es ihn.

      Einige Fehler und Irrtümer treten in Zusammenhang mit der Stimme immer wieder auf. Das sind keine Kleinigkeiten, sondern Knackpunkte, die Sie massiv daran hindern, das Potenzial Ihrer Stimmen und Ihrer Romane auszuschöpfen.

      1. Alle reden bei »Stimme« nur von der »Autorenstimme«.

      Ein großer Fehler. Und einer, der Sie als Autorin oder Autor kleiner macht, als Sie sind. Denn Sie verfügen neben Ihrer Autorenstimme über unzählige andere Stimmen: die Stimmen der Erzähler, die Ihren Roman oder Handlungsstrang erzählen, und die Stimmen der Charaktere selbst, etwa in Dialogen. Nicht zu vergessen: die lautlosen Stimmen von alldem Unausgesprochenen und Unaussprechlichen.

      2. Es gibt eine Autorenstimme, die man entdecken muss. Und dann gut.

      Irrtum. Ihre Autorenstimme ist nichts Fixiertes. Sie ist permanent im Fluss und verändert sich wie das Wasser des Flusses. Sie aus dem Wasser zu greifen, reißt sie aus dem Zusammenhang. Ihre Autorenstimme wächst mit Ihnen und Ihrem Vokabular, verändert sich mit Ihnen und Ihren Erfahrungen, erweitert sich mit jedem Erzähler und Charakter, den Sie sprechen lassen, mit zufällig aufgeschnappten Informationen und bewusst recherchiertem Wissen, und sie wird mächtiger mit jedem Stückchen Handwerk, das Sie lernen.

      3. Stimme ist dasselbe wie Stil.

      Nein. Die Stimme umfasst den Stil, ist jedoch weit mehr. Der Stil ist lediglich ein Teil der Stimme: ihre technische, handwerkliche Seite. Zu dieser zählen Emotionen, Haltungen und vieles mehr.

      4. Die Stimme ergibt sich beim Schreiben von selbst.

      Der Satz ist insofern richtig, als Sie nicht stimmlos schreiben können. Und dass Sie nicht bei jedem Satz über die Stimme nachdenken sollten. Doch damit sich intuitiv eine passende und effektive Stimme herausschält, brauchen Sie Erfahrung sowie Wissen um Erzählhandwerk und Sprache. Erst dann ergibt sich eine Stimme, die Ihren Erzählabsichten und Ihrer Geschichte dient, statt sie laufend zu unterwandern. Nur dann geht das Schreiben der Stimme wie von selbst. Damit Sie mehr Zeit haben, über Charaktere, Plot und Spannung nachzudenken.

      5. Als Entdecker (Aus-dem-Bauch-heraus-Schreiber) muss ich mir über die Stimme keine Gedanken machen.

      Sie müssen es nicht. Aber Sie sollten es tun, um einen sehr viel besseren Roman zu schreiben. Gerade Sie als Entdecker brauchen das Wissen um Erzähler und Stimme, um nach dem Aus-dem-Bauch-Schreiben und Die-Story-Entdecken bei der (nüchternen, kopfgesteuerten) Überarbeitung so viel Nutzen aus der Stimme zu ziehen, wie Sie nur können.

      All diese Irrtümer stellen wir im Lauf des Buchs vom Kopf auf die Füße.

      Ein Chor von Stimmen

      In Ihrem Roman wirken zahllose Stimmen wie in einem Chor zusammen: die Stimme eines oder mehrerer Erzähler, die Stimmen der Charaktere, insbesondere in Dialogen und Gedanken, sowie die Stimme des Autors selbst.

      Wie bei jedem Chor ergibt sich der Wohlklang, zeigt sich die Meisterschaft erst durch den Zusammenklang der Stimmen und Stimmlagen. Die Stimmen ergänzen einander, sie bauen aufeinander auf, sie kontrapunktieren oder klingen gemeinsam, sie stellen sich gegenseitig heraus.

      Wenn Sie wissen, was typisch für Ihre Autorenstimme ist, können Sie leichter eigenständige Erzählerstimmen erschaffen. Indem Sie Manierismen, Haltungen, stilistische Eigenheiten und vieles mehr bewusst ergänzen oder weglassen. Das erlaubt es Ihnen, immer wieder neue Erzählstimmen zu schaffen. Für die Arbeit in einem Roman, wo Sie aus mehreren personalen Perspektiven schreiben, erweist sich das als außerordentlich nützlich. Ihre Erzähler klingen unterschiedlich, jeder hat etwas Individuelles, das ihn von den anderen abhebt. Damit gestalten Sie einerseits die Erzähler lebendiger und glaubhafter, andererseits öffnen Sie den Roman und machen ihn welthaltiger, sein Format mehr IMAX als Normalleinwand, mehr Cinemascope als 4:3.

      Entsprechendes gilt für die Stimmen Ihrer Charaktere, die Sie auf diese Weise individueller und besser unterscheidbar gestalten.

      Betrachten Sie Ihre Autorenstimme als die Basis für all die anderen Stimmen, die in Ihnen schlummern: die Stimmen der Erzähler und die all der Charaktere in den vielen Geschichten und Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern, Short Storys und Gedichten, Songs und Musicals, die Sie schreiben und schreiben werden. Ihre Autorenstimme ist der Heimathafen, von wo Sie aufbrechen in die unzähligen Welten und Figuren, die Ihrer Phantasie entspringen, in Abenteuer und Gefahren, in spritzige Erotik und bodenständigen Humor, zu fremden Galaxien oder rüber zu den Nachbarn und ihren Geheimnissen.

      Dieser Hafen ist, wie etwa der in Hamburg, dennoch permanent in Bewegung: Da wird die HafenCity errichtet, die Elbe weiter ausgebaggert, ein neues Kreuzfahrtterminal gebaut – und so verändert sich Ihre Autorenstimme, weil Sie sich verändern, und Sie verändern sich deshalb, weil sich Ihre Stimme wandelt.

      Manche Autoren geben Ihren Lesern einen großen Teil Ihrer Autorenstimme, indem sie die Erzählstimme kaum von ihr abweichen lassen. Andere Autoren wollen hinter den Erzähler zurücktreten und möglichst wenig von ihrer eigenen, der Ur-Stimme preisgeben. Bei vielen ändert sich das von Buch zu Buch, bei manchen bleibt es über die Jahre und Projekte hinweg gleich.

      Wichtig ist, dass Sie Ihren Weg finden, auch stimmlich, als Chorleiter ebenso wie als Sänger auf jeder Stimmlage.

      Die einzelnen Stimmlagen – Autor, Erzähler, Charakter – sehen wir uns jetzt im Detail an.

      Warum Sie die Stimme nicht einfach Stimme sein lassen sollten

      Nicht wenige sind der Meinung, eine Stimme passiere einfach, sei es die Stimme von Charakter, Erzähler oder Autor. Und das wäre gut so.

      Dieser gefährliche Irrglaube lässt sich leicht entkräften. Lassen Sie Ihre Stimme Stimme sein, geben Sie die Kontrolle über sie ab. Stellen Sie sich eine Sängerin vor, die drauflos singt, egal in welcher Tonart, in welchem Rhythmus, ob es harmonisch ist oder nicht, ja, sie interessiert sich nicht mal für Tonhöhen, nicht für Dur und Moll, nicht für den Takt. Wie viele Zuhörer werden so zu Fans? Wie viele Plattenverträge und Grammys bekommt sie? Wie viele Herzen lässt sie schmelzen? Wie viele Menschen werden in ihre Konzerte strömen, wer wird ihre Lieder auf YouTube covern, ja, wer wird überhaupt von dieser sinn- und ziellosen Ansammlung von Tönen bewegt?

      Eben.

      Ohne Kontrolle fehlt Ihnen jede Möglichkeit, die Stimme zu verändern, sie anzupassen, sie zu erweitern und zu verbessern. Ohne Interesse an der Stimme fehlt Ihnen das Vokabular, um mit anderen darüber zu sprechen, sich Tipps zu holen, Tipps zu geben.

      Wenn eine Sängerin nicht weiß, was ein höherer und was ein tieferer Ton ist, wenn sie keine Ahnung hat, was ein Akkord sein soll und was einen Dreiviertel- von einem Viervierteltakt unterscheidet, dann hat sie keine Chance, ihre Stimme von einer Gesangslehrerin verbessern zu lassen, und auch keine Chance, konstruktive Kritik zu begreifen, geschweige denn, sie umzusetzen.

      Ohne Kontrolle über Ihre Stimme können Sie sie nicht einsetzen, um bestimmte Effekte in Ihren Texten zu erzielen. Schlimmer: Ohne Kontrolle über Ihre Stimme verlieren Sie auch die Kontrolle über die anderen Sprach- und Erzähltechniken und damit über Ihren Roman.

      Denken Sie an unsere Wassermetapher. Wenn das Wasser der Ozeane vergiftet ist oder wenn es verdunstet, sterben eben auch die Tiere und Pflanzen darin, Wassersportler werden fett, Touristen langweilen sich