Katharina Johanson

Grete Minde in Tangermünde


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Bedrängnis tut? Sie schob zweifelnd ihre Gedanken hin und her. Eins stand jedenfalls fest: Ihr Kind ist in Not. Sie muss helfen. Er braucht Geld, dringend Geld. Geld hatte sie kaum, nur ein paar Groschen.

      Die Mutter verschwand und kehrte mit den Münzen wenige Augenblicke später wieder zurück. Sie drückte dem Jungen das Geld in die Hand. Er steckte es weg. Zuwenig. Das wird kaum ein paar Tage langen. Entschlossen nahm sie ihr Goldkettchen vom Hals. Eine zierliche Kette mit einem winzigen Anhänger, der wie eine Krone geformt ist. Sie legte die Kette in ein kleines Tuch, streifte auch noch zwei Ringe von den Fingern und gab die dazu. Sie verknotete das Stück Stoff und reichte es dem Sohn.

      Sie umarmten und küssten sich. Die Mutter löschte das Licht. Der Albrecht verschwand auf dem gleichen Wege wie er gekommen war. Die Mutter wachte am offenen Fenster bis der Morgen graute.

      Die Calberger

      Ohne Schwierigkeit kam Albrecht aus der Stadt heraus. Dem Torwächter Karl Hafermaß hatte er zwei Groschen gegeben und die Lüge aufgebunden, in drängendem Auftrag seines Vaters unterwegs zu sein. Ganz unwahrscheinlich war das nicht, zumal um diese Zeit reichlich Warenlieferungen in der Stadt erwartet wurden, manche sich verspäteten, auch verirrten und die betreffenden Kaufleute gern ihre Agenten losschickten, um die Säumigen sicher einzubringen.

      Albrecht lief auf Stendal zu. Die Straße war so zeitig am Tag menschenleer. Albrecht strauchelte, er war erschöpft, völlig übernächtigt und gestresst, außerdem hatte er seit Stunden nichts gegessen, vom Alkohol war der Magen ausgehöhlt. Albrecht war in jämmerlicher Verfassung. Die Sonne zeigte sich am Horizont, als der Flüchtling etwa die Hälfte des Weges nach Stendal bewältigt hatte.

      Zwischen den beiden Städten Stendal und Tangermünde gab es eine gut ausgebaute und von patrouillierenden Landreitern bewachte Straße. Die beiden Städte praktizierten einen ständigem Waren- und Personenaustausch. Was hier fehlte, wurde freizügig von dort ergänzt und umgekehrt. Die eifersüchtig gehütete Selbstständigkeit der einen wie der anderen Bürgerschaft wurde durch die städtische Partnerschaft sukzessive aufgeweicht und bereichert. Dieser Brauch ließ die Tangermünder und die Stendaler wie in einer großen, weit verzweigten Familie leben. Man kannte sich untereinander, besonders die wohlhabenden Bürger pflegten einen regen Austausch, nicht nur zu Geschäftszwecken.

      Daher war für Albrecht die Stadt Stendal auf keinen Fall ein sicherer Hort. Sobald seine Tat ruchbar wird, würde fast jeder Mensch hier und in der näheren Umgebung ihn erkennen und ausliefern können. Er musste also heute noch, so rasch wie möglich, Stendal passieren und dann weiter fort. Immer weiter von dieser Gegend hier weg. Nur wohin? Albrecht hatte so gut wie keine geographischen Kenntnisse. Wo liegt das Ausland? Wo ist die Grenze? Er wusste es nicht.

      Von Stendal kamen zwei Berittene auf ihn zu. Landreiter! Albrecht schlotterte vor Angst. Er hatte keine Papiere, keinen Geleitbrief. Allein seine Kleidung wies ihn als wohlhabend aus. Albrecht baute sich demütig am Wegesrand auf. Mit dem Mut der Verzweiflung hoffte er, durchschlüpfen zu können. Auf seiner Höhe angekommen fragte der eine schon: „Nun, wohin zu so früher Stunde?“ Albrecht log: „Bin in des Vaters Auftrag unterwegs.“ Der Landreiter fragte vom Pferd herab: „Gibt es eine Legitimation?“ Albrecht kramte in seinen Kleidern, täuschte Suchen vor. Die Augenblicke dehnten sich schmerzhaft. Da wurde dem zweiten Reiter die Sache zu müßig: „Lass doch den Jungen laufen. Das ist doch der junge von Minden. Der ist in redlichen Geschäften unterwegs.“ Albrecht fiel ein Stein vom Herzen. Sie grüßten einander und zogen weiter.

      Ein ganzes Stück wegabwärts musste sich Albrecht niederlassen und ausruhen. Die soeben ausgestandene Angst lähmte ihm die Glieder. Schlimmer noch: Man hatte ihn erkannt! Wurde jetzt bereits nach ihm gefahndet, dann war es eine Kleinigkeit, ihn einzuholen und festzusetzen. Albrecht überlegte, ob es nicht besser sei, sich zu stellen oder sich gleich in der Elbe zu ertränken. Der Fluss war nicht weit. Ihm schwanden die Sinne, er kam nicht hoch, es ging nicht weiter.

      Von fern hörte er Pferdegetrappel, Räder knarren. Sie kommen schon, sie holen ihn! Albrecht blieb hocken. Er dachte nicht an weglaufen. Es hat ja eh alles keinen Sinn mehr. Er schloss die Augen.

      Der Wagen stoppte neben Albrecht und eine Mädchenstimme rief: „Da schau nur, Vater! Ein Kranker, ein Verletzter?“ Eine Altmännerstimme antwortete unwirsch: „Musst Du jede Kreatur aufsammeln?“ Albrecht öffnete die Augen und sah einen mit buntem Tuch bespannten Wagen. Er folgerte richtig: Gaukler auf ihrem Weg zur nächsten Stadt. Ein junges Mädchen sprang behände herab und lief auf ihn zu, ein Alter saß auf dem Kutschbock und blickte mürrisch.

      Das Mädchen fragte sorgenvoll: „Ist Ihnen etwas geschehen? Sind sie verletzt oder krank, Herr?“ Albrecht gab hilflos das Naheliegende an: „Ich habe Hunger?“

      Das Mädchen lachte: Ein reicher Mann und lagert hungernd am Wegesrand. Dinge gibt es zwischen Himmel und Erde! Sie ordnete das Notwendige an: Der Alte musste den Wagen auf eine Ausbuchtung an der Straße lenken und das Pferd versorgen. Das Mädchen kletterte auf dem Wagen herum, nahm dies und jenes, lief hin und her, und hatte innerhalb von Minuten ein kleines Feldlager errichtet. Vor Albrecht bauten sich Lebensmittel auf und er wurde freundlich angehalten, sich zu stärken. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Sie frühstückten gemeinsam. Das Mädchen plauderte aufgeräumt belangloses Zeug, der Alte knurrte zuweilen zustimmend oder ablehnend, Albrecht blieb wortkarg und dachte: Henkersmahlzeit. Nichtsdestotrotz kam er zu Kräften und die Lebensgeister kehrten zurück.

      Das Mädchen registrierte mit Genugtuung, wie er sich erholt, Farbe in sein Gesicht zurückkehrt, seine Körperspannung sich langsam wieder aufbaut. Nun würde er ohne ihre Hilfe weiter kommen. Sie hatte gern geholfen. Auch ihr Vater, der stets zurückhaltend auf ihre offene und freizügige Art reagierte, duldete nicht nur ihr Tun, sondern er war auch stolz auf sie. Sie hatte nämlich heilende Kräfte. Da war es dann schon eine Wonne, mit anzusehen, wie sich einer belebt und aufsteht.

      Die drei lächelten in stillem Einvernehmen: Das Mädchen zufrieden, der Vater stolz und Albrecht dankbar.

      Während Albrecht nach Dankesworten suchte, näherten sich von Tangermünde her kommend die beiden Landreiter von heute früh. Albrecht erkannte sie sofort, erbleichte und sank in sich zusammen. Sie haben mich! Die Reiter sausten vorbei. Das Mädchen beobachtete die Szene mit wachen Augen und folgerte: „Herr, Sie werden gesucht?“ Albrecht nickte, und weil er ja nun doch schon erkannt war, stellte er sich ordentlich vor: „Mein Name ist Albrecht von Minden aus Tangermünde.“ Der alte Mann quittierte die Höflichkeit: „Das ist meine Tochter Grete und ich bin Christian Calberger.“ Das Mädchen verzog schmollend den Mund: „Vater, ich bin kein kleines Kind mehr!“ Christian friedfertig: „Gut, gut. Sie heißt Margarete Calberger.“

      Eine nachdenkliche Pause entstand. Die Calberger schauten offen. Albrecht dürstete nach Entgegenkommen. Freimütig setzte er das ganze Dilemma seines verpfuschten, verwirkten, nutzlosen Daseins auseinander. Die Calberger lauschten anteilnehmend. Die Sache ging ihnen nahe. So etwas kannten sie. Wie schnell kommt einer in Mordverdacht. Dieser Junge ist doch kein Mörder.

      Inzwischen kam die Sonne höher, die Straße belebte sich, Fuhrwerke und Fußgänger strebten ihrem Ziel zu. Die Gaukler lagerten seitlich. Der eine oder andere Passant dachte geringschätzig: Die haben es gut, können am hellerlichten Tag faul in der Sonne liegen. Allein, die kleine Gruppe wälzte ein schwerwiegendes Probleme: Wie kommt der Flüchtling unbeschadet ins Ausland?

      Christian und Margarete verstanden sich auf allerlei Handwerk. Das brachte ihr Beruf mit sich: Sie konnten singen, tanzen, spielen, dichten sowieso. Stellmachern, tischlern, nähen, kochen, heilen - das kam noch oben drauf. Aber eins konnten sie nicht: Sie waren keine Schmuggler oder etwa Fälscher. Albrecht brauchte gute Papiere oder eine sichere Reiseroute jenseits der offiziellen Straßen. Sie entwickelten und verwarfen etliche Pläne. Stunden gingen darüber ins Land. Sie nahmen eine weitere Mahlzeit zu sich. Die drei Menschen näherten sich einander an. Zu einem tragfähigen Ergebnis gelangten sie nicht. Die Calberger mussten den unbeholfenen Jungen sich selbst überlassen und rüsteten zum Aufbruch.

      Plötzlich kam Christian die zündende Idee: „Kinder, manchmal ist man wie vernagelt!