Katharina Johanson

Grete Minde in Tangermünde


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beschaffen. Schließlich galt er als gesuchter Mörder.

      Liebe hält sich niemals an irdische Regeln. Fortan lebten sie wie Mann und Frau und scherten sich einen feuchten Kehricht um etwaige Hochzeitsglocken. Allein Vater Calberger grämte sich. Liederlicher Lebenswandel, vermerkte er. Sosehr er seinen Kindern dieses Glück gönnte, so argwöhnisch beäugte er deren ungezwungenes Zusammensein: Sie leben schließlich nicht im luftleeren Raum. Überall haben sie Freunde, Bekannte. Eine Trauung muss her. Das Gewissen spielte dem gottesfürchtigen Menschen üble Streiche. Er sah seine Enkelkinder in der Hölle schmoren und sich selbst wegen Kuppelei am Pranger stehen. Er grübelte, dachte nach, schlief nachts wenig, hatte tagsüber schlechte Laune. Die Jungen focht das nicht an. Sie glaubten an eine glückliche Fügung. Die stellte sich tatsächlich aus unerwarteter Richtung ein.

      Als die Sonne höher kam und den Schnee schmolz, stiegen wieder mehr Reisende im Gasthaus „Zu den Eichen“ ab. Der Wirt freute sich über Arbeit, Knecht und Magd beendeten ihre Winterpause. Die Calberger rüsteten für die nächste Saison. Da hörte Margarete den Ruf des Wirtes. Ein junges Paar war eingetroffen, die Frau war hoch in anderen Umständen, der Ehemann deutlich besorgt, die Niederkunft stand kurz bevor. Der umsichtige Wirt wollte die Kreisende nicht sich selbst und ihrem nervösen Partner überlassen. Margarete sollte helfen. Sie kam und das Paar legte sein Schicksal in die Hände der Heilerin.

      In den vielen Stunden des Wartens auf die Ankunft des neuen Erdenbürgers erzählten sich die beiden jungen Frauen gegenseitig aus ihrem Leben. Und siehe da: Margaretes Lebenslauf war kein Einzelfall. Nicht jede Liebe steht unter einem glücklichen Stern. Nicht jedes heiratswillige Pärchen, bekommt den Zuschlag der Eltern oder der Geistlichkeit. Es gibt aber in einer kleinen Kirche bei Angern den Priester Hagen, der gegen ein geringes Handgeld den Liebenden Gottes Segen nicht versagt und deren Partnerschaft legitimiert. „Ein Katholik?“, fragte Margarete ablehnend. Die andere antwortete überlegen: „Was schadet es, sich von einem Priester trauen zu lassen. Trauung ist Trauung. Wenn es nicht anders geht, muss es eben ein Priester sein. - Ich hätte nie gedacht“, dabei lachte sie ihre Hebamme freimütig an, „dass eine junge Frau wie Du so altmodisch sein kann. Seit dem Augsburger Frieden haben nicht nur die Großen, sondern auch wir Kleinen die freie Wahl des Glaubens. Lasst Euch von Hagen trauen, dann ist alles in Ordnung. Und wir huldigen ja schließlich alle dem gleichen Gott.“ Margarete ließ sich überzeugen.

      Die Frau brachte ein gesundes Mädchen zur Welt. Die Calberger verabschiedeten sich. Ihr Ziel war das fast einhundert Meilen entfernte Angern.

      Diese Reise verlief wie alle vorherigen: Man kam langsam vorwärts, gastierte in jedem kleinen und großen Ort, verdiente sich ein annehmbares Salär, lebte sparsam, und wenn ein kranker oder armer Mensch Hilfe für sein Fortkommen benötigte, taten die Calberger, was in ihren Kräften stand. Die Vorfreude auf die Hochzeit dominierte alles. Christian war jetzt ganz versessen auf Enkelkinder und schwärmte vom Altenteil. Sie zogen in Erwägung, sich irgendwo dauerhaft niederzulassen. Ein Theater, fest etabliert in einer größeren Stadt, das müsste doch möglich sein. Die Stimmung war gut. Es war eine Lust zu leben. Die aufblühende Natur trug das Ihrige dazu bei.

      Mitte April des Jahres 1610 waren sie noch zwei oder drei Tagesreisen von Angern entfernt, da überkam Christian Calberger eine Schwäche. Ein Reißen in der Herzgegend, Kurzatmigkeit und Schwindelgefühl machten ihm zu schaffen. Auf dem Wagen unter der Plane bereiteten sie ihm ein Lager. Margarete wiegelte ab, es sei eine kleine Verstimmung, pflegte den Vater aufopfernd, und sie wusste doch genau, dass es zu Ende geht. Sie erreichten Angern und Christian Calberger war verstorben.

      Das Priesteramt von Angern ward leicht gefunden. Eine winzige Basilika am Rande der Siedlung, eher versteckt, denn offen den Gläubigen zugewandt, daneben ein kleines Wohnhaus mit anliegendem Gartenland und rückwärtig ein Friedhof mit wenigen Grabstellen. Das Ganze war von einer niedrigen Feldsteinmauer eingehegt. Priester Hagen grub, den frühen Vormittag nutzend, gerade in seinem Garten, als er das Gefährt mit dem bunten Verdeck wahrnahm. Aha, registrierte er, Gaukler auf der Durchreise, und wollte schon weiterarbeiten, als der Wagen hielt, eine junge Frau vom Kutschbock sprang und ihn anrief: „Sind Sie Hagen?“. Der Priester bejahte, stellte sein Gerät beiseite, wischte die erdigen Hände an seinem Kittel ab und ging auf die Leute zu. Jetzt kam auch ein junger Mann um den Wagen herumgelaufen. Sie begrüßten einander. „Wir haben da eine Bitte“, sagte die Frau und Hagen mutmaßte: Die wollen heiraten.

      Der Priester ließ sich gern herab, denn er hatte Zuspruch und Publikumsverkehr in seiner am Ende der Welt liegenden Enklave bitter nötig. Er war großzügig, gab den Liebesleuten alle Unterstützung. Und er nahm die kleinen amourösen Geschichtchen gern als Gegenleistung für seine Dienste an. Dieser Preis war gering und wollte ausgekostet sein. Hagen näherte sich leutselig dem Wagen, fragte dieses und jenes, flocht ein, dass ein kleines Entgelt auch noch zu entrichten sei. Da schlug Margarete die Plane beiseite und fragte: „Können Sie den Vater beerdigen?“

      Priester Hagen prallte zurück. Ein Toter! - Das wirft Fragen auf. Misstrauisch betrachtete er den Toten. Er ließ sich berichten. Das erleichterte. Er war Seelsorger genug, um zu erkennen, dass Christian Calberger an Altersschwäche gestorben war. Das hier sind zwar Gaukler, aber bei aller Liederlichkeit ihres Berufsstandes doch immerhin Gottes Kinder, vermerkte Hagen. Die Papiere wiesen die Calberger als gläubige, lutherisch-reformierte Christen aus. Der Priester gab den Geleitbrief zurück und Albrecht steckte ihn wieder unters Wams. Hagen sah die Not. Der Verstorbene musste augenblicklich bestattet werden, und das möglichst in geweihter Erde. Er seufzte tief. Platz auf dem Friedhof war genug. Der Priester war auf jeden Fall bereit. Er hatte per Zufall soeben seinem Herrn ein Schäfchen gewonnen. Tod oder lebendig ist schließlich egal. Eine kleine Zeremonie konnte vollzogen werden. Nur, es fehlten ein Sarg und ein Totengräber. Albrecht erklärte: „Das mache ich.“ Sie verabredeten das Prozedere und der Priester empfahl sich für die Zeit, während die beiden jungen Leute eine ordentliche Beerdigung vorbereiteten.

      Sie schleppten den Toten in die Sakristei. Margarete wusch den Verstorbenen und bahrte ihn in seinen besten Kleidern auf. Albrecht lud die Bodenbretter des Theaters vom Wagen ab, trug sie auf den freien Platz hinter der Basilika, richtete sich einen Arbeitsplatz ein und tischlerte einen Sarg zusammen. Er hob auch die Grube an vorbezeichneter Stelle auf dem Friedhof aus. Dann legten sie den Toten in den Sarg, umhüllten ihn mit weichen Tüchern, nagelten den Deckel fest, trugen den Toten im letzten Gehäuse hinaus und ließen ihn in das Erdloch hinunter. Ein paar Schaulustige waren auch zugegen. Priester Hagen kam in festlicher Kleidung und sprach ein Gebet. Sie sangen einen Choral. Das klang eher mäßig, weil außer Hagen kaum einer Text und Melodie draufhatte. Allein, es genügte dem guten Zweck. Schließlich schaufelte Albrecht das Grab zu und sie begaben sich in das Kirchlein.

      Hagen sprach noch einmal ein Gebet für den teuren Toten und überließ dann die beiden Gotteskinder ihrer Trauer. Albrecht und Margarete knieten vor dem Altar und hielten stille Andacht. In der Sakristei holte der Priester das Kirchenbuch hervor und notierte: Christian Calberger, Schauspieler, 27. April 1610. Hinter die Eintragung malte er ein Kreuz und bezeichnete auch noch die Grabstelle auf dem Friedhof. Dann ging er seinen Alltagsgeschäften nach.

      Irgendwann am Nachmittag dieses Tages hörte Priester Hagen Pferdegetrappel und den Wagen der Gaukler abziehen. Liederliches Volk, resümierte er, von Höflichkeit keine Spur! Man hätte sich verabschieden sollen, und der Obolus für die Beerdigung war auch nicht entrichtet. Leicht verstimmt trödelte er über sein Anwesen, schaute hier und da nach dem Rechten, setzte sich auf sein kleines Bänkchen vorm Haus, hielt Zwiesprache mit einer schwarzen Katze und döste in den Abend hinein. Als die Sonne dem Horizont schon sehr nahe war, erhob sich der Mann, um seine Kirche zuzusperren. Gewohnheitsmäßig, den Schlüssel schon im Schloss, lugte er in den sakralen Raum und sah zu seiner Verblüffung die beiden Gotteskinder unverändert vor dem Altar knien. Vorsichtig näherte er sich und fragte leise: „Was tut Ihr hier? Ich dachte, Ihr wäret fort.“ Margarete erhob sich und erklärte unbedarft: „Herr Priester, wir wollen noch heiraten. Ist das möglich? Heute noch oder morgen eventuell?“ Hagen sprach, Schlimmes ahnend, völlig entgeistert: „Euer Wagen ist fort!“

      Margarete und Albrecht stürzten auf den Vorplatz und sahen, was sie nicht glauben wollten: Wagen und Pferd waren wie vom Erdboden verschluckt. Von Dieben fortgeschafft, von Müßiggängern