Katharina Johanson

Grete Minde in Tangermünde


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blieb im Getriebe der willkürlich gebrauchten staatlichen Gewalt nur eins: Den Delinquenten unter der Folter und im Feuer Milde zukommen zu lassen. Sicher gibt es unter den Scharfrichtern auch Sadisten. Ganz sicher. Aber die meisten Genossen seiner Gilde, wusste Jörgen, arbeiten im Beruf, weil sie ihn geerbt und nichts anders gelernt hatten. Da bleibt nur, Gnade vor dem so grausam wütenden Recht zu üben: Mit einem Narkotikum oder einem Halluzinogen verschafft er dem Gepeinigten Wohltat, kürzt das Prozedere ab, erleichtert sein Gewissen und versperrt sich damit selbst unweigerlich den Weg zu Wohlstand. Ganz selten kam dem Haffner mal ein Fall unter die Hände, da er ruhig die Tortur nach allen Regeln der Kunst anwenden und damit auch kräftig verdienen konnte.

      Kurz und gut: Die Haffners gewährten der mittellosen Margarete Kost und Logis, obwohl sie selbst nichts im Überfluss hatten.

      Völlig sorglos sah Margarete der Geburt ihres Kindes entgegen. Als Heilerin war sie mit den natürlichen Gegebenheiten von Schwangerschaft und Niederkunft vertraut. In der freundlichen, offenen Atmosphäre des Haffner-Hauses war es eine wahre Lust ein Kind zu zur Welt zu bringen, zumal der Hausherr sich selbst wie ein werdender Vater oder Großvater benahm. „Mädel, Du musst uns ein Mädchen schenken“, beschwor sie Jörgen gutgelaunt, „wir haben hier schon genug Männer im Haus. Ein Mädchen würde mal ein gewisses Gleichgewicht herstellen.“ Margarete ging frohsinnig auf die Rede ein: „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Sie lachten und scherzten. Es war ihnen wohl zumute. Ottilie vertrieb den Sohn aus seinem Bereich und richtete ein Mutterstübchen für Margarete ein. Otto knurrte: „Alles für Margarete und nichts für mich.“ Die Mutter besänftigte den Halbwüchsigen: „Aber wenn Du ein Brüderchen bekommst, ist es auch nicht so schlecht.“ Otto, der absolut keinen Plan hatte, was er mit einem frisch geborenen Brüderchen anfangen sollte, gab gutwillig nach und räumte seine persönlichen Sachen in Arturs und Marcus‘ Wohnraum.

      Am Abend eines Freitags Mitte September zog sich Margarete auf ihre Kammer zurück. Die Wehen hatten eingesetzt. Geduldig wartete sie, was sich ereignen würde. Wie die Kontraktionen sich allmählich verdichteten, vermerkte die Frau mit Befriedigung, dass es gut vorwärts geht. In der Nacht ließen die Wehen nach. Margarete wusste auch das richtig zu bewerten: Das Kindchen muss sich den Weg ja erst bahnen, da sind Ruhezeiten im Geburtsverlauf durchaus normal. Sie schlief darüber ein. Am Sonnabendvormittag setzten die Wehen wieder stärker ein, Kontraktion auf Kontraktion folgte. Die Kreisende atmete tief in jede Wehe hinein, gab sich vollkommen der Naturgewalt hin, allein ihr Körper wollte sich nicht öffnen. Das ging so Stunde um Stunde bis zum späten Nachmittag. Das kostete Kraft. Das erschöpfte die Frau. Sie streckte sich ermattet auf dem Bett aus und verspürte eine weitere Pause im Geburtsverlauf. Die sorgenvoll hereinschauende Hausfrau fand Margarete ruhig, aber totenblass mit spitzer Nase und tiefen Augenringen auf dem Lager liegend und fragte sorgenvoll: „Margarete, was ist Dir?“ Die Kreisende erklärte mit wenigen Worten, wie sie sich befand. Das ist nicht in Ordnung, konstatierte Ottilie Haffner, ging hinaus und rief nach dem Hausherrn.

      Jörgen Haffner war in Sachen Anatomie und Physiologie ausgezeichnet unterrichtet. Das brachte sein Beruf mit sich. Mit Sachkenntnis erörterten die beiden Haffners Margaretes Zustand. Jörgen entschied: „Wir warten noch ein paar Stunden und wenn sich dann nichts getan hat, greifen wir ein.“ Vorsorglich legte der Mann ein paar Werkzeuge, Zangen, Messer, Schere und Faden, zurecht. Ottilie Haffner mischte aus den gewissenhaft gehüteten Arzneien ein Narkotikum. Als alles soweit vorbereitet war, setzten sie sich nieder und lauschten auf jedes Geräusch. Es tat sich nichts. Gegen Mitternacht gingen sie zu der Kreisenden hinein. Die reagierte kaum noch.

      Mit behutsamen Handgriffen befreiten sie Margarete von ihrer Kleidung. Jörgen zog Margarete am Oberkörper hoch und hielt sie in dieser Stellung fest. Ottilie suchte und fand auf dem Bauch der Kreisenden den richtigen Druckpunkt, presste mit aller Kraft ihre eine, zur Faust geballte Hand in den hoch gewölbten Leib, mit der anderen, offenen Hand stützte sie der Frau Beckenboden ab. Ein durchdringender Schmerz nahm Margarete das Bewusstsein.

      Ottilie Haffner hob ein schrumpeliges, blaurot gefärbtes, matt glänzendes Kindchen aus dem Mutterschoß. „Aha, Steißlage“, erkannte sie den Grund der Verhinderung. Jörgen Haffner brachte die junge Mutter vorsichtig in Liegeposition und bedeckte sie mit Tüchern. Der kleine Mensch in Ottilies Händen zitterte, japste nach Luft und schrie mit einem Mal, dass es einem durch Mark und Bein ging. Die Haffners schauten sich glücklich an: „Uns ist ein Jesuskind geboren.“ Jörgen Haffner kniete nieder, ließ sich das Kind auf seine großen verarbeiteten Hände legen und sprach ein Gebet.

      Während Frau Haffner das Kind versorgte, kümmerte sich Jörgen Haffner um Margarete. Sie musste gewaschen, bekleidet und in frisches Bettzeug gelegt werden. Die junge Mutter erwachte aus ihrer Ohnmacht und blickte ängstlich suchend im Raum umher. Haffner: „Sei ganz ruhig, es ist alles gut gegangen. Ein kleiner Jesus ist geboren.“ Ottilie gab der Mutter das Kind in den Arm. Beide schliefen selig ein. Die Haffners räumten noch auf und gingen dann in ihr Schlafzimmer.

      Am Vormittag öffnete der junge Otto Haffner ganz leise die Kammertür und lugte zur Margarete herein. Die schaute hoch und lächelte. Otto fragte unsicher: „Darf man mal das Kindchen sehen?“ Margarete lud den Jungen ein. Erklärend fügte Otto hinzu: „Die Mutter sagt, es ist ein Jesuskind geworden.“ Margarete schränkte ein: „Nun ja, nicht gerade ein Jesuskind. Ein kleiner Sebastian ist es geworden. Aber das ist ja auch schon was.“ Otto betrachtete bewundernd das Kind. So klein, so faltig, so durchscheinend. Er fragte unsicher: „Und das soll mal groß werden?“ Margarete sprach nachsichtig lächelnd: „Ja. Du warst auch mal so klein.“ Dem Jungen schien das unwahrscheinlich. Er musste es glauben und verwies dann diese Erkenntnis in die Kategorie der Wunder. Margarete war ihm jetzt eine Heilige. In der Tat strahlte die junge Mutter große übersinnliche Ruhe aus. Otto mochte die erhebende, friedvolle Atmosphäre nicht verlassen und erbot sich: „Kann ich etwas für Dich tun?“ Margarete sagte: „Aber gern. Hole eine Feder und Tinte und trage die Geburt meines Sohnes dort in mein Schreibbüchlein ein.“ Otto stob davon und kehrte wenige Minuten später zurück.

      Mit seiner ungeübten Handschrift folgte er dem Diktat: „Am Sonntag, den 14. September 1614, ist den von Minden hier in Stendal ihr Sohn Sebastian geboren worden.“

      Am Vormittag des zehnten Tages nach der Geburt schritten die Haffners und ihre Leute in einer kleinen Prozession zur Kirche. Vorn liefen Vater und Sohn, dahinter die Knechte und ganz hinten Ottilie und Margarete abwechselnd das Kind tragend. Die Nachbarn schauten neugierig, grüßten zurückhaltend freundlich, und spätestens zu diesem Zeitpunkt erfuhr auch der letzte Stendaler, dass den Haffners ein Enkelkind geboren ist. Allgemeinhin waren deren Familienverhältnisse undurchsichtig und indiskutabel. Wer mischt sich schon in die Privatangelegenheiten eines Scharfrichters ein?

      Die Haffners trafen den Pastor in der Kirche vor dem Taufbecken wartend an. Die kleine Zeremonie verlief wie gewohnt. Salbungsvoll, ein wenig schwülstig nahm der Gottesmann das Kind in die Gemeinde der Stendaler lutherisch-reformierten Kirche auf. Jörgen Haffner schaute zufrieden. Immerhin hatte er zwei Taler vorgestreckt. Damit wurde der Junge ein Stendaler. Die Eintragung im Kirchenregister war ein Unterpfand für spätere Bürgerrechte. Sebastian sollte es gut haben.

      Als das Prozedere beendet war und die Haffners sich anschickten, die Kirche zu verlassen, griff der Pastor den Familienältesten am Arm und zog ihn mit sich zur Sakristei. In dem abgeschiedenen Raum lag auf einem hohen Tischchen die Registratur des Gotteshauses aufgeschlagen. Der Pfarrer nötigte den Jörgen Haffner dorthin. Er redete schleimig: „Nun, ich will Dir ja nichts abschlagen, aber der Sebastian von Minden ist ein Illegaler. Weder die Mutter noch der Vater sind auf diesen Seiten hier zu finden.“ Er blätterte demonstrativ das Buch von vorn bis hinten durch. Ihm war bewusst: Hier will sich einer einschleichen. Da spielt er nicht mit. Für Dahergelaufene, Obdachlose, liederliche Leute sind die kleinen Landpfarrer oder die paar katholischen Priester zuständig. Der Pfarrer der reichen und stolzen Stadt Stendal muss sich mit solchen Mauscheleien nicht abgeben, es sei denn, man bezahlt ihn anständig.

      Dem Jörgen Haffner schwoll der Kamm. Das Wichtigste, nämlich die Eintragung, wollte ihm dieser Sack jetzt verwehren. Gepresst schlug er vor: „Was kann ich drauflegen?“ Der Pfarrer tat überlegend und verlangte scheinbar demütig: „An die zehn Taler müsste das wert sein.“ Jörgen Haffner