Wenn es bereits nötig ist, dem Rat eines Doktors zu folgen, wenn wir eine gewöhnliche Krankheit fürchten, muß dann überhaupt noch erwähnt werden, wieviel nötiger es ist, dem spirituellen Rat des geschicktesten Arztes, des mitfühlenden Buddhas, zuzuhören und ihn zu befolgen? Sein kraftvolles Dharma-Heilmittel kann die Krankheiten heilen, die uns seit anfangsloser Zeit plagen: die giftigen Verblendungen von Anhaftung, Wut und Unwissenheit.
Es bedarf nicht vieler Ursachen, um in einem Höllenbereich wiedergeboren zu werden. Wenn wir uns auch nur einen Augenblick der Wut gegen einen Bodhisattva leisten und dies nicht reinigen, werden wir uns schon bald in einer Hölle wiederfinden. So stark ist die Kraft dieser Krankheit der Wut! [55] Weder diese noch die anderen zerstörerischen geistigen Krankheiten - Anhaftung, Neid, Stolz und dergleichen - können von einem gewöhnlichen Doktor oder seiner Arznei kuriert werden. Nur der große Arzt Buddha und sein Dharma-Heilmittel kann diese Krankheiten überwinden. [56] Wenn wir die uns angebotene Arznei nicht einnehmen, wo sonst finden wir Hilfe? Es ist außergewöhnlich dumm und zeugt von Unwissenheit, sich einerseits zu wünschen, Samsara zu überwinden, aber andererseits das Ausüben einer spirituellen Praxis als einzig wirksamen Weg zur ersehnten Befreiung abzulehnen.
[57] Wenn man schon am Rande einer Klippe vorsichtig sein muß, muß man da noch über die Vorsicht sprechen, die man am Rande eines Abgrundes benötigt, der bis zur Hölle hinabreicht? Dieser ist wie eine tausend Kilometer tiefe Grube, und wir stürzen aufgrund unserer Nichttugend für eine extrem lange Zeit in sie hinein.
Deshalb müssen wir uns schnell von aller Nichttugend reinigen. [58] Es ist unklug zu denken, daß wir den heutigen Tag genießen können in der Überzeugung, daß wir jetzt nicht sterben werden. Niemand hat die Macht, mit Überzeugung sagen zu können: «Der Tod wird heute nicht zu mir kommen.» Unausweichlich kommt die Zeit, in der wir zu nichts werden. Dann werden andere über uns reden, so wie wir jetzt über diejenigen sprechen, die bereits verstorben sind.
Shantideva schließt diesen Abschnitt über die Kraft des Gegenmittels mit der Frage:
Wer kann mir sagen: «Du hast Nichttugend begangen, aber ich werde dich beschützen?» Niemand kann dies. Wenn ich daran denke, daß der Tod sicher und der Zeitpunkt des Todes so unsicher ist, wie kann ich mich von dieser großen Angst befreien? Wenn es unvermeidlich ist, daß die Zeit kommen wird, wo ich zu nichts werde, wie kann ich mich dann entspannen und damit fortfahren, mich so wie jetzt zu amüsieren? [59]
Die letzte Zeile des obigen Abschnittes bedeutet nicht, daß wir uns niemals entspannen und vergnügen dürfen. Wir sollten jedoch erkennen, daß wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine kostbare menschliche Wiedergeburt gefunden haben. Unsere ganze Zeit nur mit den Belangen dieses Lebens zu verschwenden und aufgrund unserer Achtlosigkeit nichttugendhafte Handlungen zu begehen, bedeutet ein Leben zu führen, das sich nicht von dem eines stumpfsinnigen Tieres unterscheidet. Wenn wir dieser kostbaren menschlichen Wiedergeburt einen echten Sinn geben wollen, dann sollten wir unsere zukünftigen Leben dadurch beschützen, daß wir jetzt Dharma entsprechend unserer Fähigkeit praktizieren und dadurch diese seltene Gelegenheit ausnutzen. Die Auswirkungen von Nichttugend zu reinigen, indem die richtigen Gegenmittel angewendet werden, ist eine der wichtigsten Vorgehensweisen.
DIE KRAFT DES VERSPRECHENS
Die letzte der vier Gegenkräfte, die das Bekenntnis von Nichttugend beinhaltet, ist unser festes Versprechen, bestimmte nichttugendhafte Handlungen nie mehr zu wiederholen. Wenn diese vier Kräfte richtig angewendet werden, ist es sicher, daß unsere gesamte Negativität vollständig gereinigt werden kann.
In vergangenen Leben wurden wir in hohen Positionen geboren, besaßen schöne Körper, waren mit großem Wohlstand und Reichtümern ausgestattet und erlebten wieder und wieder alle Freuden und Vergnügen Samsaras. Aber wie Shantideva sagt:
Was bleibt uns von diesen Erfahrungen? Das alles hat uns keinen Nutzen gebracht und ist jetzt bedeutungslos. Selbst der reichste Mann muß seinen Wohlstand zurücklassen, wenn er zum Zeitpunkt des Todes allein fortgeht. Das einzige, was wir bei unserem Tod mit uns nehmen, sind die Früchte unserer eigenen Handlungen. Jetzt beschäftigen wir uns mit weltlichen Vergnügen und denken, daß sie wichtig sind. Aber sie sind illusorisch und bedeutungslos. Trotzdem bleiben wir an weltliche Vergnügen angehaftet und mißachten ihretwegen die Ratschläge unserer Spirituellen Meister. Da dieser Körper, meine Familie, Freunde und Reichtümer alle zurückbleiben müssen, wenn ich sterbe und allein woanders hingehe, was für einen Sinn hat es dann, mich wegen diesen vorübergehenden Belangen zu gefährden? [60-1]
Shantideva betont die Sinnlosigkeit unserer unaufhörlichen Bemühungen, die vergänglichen Freuden dieser Welt zu erlangen. Er zeigt uns, daß wir diese Vergnügen nicht nur schon unzählige Male in der Vergangenheit erlebt haben, sondern daß wir uns bei unserem Bemühen, unsere unersättlichen Begierden zu befriedigen, in Handlungen verstricken, die uns zukünftiges Leiden bescheren.
Wir haben noch viele andere falsche Sichtweisen bezüglich unserer Vergnügen und Annehmlichkeiten. Im allgemeinen denken wir beispielsweise, daß all unser Reichtum und Wohlstand das Ergebnis unseres eigenen Bemühens in diesem Leben ist. Wir glauben auch, daß das Glück, das wir erfahren, von uns selbst erzeugt wurde, während alles Leiden von anderen stammt. Aber auch diese Geisteshaltungen sind falsch.
Wir sollten erkennen, daß es zwei Arten von Ursachen für alle unsere Erfahrungen von Freud und Leid gibt. Die substantielle Ursache für jede unserer Erfahrungen wurde in einem vergangenen Leben oder früher im jetzigen Leben erzeugt, während die notwendigen Bedingungen, die in diesem Leben auftauchen, die beitragende Ursache sind, um die substantielle Ursache zur Reife zu bringen. Es ist wahr, daß ein reicher Mann wirklich sehr hart in diesem Leben gearbeitet haben mag, aber die Arbeit, die er leistet, ist nur die beitragende Ursache für seinen Reichtum. Die hauptsächliche, substantielle Ursache dafür, daß er ein reicher Mann wurde, war seine Praxis des Gebens in einem früheren Leben. Buddha lehrte, daß die Hauptursache von Glück in diesem Leben unsere Praxis von Tugend in vergangenen Leben ist. Genauso ist das Leiden, das wir jetzt erfahren, ein Ergebnis der Nichttugend, die wir in früheren Leben begangen haben.
Wie wichtig die entsprechende substantielle Ursache ist, kann folgendermaßen illustriert werden: Zwei Brüder entscheiden unabhängig voneinander, in das gleiche Geschäft einzusteigen, und sie eröffnen zwei getrennte Läden. Obwohl sie von den gleichen Eltern aufgezogen wurden, die gleiche Ausbildung erhalten und ihr Geschäft mit dem gleichen Investitionskapital begonnen haben usw., hat der eine Bruder großen Erfolg und wird reich, während der andere großen Schwierigkeiten begegnet und bankrott geht. Dies ist nur ein einfaches Beispiel, aber wir alle kennen ähnliche Situationen aus unserer eigenen Erfahrung. Was ist der Grund für diese unterschiedlichen Ergebnisse? In unserem Beispiel haben beide Brüder die gleichen beitragenden Ursachen geschaffen, um reich zu werden. Warum aber war der Ausgang so verschieden? Der Grund dafür ist, daß die Hauptursache für Erfolg - in diesem Fall die Praxis des Gebens, die zu zukünftigem Reichtum führt - nur von einem der Brüder erzeugt wurde. Wenn dem anderen Bruder diese Ursache, ein ungereifter Same in seinem Bewußtsein, fehlt, wird er nicht reich werden, gleichgültig wie hartnäckig er es auch versucht.
Auch die Erfahrung von Leiden hat substantielle und beitragende Ursachen. Nehmen wir beispielsweise an, eine Person mit einem Verdauungsproblem wird krank und erfährt körperliches Leiden. Wiederum: ihr Leiden ist aus zwei Gründen entstanden. Die beitragende Ursache war, daß die eingenommene Nahrung nicht richtig verdaut wurde. Aber die substantielle Ursache war eine nichttugendhafte Handlung, die sie früher begangen hatte. Diese Handlung setzte in ihrem Geist den Samen, dieses Leiden zu erfahren, wenn sie auf die entsprechenden Umstände treffen würde. Wenn diese Person die nichttugendhafte Handlung nicht begangen und somit die entsprechende substantielle Ursache nicht geschaffen hätte, würde sie dieses Leiden niemals erfahren, selbst wenn sie Nahrung essen würde, die anderen Verdauungsstörungen bereitet. Sie würde wie der Pfau sein, der giftige Pflanzen ißt und, statt davon krank zu werden, nur noch stärker wird. Auch wenn sie an sich bedeutungslos sind, dienen diese Beispiele dazu, die Tatsache zu verdeutlichen, daß all unser Glück und Leiden aus einer Kombination von beitragenden Ursachen in diesem Leben und substantiellen Ursachen aus früheren Leben entsteht.
Shantideva