Geshe Kelsang Gyatso

Sinnvoll zu betrachten


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unser Geist fehlgeleitet, und wir hindern uns selbst daran, eine korrekte Sicht der Wirklichkeit zu erlangen. Als Ergebnis wird sich unsere Unwissenheit vergrößern und uns dazu verleiten, immer mehr schädliche Handlungen mit Körper, Rede und Geist zu begehen. Wenn wir uns an diese abergläubischen, wahrheitsverneinenden Sichtweisen klammern, können sehr machtvolle negative Samen in unserem Geist gesät werden. Eine aus solchen Samen entstehende mögliche Auswirkung ist, daß wir große Schwierigkeiten erfahren, wenn wir später versuchen, Dharma zu studieren oder zu meditieren.

      Manche Leute haben überhaupt keine Begabung für den Dharma; sie lehnen engstirnig alles ab, was einen spirituellen Geschmack hat. Auch ein solches Verhalten ist das Resultat des Festhaltens an falschen Sichtweisen in vorangegangenen Leben. Außerdem gibt es bestimmte Länder, in die spirituelle Unterweisungen niemals vordringen. Solch eine verbreitete Abwesenheit des Dharmas ist das kollektive Ergebnis vergangener nichttugendhafter Handlungen der Menschen, die jetzt in diesem Land wiedergeboren wurden. Auf diese Weise sind Mißgeschick und Unglück das Ergebnis negativer Neigungen des Geistes, sei es als Erfahrung von Einzelnen oder von Gruppen.

      Alle nichttugendhaften Handlungen, ob sie nach innen oder nach außen gerichtet sind, verunreinigen unseren Geist. Wenn wir also Realisationen bezüglich irgendeines Aspektes des Dharmas entwickeln wollen, ist es notwendig, unsere Nichttugend so weit wie möglich zu reinigen. Bevor ein schmutziger Topf als Gefäß für ein köstliches Getränk benutzt werden kann, muß er gründlich gereinigt werden; andernfalls wird das Getränk verunreinigt und damit ungenießbar. Oder anders gesagt, wenn wir unseren Geist nicht von seinen Verunreinigungen befreien, wird der sonnengleiche Bodhichitta nicht in ihm aufgehen können. Wenn es uns andererseits gelingt, unsere Nichttugend zu reinigen und einen großen Schatz an Verdiensten anzusammeln, dann können wir tiefe Realisationen erlangen, sogar von einem solch schwierigen Objekt wie der tiefgründigen Sicht der endgültigen Wirklichkeit (dem Thema des neunten Kapitels), auch ohne ausführliche Dharma-Unterweisungen erhalten zu müssen.

      An dieser Stelle ist es vielleicht hilfreich, über die verschiedenen Grade der Nichttugend zu sprechen. Manche Menschen denken, daß die Nichttugend, ein kleines Insekt zu töten, unbedeutend sei, verglichen mit dem Töten eines großen Tieres. Die bloße Größe des Opfers ist jedoch nicht zwangsläufig das wesentliche Kriterium für die Schwere unserer Taten. Der Unterschied zwischen großer und kleiner Nichttugend wird durch die wechselseitigen Beziehungen von vier Faktoren bestimmt: Objekt, Zeit, Handlung und Geist. Das schwerste nichttugendhafte Karma wird verursacht, wenn das Objekt unserer nichttugendhaften Handlung ehrwürdig und es wert ist, respektiert zu werden. Solche Objekte sind unter anderem Wesen von heiligem Charakter wie ein Buddha, ein Bodhisattva, ein Arhat (jemand, der persönliche Befreiung erlangt hat), ein Sangha-Mitglied, ein Lehrer oder unsere Eltern. Bezüglich der Zeit steigt die Schwere der nichttugendhaften Handlung, wenn sie an Tagen begangen wird, die für religiöse oder spirituelle Belange oder für das Ablegen von Gelübden bestimmt sind. Die Art, wie die nichttugendhafte Handlung ausgeführt wird, beeinflußt ebenfalls ihre Schwere. Ein anderes Wesen langsam zu töten und ihm große Schmerzen zuzufügen ist beispielsweise eine schwerwiegendere Handlung, als ihm kurz und schmerzlos das Leben zu nehmen. Letztlich bestimmt in hohem Maße auch der Geisteszustand, mit dem wir eine nichttugendhafte Handlung ausführen, die Schwere der Folgen, die aus der Handlung entstehen. Ein Geist, der sehr stark durch Wut motiviert ist und sich an Handlungen erfreut, die andere verletzen, ist ein außerordentlich böser Geist, und die angesammelte Nichttugend ist dementsprechend groß. Je mehr dieser vier negativen Merkmale in einer Handlung enthalten sind, um so schädlicher wird die angesammelte Nichttugend sein.

      Wie zuvor erklärt, werden Handlungen nichttugendhaft oder unwissend genannt, wenn sie zu zukünftigem Leiden führen. Es gibt drei verschiedene Auswirkungen, die die möglichen leidvollen Resultate einer bestimmten nichttugendhaften Handlung bilden. Die erste, die vollständig gereifte Auswirkung einer Handlung, ist die Art der zukünftigen Wiedergeburt, in die wir durch das Reifen des Samens geworfen wurden, den wir durch diese Handlung gesät haben. Wenn wir beispielsweise jemanden töten und die vier Bedingungen von Objekt, Zeit, Handlung und Geist entsprechend schwer sind, können wir eventuell in einem Höllenbereich wiedergeboren werden. Je weniger schwer diese Bedingungen sind, um so «höher» der Bereich, in dem wir wiedergeboren werden. Das zweite Resultat einer nichttugendhaften Handlung ist als Auswirkung bekannt, die der Ursache ähnlich ist. Die spezifischen Qualen eines Lebens voller Krankheiten und der grausame und sadistische Charakter eines Kindes sind Beispiele für die zweite Art von Auswirkung, die aus der nichttugendhaften Handlung eines Mordes folgt. Die letzte Auswirkung unserer nichttugendhaften Handlungen ist schließlich die Umweltauswirkung. Der Ort, an dem wir unser Leben verbringen müssen, wird als Resultat unserer in unserem Geist getragenen Neigung zu töten, sehr ungastlich, karg und gefährlich sein, sei es, daß wir in einem der drei niederen Bereiche wiedergeboren werden oder wieder eine menschliche Wiedergeburt erlangen. Die gleichen drei Arten von Auswirkungen gelten auch für alle anderen nichttugendhaften Handlungen.

      Wie Shantideva im oberen Abschnitt betont, entsteht alles Leiden und alle Enttäuschung, die wir in den verschiedenen Bereichen Samsaras erfahren, aus unserer Nichttugend. Wenn wir durch die Kraft solcher Nichttugend als Hund wiedergeboren werden, was können wir dann tun? Fischer mögen heute bereit sein, den Fischen das Leben zu nehmen, aber wie wird es ihnen ergehen, wenn sie morgen selbst als Fische geboren werden? Unsere gegenwärtige menschliche Form besitzt nichts Dauerhaftes, und niemand kann sagen, wann der Tod kommen wird. Es kann sogar heute sein. Wenn wir Bedauern für unsere vergangene Nichttugend empfinden, müssen wir sofort ein Gegenmittel gegen dieses tödliche Gift finden. Alle unsere schlechten Taten müssen jetzt zugegeben werden.

      Wir sollten uns davor hüten zu denken, daß wir die Reinigung unserer negativen Handlungen auf einen späteren Zeitpunkt schieben können. Der Tod ist unberechenbar und kann jederzeit vor uns auftauchen. Der Herr des Todes berücksichtigt nicht, ob sein Opfer Nichttugend gereinigt hat oder nicht. Er kann nicht zum Warten gezwungen werden und akzeptiert keine Entschuldigungen. Wenn der Tod sich plötzlich nähert, wird es uns nichts nützen zu sagen: «Ich ernähre eine Familie, du mußt später wiederkommen», oder «Ich bin noch sehr jung, komm in ein paar Jahren wieder», oder «Bitte laß mich noch ein wenig länger leben». Das ist alles vergeblich. Der Herr des Todes ist kompromißlos.

      Wenn plötzlicher Wind aufkommt, kann eine Kerze, die groß genug ist um stundenlang zu brennen, schon nach wenigen Minuten erloschen sein. Während ein kranker und alter Mann hartnäckig noch für viele Jahre am Leben festhält, können die jungen Leute um ihn herum einer nach dem anderen sterben. Wir alle werden sterben, und wer kann garantieren, daß der Tod nicht schon morgen kommt oder sogar heute?

      In Tibet lebte einmal ein Astrologe, der für seine außergewöhnliche Fähigkeit berühmt war, die Zukunft vorhersagen zu können. Eines Tages beschloß er herauszufinden, wann sein eigenes Leben zu Ende sein würde. Er nahm seine Bücher und Karten heraus und begann seine Berechnungen. Zu seiner Überraschung entdeckte er, daß er just an diesem Tag sterben sollte! «Das ist äußerst seltsam», sagte er zu sich. «Ich möchte wissen, ob ich nicht einen Fehler in meinen Berechnungen gemacht habe. Sicherlich werde ich nicht heute sterben. Ich bin bei bester Gesundheit.» Während er so grübelte, lehnte er sich zurück, zog seinen Pflegebeutel aus der Tasche und begann mit einem nadelähnlichen Stück Metall, das er für diesen Zweck mit sich trug, sein Ohr zu säubern. «Ich frage mich, wo ich den Fehler gemacht habe», dachte er geistesabwesend und fuhr fort, sich in seinem Ohr zu kratzen. Da blies eine plötzliche Windböe das Fenster auf, gegen das er sich gelehnt hatte, und sein Arm wurde dabei so heftig getroffen, daß das Stück Metall durch sein Trommelfell in sein Gehirn gestoßen und er auf der Stelle getötet wurde. Wer kann nun also sicher sein, daß der Tod nicht schon bald kommt?

      Im Lichte dieser Unsicherheit müssen wir unsere Nichttugend sofort reinigen. Es gibt viel mehr Umstände, die uns den Tod bringen können, als solche, die unser Leben fördern. Wie können wir voller Zuversicht erwarten, eine normale Lebensspanne leben zu können, während überall um uns herum Menschen durch Unfälle, Krieg und Krankheit sterben? Durch das Nachdenken über die alltäglichen Beispiele, die wir in den Nachrichten finden, sollten wir über die Unsicherheit des Todeszeitpunktes meditieren.

      Denken