seine Unterweisung und die Demonstration von übernatürlichen Kräften. Kurz danach entbrannte ein Streit um die Unterweisung. Die Pandits aus Kaschmir behaupteten, daß Shantideva nur neun Kapitel gelehrt hätte, während einige Gelehrte aus Magadha, die ein besonders gutes Erinnerungsvermögen besaßen, argumentierten, daß er eigentlich zehn Kapitel gelehrt hätte. Es wurde beschlossen, daß man diese Uneinigkeit nur durch ein abermaliges Hören der Unterweisung bereinigen könne. Deshalb verließen mehrere Mönche Nalanda, um denjenigen zu suchen, den sie einmal verachtet hatten, und baten um eine Wiederholung der Abhandlung. Shantideva erfüllte diese Bitte und gab ihnen zudem den Text seines Handbuches der Schulungen (Skrt. Shikshamuchchaya); darin sind ebenfalls die Übungen eines Bodhisattvas erläutert. Seit dieser Zeit blühten das Studium und die Praxis der Schriften Shantidevas in Indien und anderen Ländern mahayanabuddhistischer Ausrichtung.
Der Ruhm Shantidevas verbreitete sich immer weiter, und viele nichtbuddhistische Lehrer wurden neidisch. Einer ihrer größten Lehrer, Shankadeva, forderte Shantideva zu einer Debatte heraus, mit der Bedingung, daß der Verlierer seine eigene Lehre zugunsten derjenigen des Gewinners aufgeben müsse. Durch seine übernatürlichen Kräfte und seine unfehlbare Logik ging Shantideva als Gewinner hervor. So wurden Shankadeva und alle seine Anhänger Buddhisten.
Bei einer anderen Gelegenheit, als eine große Hungersnot in Südindien herrschte, gab Shantideva bekannt, daß er große Freigebigkeit zeigen wolle. Am nächsten Tag versammelten sich viele Menschen, um zu sehen, was er machen würde, und Shantideva stillte den Hunger der gesamten Menschenmenge mit einer einzigen Schale Reis! So entwickelten die Ortsansässigen großes Vertrauen in Shantideva und nahmen die buddhistische Lebensweise an.
Dies war nur eine kurze Biographie des großen Bodhisattvas Shantideva, der sein ganzes Leben lang zahllose Handlungen ausführte, um den Dharma zu verbreiten und fühlenden Wesen zu helfen. Auch heute noch können Menschen, die das Glück haben, seine herausragenden Texte zu lesen, zu studieren und darüber zu meditieren, in ihnen eine Quelle großer Einsicht und Hilfe finden.
EINE EINLEITUNG ZUM TEXT
Wie ist Shantidevas Leitfaden zusammengesetzt, und was ist sein Inhalt? Er besteht aus zehn Kapiteln, und wir sollten uns sehr bemühen, die Bedeutung jedes einzelnen dieser Kapitel zu verstehen. Sonst gleichen wir dem Dummkopf, der von seiner Familie in einen Laden geschickt wurde, um zu schauen, was es dort zu kaufen gab. Als er nach Hause zurückkehrte und gefragt wurde, was erhältlich sei, mußte er antworten: «Ich weiß es nicht. Ich hab's vergessen.» Sein Gang zum Laden war eine reine Zeitverschwendung. Ähnlich sollten wir uns schämen, wenn wir uns nach dem Durcharbeiten dieses Textes nicht daran erinnern können, was in jedem einzelnen Kapitel enthalten ist. Wenn sich das Studium dieses Textes lohnen und keine reine Zeitverschwendung sein soll, dann sollten wir nicht nur die Worte lesen, sondern uns auch sehr bemühen, ihre Bedeutung zu verstehen.
Es folgt jetzt eine kurze Beschreibung, was jedes einzelne der zehn Kapitel des Urtextes zum Inhalt hat.
1. KAPITEL
Das endgültige Ziel der buddhistischen spirituellen Praxis ist die Erlangung des voll erwachten Geisteszustandes. Dieser vollkommene Zustand, der als Erleuchtung, Buddhaschaft oder das höchste Nirvana bekannt ist, kann von jedem erreicht werden, der die groben und subtilen Behinderungen, die seinen Geist bedecken, entfernt und die positiven geistigen Qualitäten voll entwickelt. Wir können diesen voll erwachten Zustand aber nicht erreichen, wenn wir nicht zuerst Bodhichitta, den Erleuchtungsgeist, entwickeln. Was ist Bodhichitta? Es ist der ununterbrochene und spontane Geisteszustand, der unablässig die Erlangung dieser vollkommenen Erleuchtung anstrebt, einzig zum Wohl aller Lebewesen. Wie später im Kommentar erläutert wird, wird Bodhichitta entwickelt, indem der Geist durch eine von zwei Methoden aufgebaut wird: entweder durch die Praxis der siebenfachen Ursache und Wirkung (auf der Erinnerung an die Mutterliebe beruhend) oder durch das Austauschen vom Selbst mit anderen.
Um diesen kostbaren Bodhichitta zu entwickeln, müssen wir gründlich über seine zahlreichen Vorteile nachdenken. Ein Geschäftsmann wird sich sehr anstrengen, um einen Handel abzuschließen, wenn er erkennt, daß er dabei einen großen Profit erzielen wird. Genauso werden wir ständig bemüht sein, Bodhichitta zu entwickeln, wenn wir seine zahlreichen Vorteile erkennen. Aus diesem Grund besteht das erste Kapitel aus einer ausführlichen Erklärung dieser Vorteile.
2. KAPITEL
Wenn wir Bodhichitta entwickeln wollen, müssen wir alle Hindernisse zerstören, die sein Wachstum behindern, sowie die notwendigen Voraussetzungen für seine Entwicklung zusammenbringen. Das Haupthindernis für die Entwicklung von Bodhichitta ist Negativität. Sie wird definiert als das, was das Potential besitzt, die Frucht des Leidens zu verursachen. Da wir durch die nichttugendhaften Handlungen, die wir in der Vergangenheit ausgeführt haben, eine große Ansammlung dieser leidverursachenden Tendenzen haben, fällt es uns außerordentlich schwer, den kostbaren und tugendhaften Gedanken des Bodhichittas zu erzeugen.
Wo giftige Pflanzen in großer Menge wachsen, kann unmöglich der Samen einer Heilpflanze sprießen. Genauso wird der tugendhafte Gedanke der Erleuchtung nicht in einem Geist entstehen, der vom Unkraut der Nichttugend überwuchert ist. Deshalb erklärt Shantideva im zweiten Kapitel seines Leitfadens, wie man den Geist für die Entwicklung dieser höchst altruistischen Geisteshaltung vorbereitet. Das geschieht, indem man alles, was potentiell ihr Wachstum behindert, ausmerzt. Die Reinigung der Negativität wird erreicht, indem die angesammelte Nichttugend aufgedeckt und dann durch die Anwendung der vier in diesem Kapitel erläuterten Gegenkräfte ausgemerzt wird.
3. KAPITEL
Die Reinigung der Negativität allein genügt aber nicht für unseren Zweck. Wir müssen außerdem eine große Menge an Verdiensten, d.h. positive potentielle Energie, ansammeln, und das wird durch die Praxis der Tugend erreicht. Genauso, wie es für einen Bettler nicht angemessen wäre, einen König an einem dreckigen und vernachlässigten Ort zu empfangen, so ist es unmöglich für einen Geist, dem es an Verdiensten mangelt, den kostbaren Bodhichitta, den König aller Gedanken, zu empfangen. Wer diesen verehrten Gast in seinem Geist empfangen möchte, muß zuerst eine große Menge an verdienstvoller, positiver geistiger Energie erwerben. Dann ist es möglich, den kostbaren Erleuchtungsgeist zu entwickeln und zu bewahren. Deshalb erklärt Shantideva im dritten Kapitel, wie man Bodhichitta erlangt und ihn bewahrt.
4. KAPITEL
Nachdem wir den kostbaren Bodhichitta entwickelt haben, müssen wir verhindern, daß er abnimmt. Dies gewährleisten wir durch das gewissenhafte Ausüben tugendhafter Handlungen mit Körper, Rede und Geist. Diese Gewissenhaftigkeit ist das Thema von Shantidevas viertem Kapitel.
5. KAPITEL
Haben wir Bodhichitta entwickelt und dann durch Gewissenhaftigkeit gefestigt, müssen wir danach streben, diesen Geist zur vollen Reife zu bringen: der vollkommenen Erleuchtung. Das wird durch das Ablegen der Bodhisattva-Gelübde und durch die Praxis der Sechs Vollkommenheiten erreicht. Im allgemeinen wird die erste Vollkommenheit, Geben, als erstes erklärt. Im vorliegenden Text erläutert Shantideva jedoch das Geben im zehnten und letzten Kapitel zusammen mit der Widmung. Der Grund dafür ist, daß Geben oder Großzügigkeit ein Teil der allgemeinen Widmung ist, die das Geben von allem Guten und Schönen im Universum an alle Lebewesen beinhaltet. Deshalb beginnt Shantideva seine Abhandlung mit der Vollkommenheit, die im allgemeinen als zweites dargelegt wird, mit der Praxis der moralischen Disziplin, in einem Kapitel mit dem Titel «Wachsamkeit».
6. BIS 10. KAPITEL
Jedes der verbleibenden Kapitel beschreibt eine der Sechs Vollkommenheiten. Die Kapitel sechs bis acht beschreiben Geduld, Bemühen und Konzentration, während Kapitel neun einer ausführlichen Erklärung von Weisheit oder unterscheidendem Gewahrsein gewidmet ist. Wie schon erwähnt, behandelt das zehnte Kapitel das Geben und die Widmung der Verdienste. Die Entwicklung von Bodhichitta findet in drei Stufen statt. Die zehn Kapitel von Shantidevas Text beschreiben