getan, noch Sie provoziert oder beleidigt. Ja, genau genommen hatte ich ja noch nicht einmal die Möglichkeit, überhaupt ein Wort zu sagen, da haben Sie mich schon angegriffen!“ Er betastete seinen Hals, insbesondere die Gegend um den Adamsapfel. „Glauben Sie mir, wenn ich nicht so verzweifelt wäre, ich wäre schon weg. Davon abgesehen ...“ Er räusperte sich. „Ein Bekannter hat Sie mir empfohlen, den Sie offenbar nicht so traktiert haben.“
„Darf ich fragen, wer dieser Bekannte ist?“
„Frank Meier. Besser bekannt als Paul Pauke.“
Berringer nickte. „Ja, da klingelt’s bei mir.“
Frank Meier trat unter dem Namen Paul Pauke als Partysänger in den Clubs von Mallorca auf und hatte unter den Nachstellungen einer Stalkerin gelitten, bis Berringer dem ein Ende gesetzt hatte.
Marwitz wurde etwas lockerer. „Ich war es ja, der Paul Pauke dazu überredet hat, auch in Deutschland aufzutreten. Schließlich gibt es genügend Leute, die ihre Urlaubserinnerungen von der Sonneninsel in der Heimat gern wieder auffrischen lassen, und wo immer wir zusammen aufgetreten sind, sind wir auch hervorragend angekommen. Und ... nun, wenn Sie nicht gewesen wären, würde diese Spinnerin Paul noch immer belästigen. Aber Sie haben genug Beweise sammeln können, um sie schließlich juristisch an den Eiern zu kriegen und ...“ Marwitz stockte. Offenbar war ihm die Absurdität seines Sprachbilds selbst aufgefallen. „Also, Sie wissen schon, was ich meine.“
„Klar“, sagte Berringer.
„Wussten Sie, dass Paul Pauke wegen dieser Verrückten schon fast so weit war, die Auftritte in Deutschland abzublasen?“
Berringer nickte. „Ja, das hat er mir gesagt, und ich habe ihm damals erklärt, dass ihm das sehr wahrscheinlich nichts nützen würde, weil dieser Täter-Typ notfalls auch den letzten Cent dafür ausgibt, dem Opfer zu folgen. Oder in diesem Fall Dauerurlaub auf Mallorca zu machen.“
„Nun, jedenfalls hat mir Paul Pauke so ziemlich alles erzählt, was Sie für ihn getan haben, und ich bin natürlich froh, dass er weitermacht und ich ihn weiterhin als Party-Act in hiesigen Discos einsetzen kann. Na ja, daher wusste ich auch, dass Sie bei der Polizei waren und auf Ihrem Gebiet wirklich gut sind. Mein Problem ist ja so ähnlich wie das von Pauke. Nur, dass diese Stalkerin nicht versucht hat ihn umzubringen.“ Während Marwitz redete, hatte er wieder sein Feuerzeug hervorgezogen und spielte damit herum. Wie ein Taschenspieler ließ er es durch die Finger wandern, bis es ihm zu Boden fiel. Dabei bewegte sich der Mund des Event-Managers unablässig, er machte nicht einmal eine Komma-Pause, auch nicht, als er sich nach vorn beugte, um das Feuerzeug wieder vom Boden aufzunehmen, woraufhin er anfing, damit herumzuklicken.
Berringer spürte, wie sich wieder Schweiß auf seiner Stirn bildete. „Hören Sie auf damit!“, unterbrach er Marwitz so barsch, dass sich dagegen jeder Unteroffizier morgens auf dem Kasernenhof wie ein säuselnder Sozialpädagoge ausnahm.
„Wie ...?“, fragte Marwitz.
„Tun Sie besser, was er sagt“, bat Vanessa und verdrehte genervt die Augen.
Marwitz blickte auf sein Feuerzeug, runzelte die Stirn und steckte es ein. „Seitdem man versucht, mich umzubringen, rauche ich wieder, obwohl ich es seit meinem Engagement beim Shopping-Sender drangegeben hatte, weil es die Haut ruiniert. Aber dass Sie so ein militanter Nichtraucher sind, Herr Berringer ...“
„Der Reihe nach“, unterbrach ihn Berringer. „Wenn Sie schon wissen, dass ich bei der Polizei war, dann sollten Sie auch wissen, warum ich den Dienst dort geschmissen hab. Vor ein paar Jahren ermittelte ich gegen das organisierte Verbrechen, und diese Schweinehunde haben sich an meiner Familie vergriffen. Meine Frau und mein Kind wurden in unserem Wagen in die Luft gesprengt. Ich habe mit angesehen, wie sie darin verbrannten. Ob die Gangster dachten, dass ich auch drin sitze, weiß ich nicht. Jedenfalls ...“
Als er stockte, führte Vanessa den Satz für ihn zu Ende: „... leidet er seitdem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.“
„Ich habe davon gehört“, erklärte Marwitz, und er sagte es in einem fast mitleidigen Tonfall. Genau deswegen erzählte Berringer normalerweise niemandem etwas davon.
Aber in diesem Fall ließ es sich nicht vermeiden. Schließlich hatte Marwitz ein Recht darauf zu erfahren, weshalb Berringer scheinbar grundlos auf ihn losgegangen war.
„Ich konnte nicht länger bei der Polizei bleiben. Es ging einfach nicht“, sagte Berringer, „und deswegen habe ich damals den Dienst quittiert.“
„Ich verstehe. Wie bei den Afghanistan-Soldaten, die erlebt haben, wie ihre Kameraden in die Luft gesprengt wurden.“
„So ähnlich“, bestätigte Berringer. „Als Sie plötzlich mit dem Feuerzeug herumspielten, hat es in mir ausgesetzt. Normalerweise habe ich das im Griff. Diesmal war’s leider nicht so. Ich kann nur nochmals versichern, wie leid mir das tut – aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass es nicht wieder geschieht, wenn Sie hier unbedingt den Feuerteufel spielen wollen. Wenn Sie jetzt denken, dass ich vielleicht doch nicht der Richtige wäre, um Ihr Problem zu lösen, dann hätte ich Verständnis dafür und Sie sollten sich jemand anderen suchen.“ Marwitz zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sagen, Sie haben das im Griff ...“ Er warf einen Blick auf das Feuerzeug in seiner Hand und ließ es dann schnell in seiner Hosentasche verschwinden. „Paul Pauke haben Sie ja auch helfen können.“
„Gut, dann wird Ihnen Vanessa mal unsere aktuelle Preisliste raussuchen, damit Sie wissen, was finanziell auf Sie zukommt, wenn ich für Sie tätig werde.“
„Geld ist kein Problem“, behauptete Marwitz.
Vanessa hatte inzwischen ein Exemplar der Preisliste aus einer Schublade hervorgeholt und gab sie Marwitz, dessen Augenbrauen sich zunächst etwas zusammenzogen, dann aber nickte er. „Okay.“
„Nun erzählen Sie mal, worum es geht“, forderte Berringer.
Marwitz atmete tief durch und bewegte nun nervös den großen Zeh, der sich durch das weiche Leder seines spitz zulaufenden Schuhs drückte. Auch der Schuh bewegte sich ein wenig, und das erzeugte ein nerviges leises Geräusch.
Der Mann ist vollkommen fertig, dachte Berringer, der allmählich wieder eine Antenne für seine Umgebung bekam. Eigentlich waren die genaue Beobachtungsgabe und die instinktsichere Interpretation von Kleinigkeiten in Mimik, Gestik, Körpersprache und Tonfall eine seiner Stärken. Er konnte Personen sehr schnell und sehr sicher einschätzen, und gerade seit er als privater Ermittler tätig war und ihm der erkennungsdienstliche Apparat der Düsseldorfer Polizei nicht mehr zur Verfügung stand (auf jeden Fall nicht mehr in gleicher Weise wie früher), war er auf diese Fähigkeit mehr denn je angewiesen.
Allerdings gab es gewisse Momente, in denen sie vollkommen aussetzten. Und einer dieser Momente war gewesen, als er Marwitz angegriffen hatte. Dann war er ein Gefangener der Vergangenheit und seine Gedanken nur auf diesen einen Augenblick konzentriert, an dem sich für ihn alles verändert hatte. Nichts war so geblieben, wie es war. Es gab ein Leben davor und eines danach, und beide hatten nicht allzu viel miteinander zu tun.
Konzentrier dich auf das Hier und Jetzt!, ermahnte er sich. Laut der Anzeige an deinem Rechner ist es 12 Uhr 29. Du sitzt in deinem Büro im Stadtteil Bilk einem Klienten gegenüber, der sich trotz der abschreckenden Geschichten, die du über dich selbst kundgetan hast, noch von dir helfen lassen will, was wohl nur bedeuteten kann, dass ihm niemand anderes helfen kann oder will.
Die Vergegenwärtigung der Realität anhand von fassbaren Details war eine Strategie, die von Psychologen empfohlen wurde, um ein Trauma unter Kontrolle zu halten. Es sollte verhindern, dass ein Geruch, ein Geräusch, ein Lichtreflex oder irgendetwas anderes sonst als Trigger wirkte und man wieder anfallartig in den Moment versetzt wurde, in dem das traumatisierende Ereignis stattgefunden hatte. Ganz verhindern ließ es sich nicht. Der Körper hatte sein eigenes Gedächtnis, so hatte man es Berringer erklärt. Ein Gedächtnis, das sich vom Gehirn wenig vorschreiben ließ und in der Lage war, sich an eine Raumtemperatur bis auf ein Zehntel Grad genau zu erinnern – um damit einen Anfall auszulösen.