Лев Толстой

Der Gefangene im Kaukasus


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Ende nicht abzusehen war. Doch der Nebel begann sich zu zerteilen und bildete Wolken, so daß die Sterne unsichtbar wurden und Schilin sich nicht mehr danach zu orientieren wußte. Am Wege fanden sie eine kleine Quelle, welche mit einem Stein bedeckt war. Schilin machte dort halt und setzte Kostylin ab.

      »Ich muß mich etwas ausruhen und trinken! Wir können nicht mehr weit haben.«

      Er beugte sich zur Erde nieder, um zu trinken. Plötzlich horchte er; er vernahm deutlich ein Geräusch, das sich in der Richtung, von wo sie gekommen waren, näherte. Wieder eilten sie nach rechts ins Dickicht, den Abhang hinab und verbargen sich darin, aufmerksam horchend. Bald hörten sie tatarische Laute. An derselben Stelle, an der sie vom Wege abgewichen waren, hielten mehrere Tataren. Sie sprachen miteinander und hetzten ihre Hunde auf die Suche. Schilin hörte ein Knistern im Gebüsch; ein fremder Hund stürzte gerade auf sie zu, hielt an und begann zu bellen.

      Die Tataren folgten ihm nach. Es waren unbekannte Tataren. Die Flüchtigen wurden ergriffen, gebunden, auf die Pferde gesetzt und in raschem Trab davongeführt.

      Nachdem sie auf diese Weise etwa drei Werst zurückgelegt hatten, begegnete ihnen Abdul in Begleitung von zwei anderen Tataren. Die Reiter wechselten einige Worte miteinander. Die Gefangenen wurden auf die Pferde von Abduls Begleitern gesetzt und in den Aul zurückgeführt.

      Abdul lachte nicht mehr und sprach auch kein Wort mit ihnen. Gegen Morgen kamen sie im Aul an. Die Gefangenen wurden auf die Straße abgesetzt. Kinder liefen herbei, schlugen mit Peitschen nach ihnen, bewarfen sie mit Steinen und erhoben ein wildes Geschrei.

      Die Dorfbewohner bildeten einen Kreis um sie, auch der Alte vom Berge war hinzugekommen. Lebhaft verhandelten sie miteinander. Schilin hörte, daß sie berieten, was mit den Gefangenen geschehen sollte: Die einen rieten, man müsse sie weiter in die Berge führen, der Alte blieb hartnäckig bei seiner Ansicht, man müsse sie töten.

      Abdul widersprach. »Ich habe Geld für sie bezahlt«, sagte er, »und muß das Lösegeld für sie bekommen.«

      Der Alte aber wiederholte: »Gar nichts werden sie bezahlen, sondern nur Unheil anrichten! Es ist eine Sünde, Russen zu füttern. Totgeschlagen müssen sie werden, und damit abgemacht!«

      Die Versammlung ging auseinander. Abdul trat zu Schilin und sagte zu ihm: »Wenn man nicht binnen zwei Wochen das Lösegeld für euch schickt, so lasse ich euch zu Tode peitschen, und wenn Du es noch einmal wagst, zu fliehen, so erschlage ich Dich wie einen Hund! Jetzt schreib noch einmal einen Brief, das rate ich Dir.«

      Man brachte ihm Papier, er schrieb einen zweiten Brief. Danach wurden ihnen wieder Fußblöcke angelegt und beide hinter die Moschee geführt. Dort befand sich eine Grube von etwa zehn Fuß Tiefe; in diese ließ man sie hinab.

       VI.

      Von diesem Tage an führten die Gefangenen ein elendes Dasein. Die Fußblöcke wurden ihnen nicht mehr abgenommen, und sie auch nicht mehr aus der Grube hinausgelassen. Wie Hunden warf man ihnen unausgebackenes Brot zu. Wasser ließ man ihnen im Eimer herab. Die Luft in der Grube war schwer und feucht. Kostylin wurde ganz krank und litt an Rheumatismus am ganzen Körper. Den ganzen Tag über stöhnte oder schlief er. Auch Schilin wurde äußerst niedergeschlagen und war nahe daran, den Mut zu verlieren, da er keinen Ausweg mehr sah. Zwar hatte er wieder angefangen zu graben; doch fehlte es ihm an einem Platze, wohin er die ausgegrabene Erde hätte schütten können; auch wurde es Abdul gewahr und drohte ihm mit dem Tode.

      So saß er eines Tages, in schwermütige Sehnsucht nach der Freiheit versunken, als plötzlich gerade vor ihm ein Fladen auf seine Knie herabfiel, dann ein zweiter, und danach mehrere Kirschen. Überrascht schaute er nach oben und erblickte Dina, welche lachend über den Grubenrand herabblickte und dann davonlief.

      »Könnte nicht vielleicht Dina uns helfen?« dachte Schilin. Er machte sich eine kleine Stelle in der Grube frei, grub Lehm aus und begann, von diesem Material Puppen zu formen; er fabrizierte Menschen, Pferde, Hunde und so weiter. »Wenn sie wiederkommt, werde ich sie ihr zuwerfen«, dachte er.

      Aber Dina erschien am nächsten Tage nicht. Schilin hörte Hufschläge. Einige Reiter trabten vorüber. Die Tataren versammelten sich bei der Moschee, wo sie schrien und sich zankten unter lautem Schimpfen auf die Russen. Auch die Stimme des Alten war zu vernehmen, und wenn Schilin auch nicht alle einzelnen Worte verstand, so erriet er doch so viel, daß die Russen sich genähert hatten und die Tataren deren Eindringen in ihren Aul befürchteten. Sie berieten deshalb, was mit den Gefangenen geschehen sollte. Nach langem Reden gingen sie auseinander.

      Plötzlich vernahm Schilin ein Geräusch über sich. Als er den Blick nach oben richtete, sah er Dina auf den Fersen am Grubenrande sitzen, den Kopf zwischen die Knie gesenkt, so daß ihr Halsband über der offenen Grube hing. Ihre Augen leuchteten wie Sterne. Sie nahm aus ihrem Ärmel zwei Stück Käse und warf sie ihm zu. Schilin nahm sie und fragte dann: »Warum bist Du denn so lange nicht wiedergekommen? Ich habe Spielzeug für Dich gemacht. Hier nimm.«

      Damit warf er ihr ein Stück nach dem andern hinauf; aber sie schüttelte ablehnend mit dem Kopfe und sah die Puppen nicht einmal an.

      »Ich will sie nicht haben«, sagte sie. Schweigend saß sie dann noch eine Weile da.

      »Iwan, sie wollen Dich umbringen«, sagte sie dann und deutete mit der Hand nach der Kehle.

      »Wer will mich umbringen?«

      »Der Vater. Die Alten haben es ihm befohlen. Aber Du tust mir leid.«

      »Nun, wenn Du Mitleid mit mir hast«, sagte Schilin, »so reiche mir eine Stange herunter!«

      Kopfschüttelnd entgegnete sie: »Das geht nicht!«

      Er faltete die Hände. »Ich bitte Dich, Dina, bring mir doch eine Stange, Dinuschka!«

      »Es geht nicht!« wiederholte sie. »Alle sind jetzt zu Hause; sie würden es sehen.« Nach diesen Worten entfernte sie sich.

      In trübes Sinnen verloren saß Schilin am Abend desselben Tages. Oft blickte er nach oben. Die Sterne erschienen. Der Mond war jedoch noch nicht aufgegangen. Der Mullah hatte schon zum Gebet gerufen und alles ringsumher war still. Auch Schilin begann zu schlummern. »Dina fürchtet sich«, dachte er.

      Da plötzlich fühlte er etwas Erde auf sein Haupt fallen. Er blickte hinauf. Das Ende einer Stange wurde am Rande der Grube sichtbar. Dieselbe wurde weitergeschoben und senkte sich langsam herab. Freudig überrascht griff Schilin mit der Hand danach. Es war dieselbe starke Stange, welche er früher auf dem Dache von Abduls Haus bemerkt hatte. Wieder blickte er empor. Hoch am Himmel glänzten die Sterne und über der Grube sah er trotz der Dunkelheit Dinas Augen leuchten. Sie neigte ihr Gesicht über den Rand und flüsterte herab: »Iwan! Iwan!«

      Gleichzeitig aber machte sie ihm mit der Hand ein Zeichen, sich still und geräuschlos zu verhalten.

      »Was gibt's?« fragte Schilin möglichst leise.

      »Alle sind fort, nur zwei sind zu Hause geblieben.«

      »Nun, dann komm, Kostylin, steh auf! Wir wollen es zum letzten Mal versuchen! Ich werde Dich tragen!«

      Doch Kostylin wollte nichts davon hören.

      »Nein«, sagte er, »es ist mir nun einmal vom Schicksal bestimmt, daß ich diesen Ort nicht mehr verlassen soll! Wohin sollte ich auch gehen, da ich nicht einmal die Kraft habe, mich umzudrehen.«

      »Nun, dann leb wohl und gedenke meiner in Freundschaft.«

      Sie küßten sich zum Abschiede. Schilin umfaßte die Stange, hieß Dina dieselbe oben festhalten und kletterte hinauf. Zweimal fiel er wieder herunter; der Fußblock hinderte ihn am Klettern. Kostylin half nach und so gelangte Schilin endlich nach oben. Schließlich zog Dina selbst ihn mit allen Kräften ihrer Händchen am Hemdkragen heraus und lachte über das Gelingen freudig auf. Schilin zog hinter sich die Stange herauf und riet ihr: »Bringe sie schnell wieder an ihren früheren Platz, Dina! Wenn sie Dich hier überraschten, würden sie Dich schlagen!«

      Sie zog die Stange nach sich, während Schilin den Berg hinabeilte. Als er am Fuße angekommen war,