Лев Толстой

Kindheit


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und sehr befreundet mit Karl Iwanowitsch. Er brachte unsere Kleider und Schuhe: für Wolodja Stiefel, für mich immer noch die unausstehlichen Schuhe mit Schleifchen. In seiner Gegenwart hätte ich mich geschämt zu weinen, auch schien die Morgensonne so lustig durchs Fenster, und Wolodja, über die Waschschüssel gebeugt, ahmte Maria Iwanowna (die Gouvernante meiner Schwester) nach und lachte dazu so lustig und laut, daß sogar der ernste Nikolaj, der mit dem Handtuch über der Schulter, der Seife in der einen und dem Wasserkrug in der andern Hand neben ihm stand, lächelnd sagte:

      »Hören Sie doch auf, Wladimir Petrowitsch; bitte, waschen Sie sich!«

      Ich war ganz heiter geworden.

      »Sind Sie bald fertig?« ließ sich Karl Iwanowitsch aus dem Unterrichtszimmer vernehmen. Seine Stimme klang streng und hatte nicht mehr jenen Ausdruck von Güte, der mich zu Tränen gerührt hatte. Im Schulzimmer war Karl Iwanowitsch ein ganz andrer Mensch: dort war er Lehrer. Ich zog mich schnell an, wusch mich und folgte seinem Rufe noch mit der Bürste in der Hand, meine nassen Haare glättend.

      Karl Iwanowitsch saß, mit der Brille auf der Nase und einem Buche in der Hand, auf seinem gewöhnlichen Platze zwischen Tür und Fenster. Links von der Tür befanden sich zwei Bücherbretter: eines für uns Kinder, das andere für Karl Iwanowitsch – sein »eigenes«. Auf dem unsrigen standen Bücher jeder Art, Lehrbücher und Nichtlehrbücher, die einen aufrecht, die andern liegend. Nur zwei große Bände Histoire des voyages in rotem Einband lehnten würdevoll an der Wand; dann aber folgten lange, dicke, große, kleine Bücher, Deckel ohne Bücher und Bücher ohne Deckel; gewöhnlich wurde alles dort hineingestopft und -gedrückt, wenn es hieß, vor der Pause müsse die »Bibliothek« in Ordnung gebracht werden, wie Karl Iwanowitsch dieses bescheidene Bücherbrett hochtrabend nannte. Die Büchersammlung auf seinem Privatbrett war, wenn auch nicht so groß wie die unsere, so doch noch verschiedenartiger. Ich erinnere mich an drei Bücher: eine deutsche Broschüre über das Düngen von Kohlgärten – ohne Einband; einen Band der Geschichte des siebenjährigen Krieges – in Pergament, mit einer verbrannten Ecke; und ein vollständiges Lehrbuch der Hydrostatik. Karl Iwanowitsch verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit Lektüre und hatte sich dadurch sogar seine Augen verdorben, er las aber nichts andres als diese Bücher und »Die nordische Biene«.1

      Unter den Gegenständen, die auf dem Bücherbrett von Karl Iwanowitsch herumlagen, war einer, welcher ihn mir ganz besonders ins Gedächtnis ruft. Es war eine Scheibe aus Pappe in einem hölzernen Fuße, in dem sich die Scheibe durch kleine Zapfen bewegen ließ. Auf die Scheibe war ein Bild geklebt, welches die Karikatur irgend einer Dame und ihres Friseurs darstellte. Karl Iwanowitsch war sehr geschickt in Papparbeiten, und diese Scheibe hatte er selbst erfunden und zum Schutze seiner schwachen Augen gegen grelles Licht hergestellt.

      Heute noch sehe ich die lange Gestalt vor mir: in wattiertem Schlafrock und mit dem roten Käppchen, unter welchem spärliche graue Haare hervorschimmern. Er sitzt neben dem Tischchen, auf welchem die Scheibe mit dem Friseur steht und sein Gesicht beschattet; in einer Hand hält er ein Buch, die andere ruht auf der Armlehne des Sessels, und neben ihm liegt eine Uhr, auf deren Zifferblatt ein Jäger gemalt ist, ein kariertes Taschentuch, eine schwarze, runde Tabaksdose, ein grünes Brillenfutteral, eine Lichtputzschere mit Untersatz. All das liegt so sittsam und ordentlich auf seinem Platz, daß man aus dieser Ordnung allein schon schließen kann, daß Karl Iwanowitsch ein reines Gewissen und Seelenfrieden besitzt.

      Zuweilen, wenn ich mich unten im Saal nach Herzenslust ausgetollt hatte, stahl ich mich auf den Fußspitzen hinauf ins Unterrichtszimmer und beobachtete Karl Iwanowitsch, wie er gemütlich in seinem Lehnstuhl saß und mit ruhig erhabenem Gesichtsausdruck irgend eines seiner Lieblingsbücher las. Manchmal traf ich ihn auch in solchen Momenten, wo er nicht las: die Brille saß dann tiefer auf der großen Adlernase, die blauen, halbgeschlossenen Augen hatten einen ganz eigenen Ausdruck, und die Lippen lächelten traurig. Im Zimmer ist's still; man hört nichts als gleichmäßiges Atmen und das Ticken der Uhr mit dem Jäger.

      Er bemerkte mich manchmal nicht, ich aber stand an der Tür und dachte: »Armer, armer alter Mann! Unsrer sind viele, wir spielen, wir sind lustig, aber er – ist ganz, ganz allein, und niemand liebkost ihn. Er hat recht, wenn er sich eine Waise nennt. Und seine Lebensgeschichte ist so traurig! Ich erinnere mich, wie er sie einmal Nikolaj erzählte. Es ist schrecklich, in seiner Lage zu sein!«

      Und so leid tat er mir dann, daß ich zuweilen an ihn herantrat, seine Hand faßte und sagte: »Lieber Karl Iwanowitsch!« Er hatte es gern, wenn ich so zu ihm sprach; er liebkoste mich dann immer, und ich sah's ihm an, daß er gerührt war.

      An der andern Wand hingen Landkarten, fast alle zerrissen, aber von Karl Iwanowitsch kunstvoll unterklebt. An der dritten Wand, in deren Mitte sich die nach unten führende Tür befand, hingen an einer Seite zwei Lineale: ein stark abgenutztes – das unsere, und ein neues – das »eigene«, das mehr zur Anspornung unsres Fleißes als zum Linieren diente; an der andern Seite eine schwarze Tafel, auf welche unsere großen Vergehen mit kleinen Kreisen, unsre geringeren mit Kreuzchen vermerkt wurden. Links von der Tafel war der Winkel, in den man uns zur Strafe knien ließ.

      Wie steht mir dieser Winkel im Gedächtnis! Ich erinnere mich der Ofentür und der Luftklappe darin und des Geräusches, das die Klappe verursachte, wenn man sie bewegte. Zuweilen kniete und kniete man in dem Winkel, bis Knie und Rücken schmerzten, und dachte: »Karl Iwanowitsch hat mich vergessen; ihm ist's wahrscheinlich sehr behaglich, im weichen Lehnstuhl zu sitzen und seine Hydrostatik zu lesen, aber wie ist mir?« Und um sich bemerkbar zu machen, fing man an, die Ofentür behutsam auf- und zuzumachen oder den Kalkbewurf von der Wand abzubröckeln; aber wenn plötzlich ein allzu großes Stück mit Geräusch zu Boden fiel, – wirklich, der Schreck war ärger als jede Strafe. Dann sah man sich nach Karl Iwanowitsch um, der aber saß ruhig mit dem Buche in der Hand da und schien nichts gemerkt zu haben.

      Mitten im Zimmer stand der Tisch, mit zerrissenem schwarzem Wachstuch bedeckt; unter dem Wachstuch sahen an vielen Stellen die mit dem Taschenmesser zerschnittenen Ränder des Tisches hervor. Rund um den Tisch standen einige nicht angestrichene, aber durch den langen Gebrauch förmlich lackierte Holztaburetts. Die letzte Wand nahmen drei Fenster ein, aus denen man folgende Aussicht hatte: grade unter den Fenstern sah man den Weg, auf welchem mir jede ausgefahrene Stelle, jedes Steinchen, jede Radspur längst bekannt und lieb waren; jenseits des Weges – die geschorene Lindenallee, hinter welcher hier und da ein geflochtener Zaun sichtbar war; durch die Allee blickte man auf eine Wiese hinaus; an einem Ende derselben befand sich die Tenne, am andern ein Wald; in der Ferne sah man das Häuschen des Wächters. Aus dem rechten Fenster erblickte man einen Teil der Terrasse, auf welcher die Großen bis zum Mittagessen zu sitzen pflegten. Oft, während Karl Iwanowitsch das Diktat korrigierte, schaute ich hinaus, sah Mütterchens kleinen dunklen Kopf und irgend jemands Rücken und hörte undeutlich Gespräch und Lachen von unten herauf. Dann ärgerte ich mich, daß ich nicht dort sein konnte, und dachte: »Wann endlich werde ich groß sein, wann werde ich zu lernen aufhören und anstatt bei den Vokabeln zu sitzen bei denen weilen dürfen, die ich lieb habe?« Der Ärger verwandelte sich in Trauer und ich versank unversehens so tief in Gedanken, daß ich nicht einmal hörte, wie Karl Iwanowitsch sich über die Fehler ärgerte.

      Karl Iwanowitsch warf den Schlafrock ab, zog den blauen Frack mit den auf den Schultern gebauschten Ärmeln an, richtete vor dem Spiegel seine Krawatte und führte uns hinunter, damit wir Mütterchen guten Morgen sagten.

      1 Russische Zeitschrift

      Maman

      Mütterchen saß im Salon und goss heißes Wasser auf den Tee: mit einer Hand hielt sie die Teekanne, mit der andern den Hahn des Samowars, aus dem das Wasser über den Rand der Teekanne auf den Untersatz floß. Aber obgleich sie unausgesetzt hinsah, bemerkte sie das nicht, ebenso wie sie unser Hereinkommen nicht bemerkt hatte.

      Es tauchen so viele Erinnerungen an die Vergangenheit auf, wenn wir uns bemühen, die Züge eines geliebten Wesens in unsrer Vorstellung auferstehen zu lassen, daß man sie wie durch Tränen nur undeutlich sieht. Es sind das die Tränen der Einbildungskraft. Wenn ich versuche, mir meine Mutter so vorzustellen, wie sie damals war, sehe ich nur ihre braunen Augen, die ihre stets