Hermann Christen

Die Endzeitpropheten


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über welche Technik die Erdlinge unterdessen verfügten oder ob sich bereits Strukturen zwischen den weit verstreuten Ansiedlungen entwickelt hatten. Die Ignoranz der Kolonie gegenüber der Erde konnte anderen Interessengruppen den Weg geebnet haben, mit Technik oder Wissen Geschäfte zu machen oder die Erdlinge zu beeinflussen. Es blieb nur zu hoffen, dass hinter diesen möglichen Aktionen reine Profitgier steckte.

      Ein charismatischer Führer, der die Erdlinge für sich begeistern könnte, hätte es in der Hand, die lunaren Basen zu überrennen, den Einfluss der Kolonie zu beenden und die Kuppeln auszuhungern.

      Die Katholiken hatten eine Geschichte zur Hand, die funktionieren konnte. Hölle und Erlösung waren gute Argumente, mit welchen sich Anhänger einschüchtern und gewinnen ließen.

      Steve lernte Beckers dunkle Seite kennen. Dessen Führungsstil wechselte von weltentrückter, mit manischen Episoden ergänzter Duldsamkeit zu kompromissloser Hektik. Steve mühte sich mit der Digitalisierung von Beckers Handnotizen ab. Beckers pausenloses Herumtigern und sein Atmen im Nacken, wenn er sich über seine Schulter beugte, um besonders wichtige Einzelheiten zu kontrollieren, nervten. Steves Vorschlag den Zentralrechner der Uni zu nutzen, blockte Becker ab.

      "Papperlapapp. Ich will nicht, dass die Väter, die ÜKo oder sonst wer auch nur den Hauch einer Chance hat, an die Daten zu kommen. Hier, das ist ihr Arbeitsgerät", bestimmte Becker und klopfte mit dem Knöchel auf einen altertümlichen Laptop, dessen Kunststoffgehäuse bereits brüchig war.

      Beim ersten Aufstarten hustete das Gerät asthmatisch Staubwolken aus. Zwei Tage benötigte Steve, um die unpraktische Handhabung der 'Maus', wie der Professor das Gerät nannte, halbwegs zu beherrschen. Becker störte seine Konzentration, wenn er aus der Altzeit und den heldenhaften Endzeitpropheten dozierte. Doch Steve konnte den Geschichten auch positive Seiten abgewinnen. Sein Wissen über die Zeit vor der Säuberung erweiterte sich enorm. Alleine die Erkenntnis, dass die Heilsarmee nicht die persönliche Garde Hitlers gewesen war, lohnte den Aufwand. Beckers Notizen erklärten anschaulich, dass die Heilsarmee den Jihad anzettelte, vor dem der Endzeitprophet Al Gore fliehen musste. Gores Freund, von Däniken, wanderte in die Anden aus, wo er mit einem Presslufthammer Botschaften in den Felsboden gravierte.

      Steve verschob den Mausanzeiger auf dem Bildschirm. Vielleicht war an Beckers Verfolgungswahn was dran, denn der Mann in der Metro, der ihm vor einiger Zeit aufgefallen war, saß nun täglich im Zug.

      Blanc salutierte. "Das Update 5288", schnarrte sie, "ist verfügbar. Sir."

      Hirsch aktivierte die Datei und studierte die Daten.

      "Ist das mit den Aktivitäten in der Uni gesichert?"

      "Jawohl!"

      "Kann der Mittelsmann Genaueres herausbekommen als eben die Aussage, dass die beiden", er zitierte den Text aus dem Bericht, "sich im Büro des Professors verschanzen und sehr geheimnisvoll tun?"

      "Wir arbeiten daran – unser Mann verfolgt Globe ununterbrochen."

      "Sonst noch was?"

      "Da ist eine Helen Rudolf, die immer wieder versucht, mit Globe Kontakt auf zu nehmen"

      "Das ist bekannt. Die Rudolf ist die Partnerin von Globe."

      "Noch nicht", korrigierte Blanc ihren Vorgesetzten, "ich glaube, dass sie will und er nicht."

      "Soll vorkommen."

      "Ich recherchiere weiter in diese Richtung. Es könnte ein perfides Ablenkungsmanöver sein. Sir."

      "Wenn sie nachforschen und es ein Ablenkungsmanöver ist, dann erreicht dieses Manöver exakt die Wirkung, welches es erzielen soll", gab Hirsch zu Bedenken.

      "Darum fordere ich eine zusätzliche Kraft für diesen Fall an, Sir."

      Hirsch lächelte.

      "Genehmigt. Sonst noch was?"

      "Nein, Sir"

      "Bleiben sie dran."

      "Verstanden, Sir."

      Blanc salutierte und ging zurück zur Arbeit. Sie genoss die neue Verantwortung und die neuen Kompetenzen.

      Steve stolperte über ein Hindernis. Er ruderte mit den Armen und landete auf den Knien.

      "Scheisse", fluchte er.

      Er rappelte sich hoch.

      "Kann ich ihnen helfen?"

      Verwundert drehte sich Steve um. Hinter ihm stand ein sportlicher Mann in kurzen Hosen und trabte an Ort. Zuerst meinte Steve, es sei der Kerl aus der Metro. Aber der hatte dunkle Haare nicht blonde, wie der Zappelphilipp hier.

      "Nein. Danke."

      "Ist das erste Mal, dass ich hier wen abseits der Laufwege sehe", meinte der Mann, "ich dachte, ich sei der Einzige, der lieber ungestört trainiert."

      "Ich laufe jeden Tag hier", sagte Steve.

      "Erstaunlich, dass wir uns noch nie gesehen haben. Guten Tag."

      "Guten Tag", rief Steve dem Mann nach, der um einen künstlichen Busch kurvte und verschwand.

      Nachdenklich rieb Steve das schmerzende Knie. Er stand unter Beobachtung. Das war so klar und sicher, wie dass irgendwann der nächste Meteor einschlagen würde.

      Der Professor brauchte nichts von dieser Begegnung zu wissen. Er würde sich nur aufregen und absurde Theorien aus dem Hut zaubern und ihn von der Arbeit abhalten. Eine weitere Zeitverzögerung war inakzeptabel. Schon jetzt hing er dem Zeitplan hinterher. Nachtschichten in der Uni unter abgedunkelten Kuppeln und mit Becker im Rücken bargen ein Horrorpotential, wogegen sich ein Agent der ÜKo oder ein Zeitvertrag mit Helen wie Kuschelkrimis ausnahmen. Zumal Becker die Abstände zwischen zwei Duschen immer mehr in die Länge zog und, sehr zum Widerwillen Steves, die Grenzen des Machbaren ergründete. Becker war derzeit auch im Hellen betrachtet unheimlich genug, fand Steve.

      Becker war zufrieden mit der Arbeit seines Assistenten. Der junge Mann überraschte ihn. Er hatte mehr Widerstand erwartet und vermutete, dass es das wahrscheinlich das erste Mal war, dass Globe echte Leistung erbrachte. Die Aussicht, zur Erde reisen zu können, weckten Ehrgeiz und Fleiß in nicht geahntem Ausmaß. Globe war der beste Assistent, den er je hatte. Er relativierte den Gedanken, denn die bisherigen Assistenten waren ausnahmslos Nieten. Einen kurzen Augenblick erwog Becker ihn zu loben. Doch ein Lob könnte ihn übermütig machen und seinen ernsthaften Eifer gefährden. Becker entschied sich dagegen.

      Sein Blick blieb auf dem USB Stick auf dem Tisch haften, den er im technischen Museum entdeckt und entwendet hatte. Er nahm ihn nachdenklich in die Hand, drehte ihn, warf ihn in die Luft und fing ihn geschickt auf.

      'Mein ganzes Leben findet Platz in so einem kleinen Gegenstand. Ist das nun erstaunlich oder erschreckend?', sinnierte er.

      Eigentlich war es nicht das gesamte Lebenswerk. Die wichtigsten Teile seines Wissens verwahrte Becker gut verborgen in seinem Kopf. Die Schlussfolgerungen und die Maßnahmen aus all den Studien, die er in seinem Leben gemacht hatte, blieben sein Geheimnis. Und über seine Erzengel war kein einziger Hinweis zu finden.

      Becker steckte den Stick in einen kleinen Stoffsack und hängte ihn an einer Schnur um den Hals.

      Es war alles getan, was auf dem Mond erledigt werden konnte. Das Wissen war digitalisiert und die schriftlichen Notizen vernichtet. Mit wehmütigem Blick überschaute er die Habe, die er auf die Reise mitnehmen würde. Ein Koffer und eine Umhängetasche – schon ist der Mensch komplett.

      Vielleicht war es ein Segen, dass der Durchschnittskolonist wenig Eigentum besaß. Die Propheten hatten vor Gier und Besitz gewarnt. Gier war das langsame Gift, das die Seele tötet.

      "Noch drei Tage…", murmelte er halblaut und legte sich auf das Notbett, welches der Abwart der Universität maulend in sein Büro gestellt hatte.

      Blanc sah, dass Hirsch mit dem Bericht nicht zufrieden war. Sie hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um an neue Informationen zu gelangen. Aber entweder waren die beobachteten Objekte äußerst gerissen oder unglaublich normal.