Nick Lubens

Läuft


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vergangen, als meine im Siebziger-Jahre-Erinnerungslook viel zu knapp geschnittene Sporthose unter der Trainingshose zwischen den Beinen zu kneifen begonnen hat. Das silbrige Glänzen des Sees in der Parkmitte, das mich am Anfang noch an tausende funkelnde Diamanten erinnert hat, erscheint mir jetzt eher wie ein Meer verheißungsvoll auf und ab wogender Rasierklingen, die mich dazu einladen, mich in sie hineinzustürzen und meinem Elend ein schnelles Ende zu bereiten. Und inzwischen bin ich mir auch sicher, dass die Krähen oben in den Wipfeln der Bäume mit ihrem Krakeel all ihre Kumpels herbeirufen, damit auch sie sich am Leid des Versagers tief unter ihren Zuschauerplätzen ergötzen können.

      Als einer der schwarzgefiederten Bullies hoch über unseren Köpfen auf eine besonders plumpe Art über mich herzieht, mobilisiere ich meine letzten Kräfte, hebe das Gesicht zur Baumkrone und drohe dem Mobber mit der Faust. Leider scheint mein Körper nicht mehr genug Kraft für Arme und Beine zu haben, denn im nächsten Augenblick knickt mein Knie weg und ich wanke zur Seite.

      „Max!“, ruft Carina erschrocken und greift nach meinem Arm. Aber es ist schon zu spät. Wie durch ein Fernglas sehe ich mich selbst in eine dicke, alte Frau hineinlaufen. Ihre einzige Möglichkeit, mir auszuweichen, wird von einer dichten Hecke abgeschnitten und so rassele ich mit dem gesamten Schwung meiner 90 Kilogramm in sie hinein. Hier kommt uns die Hecke doch noch einmal zu Gute, denn sie fängt den Sturz der Frau auf und ermöglicht es meiner Freundin, die Fremde geistesgegenwärtig aufzufangen, bevor Schlimmeres passieren kann.

      Empört streicht sich die alte Frau imaginäre Dreckkrümel vom Mantel, der den Zusammenprall eigentlich ganz gut überstanden hat. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hat, nimmt sie mich mit eiskalten, grauen Augen genauer unter die Lupe. Es dauert offenbar nicht lange, bis sie sich ein Bild von mir gemacht hat. Wie der Kopf einer Kobra schnellt ihr Finger nach vorn und bohrt sich schmerzhaft in meinen Brustkorb. „Können Sie nicht aufpassen, junger Mann?“, keift sie mich an. „Sie sind eine Gefahr für die Allgemeinheit.“ Dann fällt ihr Blick auf Carina. Sie lächelt meiner Freundin kurz zu, dann wendet sie sich wieder abschätzig an mich. „Und überhaupt. So, wie sie aussehen, sollten sie sich vielleicht etwas gesitteter anziehen und nicht ihren unförmigen Körper in all seinen Facetten der Allgemeinheit zur Schau stellen!“ Zustimmung heischend blickt sie um sich, aber außer Carina, die betreten zu Boden schaut und sich offenbar für mich mitschämt, hat niemand ihre Tirade verfolgt.

      Ich schaue irritiert an mir herab. Ja, der alte Jogginganzug spannt etwas über dem Bauch, aber den Facettenreichtum meines Körpers gibt er nun wirklich nicht Preis. „Entschuldigung.“, murmle ich zerknirscht und setze mich mit hängendem Kopf wieder in Bewegung. Blöder Vogel!

      Für den Rest des Weges verzichtet Carina darauf, mich weiter anzufeuern. Und auch in den weiteren Stunden bis zum nächsten Morgen vermeidet sie es, das Wort an mich zu richten. So ist mir am Feiertag zumindest auch noch ein bisschen Ruhe vergönnt, aber ich bin mir sicher, dass sich da noch ein Sturm zusammenbraut, der unaufhaltsam auf mich zugerast kommt.

      2

      „Und das haben deine Schüler selbst gemacht?“ Mit großen Augen und offenem Mund betrachte ich das überdimensionale Bild, das Carina vor mir auf dem Boden ausgebreitet hat. Es ist aus mehreren A2-Postern zusammengesetzt und mit viel Liebe zum Detail gestaltet worden. In der Mitte blickt mir Maria mit einem Heiligenschein aus freudestrahlenden Augen entgegen, um sie herum kann ich die Heiligen drei Könige, Herodes, die Hirten und die heilige Familie an der Krippe erkennen. Ein italienischer Freskenmaler hätte es kaum besser hinbekommen. Zusätzlich zu den religiösen Motiven sind in den Ecken allerhand Sterne, Engel und Schneekristalle aufgeklebt. Carina hat mir erklärt, dass es total wichtig sei, an die Lebenswelt der Schüler anzuknüpfen. Ob sie das damit gemeint hat?

      Stolz schaut Carina auf das Produkt ihrer Klasse. „Ich bin aber auch echt froh, wenn die Winterausstellung vorbei ist. Ist zwar eine gute Idee, das Ganze ins neue Jahr zu verlegen, weil vor Weihnachten sowieso alle viel zu viel um die Ohren haben, aber es war ein hartes Stück Arbeit.“, beantwortet sie meine Frage nicht direkt. Aber ich will mal nicht so sein. Oft mache ich mich ja gern ein bisschen lustig über ihre Arbeit als Grundschullehrerin, aber heute bin ich mehr als beeindruckt, was sie mit den kleinen Rackern so auf die Reihe bekommen hat. „Wer hat denn die tolle Maria gemalt?“, frage ich, um ihr zu zeigen, wie mir das Bild imponiert.

      Plötzlich druckst sie etwas verlegen herum, bevor sie sich ein „Das war ich.“, abringt.

      Mit gehobenen Augenbrauen schaue ich sie an. Warum ist sie plötzlich so peinlich berührt. Das Portrait ist wirklich gelungen und dass sie als Lehrerin den Mittelpunkt des Gruppenbildes gestaltet, ist bei Viertklässlern doch völlig legitim.

      „Ist ja klar. Die Kleinen brauchen ja auch ein Vorbild, an dem sie sich orientieren können.“, meine ich verständnisvoll. Dann zeige ich auf die Bilder, die zeigen, wie Herodes die drei Weisen empfängt, wie die Hirten den Engel sehen oder wie Joseph und Maria endlich einen Platz für die Nacht in diesem windschiefen Stall finden. Alle Darstellungen zeichnen sich durch klare Linien, eine ausgewogene Farbkomposition und sorgfältige Bearbeitung aus. „Das hat sich ja auch ausgezahlt. Du hast eine Reihe begabter Künstler in deiner Klasse.“, sage ich anerkennend.

      „Naja.“, murmelt sie. „Die hab ich auch gemalt. Außer dem da.“ Ihr Zeigefinger schnellt vor und deutet auf die Stelle, an der Jesus in Windeln in der Krippe dargestellt ist. Hier hat der Ausmaler viele weiße Flecken zwischen den Buntstiftstrichen gelassen und wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass Joseph, der im Hintergrund einen Esel streichelt, ganz unhistorisch ein schwarz-gelb gestreiftes T-Shirt trägt. Carinas Finger schwebt wie eine Anklage über dem Bild, das die Gesamtkomposition in eine merkwürdige Schieflage bringt. „Aha, ein Borussia-Fan.“, kommentiere ich das fehlerhafte Kostüm, um die Stimmung aufzulockern.

      „Ja, Lukas.“, bestätigt Carina zwischen zusammengepressten Zähnen.

      Ich schaue mir das Gruppenkunstwerk noch einmal an. Dann fällt mir der in verschiedenen Rottönen gehaltene Hintergrund auf. Natürlich! Hier und da sind die Pinselstriche nicht ganz so gleichmäßig geraten, einige Übergänge brechen zu schnell ab. „Die anderen haben also mehr so den Hintergrund gestaltet?“, versuche ich, meine Freundin aufzumuntern.

      Sie atmet tief ein. Ihr Gesicht verfärbt sich dunkelrot und ihre Nasenflügel beginnen zu beben. „Willst du mich eigentlich verarschen?“, brüllt sie mich wie aus dem Nichts an. Ich ducke mich tief in den Fernsehsessel, so wie ich es bei einem plötzlich über mich hereinbrechenden Tornado machen würde. Was um alles in der Welt habe ich denn jetzt wieder gesagt?

      So schnell, wie der Wutanfall gekommen ist, geht er auch wieder vorüber. Carinas Schultern fallen zusammen und sie lässt sich völlig fertig auf das Sofa sinken. „Den Hintergrund habe ich vorgestern Nacht gemacht. Darum bin ich erst so spät ins Bett gekommen.“, gesteht sie mir. Ich erinnere mich, dass es aus ihrem Arbeitszimmer nach Farben gerochen hat und ich nicht stören wollte, für den Fall, dass ich dann in eine kreative Phase hineinplatze und sie aus ihrer schöpferischen Trance reiße. Wäre ja nicht das erste Mal gewesen.

      „Sie sind so undankbare Gören.“, schimpft Carina ohne Überleitung los. „Interessieren sich einen Dreck für das, was ich ihnen anbiete, gammeln den ganzen Tag nur herum, haben die große Klappe und wollen am Ende ihren Eltern etwas ganz besonders Tolles präsentieren.“

      Ich blinzle verstört. „Aber, warum machst du dir die Arbeit und bastelst ihnen ihr Gruppenposter, wenn sie es nicht hinbekommen?“

      „Du kennst die Eltern nicht!“, stöhnt meine Freundin und wirft ihren dunkelblonden Pferdeschwanz kampflustig nach hinten. Ihre wunderschönen hellbraunen Augen sprechen aber eine andere Sprache. „Es gibt ja kein Kind mehr, das nicht mindestens hochbegabt ist, wenn du die Eltern fragst. Und wenn die Ergebnisse in der Schule nicht stimmen, kann es ganz bestimmt nicht an ihrem kleinen Engel liegen. Dann sind wir Lehrer unfähig, oder der Tischnachbar ist nicht der richtige Umgang für ihr Kind, oder das Lehrmaterial ist nicht herausfordernd genug oder die Schule generell nicht der richtige Ort, damit das Kind seine Fähigkeiten entfalten kann.“, zählt sie resigniert die Gründe auf, die Eltern einfallen, wenn ihr Kind nicht Klassenbester geworden ist. „Wenn ich denen morgen ein weißes