Nick Lubens

Läuft


Скачать книгу

alle?“, schreit Carina mich an. Hilflos zucke ich mit den Schultern und versuche, mich von ihrem Gewicht zu befreien.

      „Hast du mir gerade das Leben gerettet?“, frage ich sie verblüfft mit einem debilen Lächeln im Gesicht.

      „Alles in Ordnung da unten?“, ruft eine Stimme aus dem Mercedes. Gleich darauf beginnt sie zu keifen: „Hast du noch alle Tassen im Schrank? Du hättest beinahe die jungen Menschen über den Haufen gefahren.“

      Ich höre Autotüren knallen, dann endlich rappelt sich Carina auf und zieht mich mit nach oben. „Alles klar bei dir?“, fragt sie mich besorgt.

      Ich reibe mir über die Stelle am Hinterkopf, mit der ich den Fußboden geküsst habe, aber zum Glück wiegt meine Freundin wesentlich weniger als ich und meine Pölsterchen an Hintern und Schultern und der dicke Anorak haben den Sturz zusätzlich abgefangen. „Geht schon.“, brumme ich und nehme das Corpus Delicti in Augenschein. Irgendetwas an der alten Karre kommt mir merkwürdig bekannt vor.

      „Max? Bist du das?“

      Verwirrt drehe ich den Kopf auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme. „Elke?“, quieke ich, als sich das Gesicht meiner Tante in mein Blickfeld schiebt. „Was machst du denn hier?“

      Mit entnervtem Blick schüttelt sie den Kopf. „Dein Opa muss dringend was einkaufen.“, presst sie wütend hervor.

      „Hallo Max. Alles senkrecht?“, knarzt die Stimme meines Großvaters über das Auto hinweg zu mir herüber.

      Mit hochgezogenen Augenbrauen schaue ich ihn an wie eine Geistererscheinung. „Du bist Auto gefahren?“, fiepe ich fassungslos. Der alte Mann kann sich kaum auf den eigenen Beinen halten.

      „Jetzt fang du nicht auch noch damit an!“ Drohend schwenkt er den Zeigefinger über das Autodach hinweg. „Ich bin noch sehr gut in Form.“

      „Du hättest beinahe deinen Enkel umgefahren, Papa!“, faucht meine Tante ihn an und wendet sich wieder besorgt mir zu. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

      Ich nicke.

      „Ist doch noch alles dran an dem Kerl.“, meckert Opa fröhlich. „Vielleicht sogar ein bisschen zu viel, wenn ich ihn mir so ansehe.“, fügt er mit einem gemeinen Grinsen hinzu. „Was habt ihr überhaupt hier auf der Straße zu suchen?“

      Inzwischen haben sich die Demonstranten und mehrere Schaulustige um uns geschart. Aufgeregtes Murmeln geht durch die Reihen. „Das ist eine angemeldete Demonstration und wir stehen nicht auf der Straße sondern auf dem Gehweg vor diesem Geschäft.“, mischt sich nun Carina ein, deren erste Sorge und Verwirrung offenbar verflogen sind.

      „Ach, und wofür demonstrieren Sie so?“, gibt sich Opa interessiert.

      „Gegen Tierhaltung und das Schlachten.“, lässt ihn Carina wissen. „Wir sind überzeugte Vegetarier.“

      „So?“, entgegnet Opa knapp. „Wusste das auch der Hackbraten, den du neulich bei uns verputzt hast?“, wendet er sich mit einem scharfen Blick seiner eisblauen Augen an mich.

      „Hackbraten?“, kreischt Carina auf. Als mein Großvater und Tante Elke unisono nicken, entgleiten ihr doch die Gesichtszüge. „Max? Hackbraten? Aber wir sind doch Vegetarier.“

      Mir wird die Situation zunehmend unangenehm. Einige der Umstehenden tauschen vielsagende Blicke. Ein Mädchen weiter hinten kichert sogar los.

      Auch Tante Elke scheint das ganze Theater zu viel zu werden. Energisch stemmt sie die Fäuste in die Hüften und baut sich vor Carina auf. „Jetzt erzählen Sie hier mal keinen Blödsinn! Der Max ist ein guter Junge und isst, was auf den Tisch kommt.“

      Mit diesem Spruch erntet sie weitere Lacher, auch wenn das sicher nicht beabsichtigt war. „Max! Schwing deinen Hintern in das Auto! Wir fahren dich jetzt nach Hause.“

      „Das wird er ganz sicher nicht tun!“, sagt Carina. Sie versucht dabei, entschlossen aufzutreten, aber ein Hauch Unsicherheit schleicht sich in ihre Stimme. „Die Demonstration ist noch nicht zu Ende.“

      Elke lässt den Blick über die Menge vor dem Supermarkt schweifen. „Welche Demonstration?“, knurrt sie. „Max! Einsteigen!“

      „Mach lieber, was sie sagt!“, kichert mein Opa. „Du weißt ja, wie sie sein kann.“

      „Du hältst dich da raus!“, schimpft Elke jetzt zur Freude der Schaulustigen mit ihrem Vater. „Wir zwei haben auch noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen.“

      Carina sieht in offensichtlicher Fehlinterpretation der Lage ihre Chance gekommen, sich auf Elkes Seite zu schlagen und doch noch mit erhobenem Kopf aus der Konfrontation herauszukommen. „Und im Übrigen parken Sie hier auf dem Radweg.“, geht sie meinen Opa an.

      Der alte Mann kratzt sich nachdenklich am Kragen und wirft einen flüchtigen Blick auf die rote Markierung neben der Straße. „Ach, die Radfahrer haben doch auf dem Fußweg noch genügend Platz zum Ausweichen.“, winkt er dann ab und schiebt sich zurück hinter das Lenkrad.

      „Und außerdem parken wir nicht, wir halten nur.“, lässt Elke meine Freundin mit eiskaltem Blick abblitzen. „Max!“, fordert sie mich mit Grabesstimme auf, die ein unausgesprochenes „Ich sage es nicht noch einmal.“ impliziert.

      „Max?“, hält Carina dagegen.

      Ich blicke von einer zur anderen, dann fallen meine Schultern ein und mein Kopf sinkt auf die Brust.

      „Kopf hoch!“, kräht Opas Stimme durch die offene Beifahrertür. „Wir machen uns ein saftiges Steak zum Abendessen, dann sieht die Welt gleich wieder besser aus.“ Dazu reckt er mit einem breiten Grinsen den rechten Daumen in die Höhe. Die Schaulustigen um uns herum johlen.

      Gehorsam schiebe ich meinen Hintern auf die Rückbank des Mercedes und schlage die Tür zu. Ich wage es nicht, Carina noch einmal anzuschauen. Auch so weiß ich, dass ihr vermutlich gerade sämtliche Farbe aus dem Gesicht weicht und ihr Kinn Bekanntschaft mit den Kniescheiben macht.

      „So, und jetzt fährst du mal vorsichtig, Papa!“, gibt meine Tante das Kommando zur Abfahrt, als ich auf dem Rücksitz angeschnallt bin. Wie in Trance ziehen die Gesichter der Schaulustigen, meiner Mitdemonstranten und meiner Freundin an mir vorbei, als wir langsam wenden und uns auf den Weg hinaus aus der Stadt machen.

      4

      Ich schlüpfe durch die unscheinbare Metalltür in das Foyer der Grundschule und schüttele die Regentropfen aus meinem Haar. Irgendwie hatte ich nicht kommen sehen, dass es um diese Jahreszeit auch mal regnen kann. Und mir scheint es nicht als einzigem so ergangen zu sein. Mehr oder weniger pitschnass stehen Kinder, Eltern, Verwandte, Freunde und Lehrer in kleinen Grüppchen zusammen und machen sich mit aufgesetzter Fröhlichkeit über ihre wassergetränkte Garderobe lustig. Ich recke den Hals, kann Carina aber nirgends entdecken. Als ich gestern Nacht nach Hause gekommen bin, wollte ich sie nicht wecken – mit meinem nach Wiener Schnitzel stinkenden Atem wäre eine Entschuldigung vermutlich ohnehin nicht gerade auf fruchtbaren Boden gefallen – und so hatte ich es mir auf der Couch ungemütlich gemacht. Und heute Morgen bestand unsere einzige Kommunikation darin, dass sie ihren Kopf durch die Wohnzimmertür gesteckt und mich mit einem bitterenttäuschten „Tschüss“ aus dem unruhigen Schlaf gerissen hat.

      Also bin ich an diesem Nachmittag mit den besten Absichten losgezogen, um mich bei meiner Freundin zu entschuldigen. Schließlich habe ich sie schmählich auf der von ihr organisierten Fleischverzichtsdemo sitzen lassen und bin stattdessen mit meinem leicht debilen Opa und meiner herrschsüchtigen Tante ins Steakhouse gefahren. Nicht, dass ich das ansich bereuen würde. Das Schnitzel war großartig und ich würde jederzeit das gepflegte Sitzen einem aufgeregten Herumstehen vorziehen. Aber darum geht es nicht. Carina ist meine Freundin und hat es verdient, dass ich sie in ihren Wünschen und Bedürfnissen unterstütze. Und das habe ich nicht getan. Darum bin ich jetzt hier. Und ich kann sie nirgendwo sehen. So groß ist diese Schule doch auch wieder nicht.

      Ich bin zuversichtlich, dass Carina bald auftauchen wird. Schließlich ist es ihre Schule und sie hat sich wohl kaum die