daß es so sonderbar gebaut war; dann wunderte er sich wieder, daß der Postillon und Wanjuscha, die ihm doch so fremd waren, sich so nahe bei ihm befanden und zugleich mit ihm hin und her schwankten, wenn die Seitenpferde die steifgefrorenen Stränge mit heftigem Ruck anzogen. Und wiederum sagte er: »Prächtige Menschen! Ich liebe sie!« – und einmal sagte er sogar: »Wie einen das packt! Ausgezeichnet!« Und er wunderte sich, warum er das nur sagte, und fragte sich selbst: »Bin ich am Ende betrunken?« Er hatte allerdings für seinen Teil zwei Flaschen Wein geleert, aber es war nicht der Wein allein, der diese Wirkung auf ihn ausübte. Er erinnerte sich all der – wie es ihm schien – so herzlichen Freundschaftsworte, die zu ihm vor der Abreise, gleichsam aus dem Stegreif, gesprochen worden waren. Er gedachte der Händedrücke, der Blicke, des Stillschweigens, des Tones, in dem ihm, als er schon im Schlitten saß, der Freund zugerufen hatte: »Leb' wohl, Mitja!« Er gedachte auch seiner eigenen rückhaltlosen Aufrichtigkeit. Und alles das hatte für ihn eine besondere, rührende Bedeutung. Vor seiner Abreise schienen nicht nur Freunde und Verwandte, sondern auch Leute, die ihm sonst gleichgültig oder gar unsympathisch und übelgesinnt waren, sich plötzlich verabredet zu haben, ihn in höherem Maße zu lieben und ihm zu verzeihen, wie vor der Beichte oder vor dem Tode. »Vielleicht kehre ich nicht mehr aus dem Kaukasus heim«, dachte er. Und es schien ihm, als liebe er sie alle, alle, und noch sonst jemanden außer ihnen. Und er tat sich selbst so ungemein leid. Doch nicht die Liebe zu den Freunden war es, die seine Seele so weich stimmte und ihr einen solchen Schwung gab, daß er die unwillkürlich hervorsprudelnden törichten Worte nicht zurückzuhalten vermochte, und auch die Liebe zu einem Weibe war es nicht, denn er hatte noch niemals geliebt. Einzig die Liebe zu sich selbst, eine glühende, hoffnungsvolle, junge Liebe zu allem, was nur Gutes in seiner Seele lag, ließ ihn diese Tränen vergießen, diese unzusammenhängenden Worte stammeln. Daß in seiner Seele wirklich nur Gutes wohnte, davon war er in seinem jetzigen Zustande fest überzeugt.
Olenin war ein junger Mann, der weder einen abgeschlossenen Studiengang durchgemacht hatte, noch eine dienstliche Stellung bekleidete, wenn er auch bei irgendeiner Behörde dem Namen nach mitgezählt wurde. Er hatte die Hälfte seines Vermögens durchgebracht und trotz seiner vierundzwanzig Jahre sich weder für eine bestimmte Karriere entschieden, noch überhaupt irgendeine Tätigkeit entwickelt. Er war das, was man in der Moskauer Gesellschaft einen »angehenden Lebemann« nannte.
Mit achtzehn Jahren war Olenin so unabhängig, wie es nur ein reicher, früh verwaister junger Russe der vierziger Jahre sein konnte. Es gab für ihn weder physische noch moralische Fesseln; er konnte alles tun, an nichts gebrach es ihm, und nichts band ihn. Er kannte weder Familie noch Vaterland, er glaubte an nichts und hatte vor nichts Respekt. Trotz dieser Gleichgültigkeit gegen alles war er jedoch kein griesgrämlicher, gelangweilter, ewig räsonierender Jüngling, sondern ließ sich vielmehr jeden Augenblick durch irgend etwas begeistern. Er war der festen Überzeugung, daß es keine Liebe gebe, und war doch jedesmal wie benommen in Gegenwart eines hübschen jungen Weibes. Er zweifelte keinen Augenblick, daß alle Ehrenstellen und Würden ein Unsinn seien, und fühlte sich doch sehr geschmeichelt, wenn auf dem Balle Fürst Sergjej an ihn herantrat und ihn einiger freundlichen Worte würdigte. Er ließ sich jedoch von seinen Schwärmereien nur so weit fortreißen, als sie ihn nicht banden. Sowie er zu fühlen begann, daß bei einer Sache, für die er Interesse empfand, Arbeit und Kampf, der kleinliche, alltägliche Kampf des Lebens, unvermeidlich waren, war er instinktiv bemüht, sich von ihr loszumachen und seine Aktionsfreiheit wiederzuerlangen. So hatte er es nacheinander mit dem Leben in der großen Welt, dem Staatsdienst, der Musik versucht, der er eine Zeitlang sich ganz zu widmen gedachte, und schließlich auch mit der Liebe zu den Frauen, an die er nicht zu glauben vorgab. Er sann ernstlich darüber nach, worauf er eigentlich diese Kraft der Jugend, die dem Menschen nur einmal im Leben innewohnt, verwenden solle, ob auf die Kunst, oder auf die Wissenschaft, oder auf die Liebe zum Weibe, oder auf irgendeine praktische Tätigkeit. Nicht um die Kraft des Verstandes, des Herzens, der Bildung handelte es sich hier, sondern eben um jenen sich nie wiederholenden Drang, jene dem Menschen nur einmal gegebene Macht, aus sich selbst und der ganzen Welt alles zu machen, was er nur will, und wie er es will. Es gibt Menschen, die von diesem Drang nie etwas verspüren, die gleich beim Eintritt ins praktische Leben sich das erste beste Joch auferlegen lassen und bis ans Ende ihrer Tage es in Ehren tragen. Olenin jedoch fühlte in sich allzu sehr das Walten dieser allmächtigen Gottheit der Jugend, diese Fähigkeit, ganz in einem Wunsche, einem Gedanken aufzugehen, die Fähigkeit, zu wollen und zu handeln, sich kopfüber, ohne zu wissen, warum und wofür, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Er trug dieses Bewusstsein in sich, und es machte ihn stolz und, ohne daß er selbst es wußte, zugleich auch glücklich. Er liebte bis jetzt nur sich allein, und er konnte nicht anders, da er von sich selbst nur Gutes erwartete und in dieser Beziehung noch keine Enttäuschung erlebt hatte. Als er jetzt Moskau verließ, befand er sich in jener naiven, glücklichen Stimmung eines jungen Menschen, der seine früheren Irrtümer erkannt hat und sich plötzlich sagt, daß »alles das« nicht das Richtige war, daß alles, was bisher gewesen, ganz vom Zufall abhing und ohne tieferen Sinn war, daß er zwar bisher von einer vernünftigen Lebensordnung nichts hatte wissen wollen, dafür aber jetzt, da er Moskau den Rücken kehrte, ein neues Leben für ihn beginne, in dem die alten Fehler nicht mehr vorkommen sollten, in dem nicht mehr für die Reue, sondern einzig nur für das Glück Raum und Gelegenheit sein würde.
Man macht bei längeren Reisen die Erfahrung, daß auf den ersten zwei, drei Stationen die Phantasie noch an dem Orte verweilt, von dem die Reise ausging, worauf sie dann plötzlich, mit dem ersten Morgen, den man unterwegs begrüßt, sich dem Reiseziel zuwendet und dort ihre Luftschlösser zu errichten beginnt. Nicht anders ging es Olenin. Als er die Stadt im Rücken hatte und die schneebedeckten Fluren erblickte, empfand er Freude darüber, daß er sich ganz allein inmitten dieser Fluren befand. Er wickelte sich fester in seinen Pelz, ließ sich auf den Boden des Schlittens gleiten und schlief beruhigt ein. Der Abschied von den Freunden hatte ihn rührselig gestimmt, und er erinnerte sich des ganzen letzten Winters, den er in Moskau verlebt hatte: die Bilder dieser jüngsten Vergangenheit traten ungerufen, von unklaren Gedanken und Selbstvorwürfen begleitet, vor seine Seele.
Er gedachte des einen der beiden Freunde, die ihm das Geleit gegeben hatten, und seiner Beziehungen zu dem jungen Mädchen, das der Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen war. Dieses Mädchen war reich. »Wie konnte er sie lieben, obgleich er doch wußte, daß sie mich liebte?« dachte er, und ein häßlicher Verdacht regte sich in seinem Herzen. »Wieviel Ehrlosigkeit gibt es doch in der Welt, wenn man's so recht überlegt! Doch wie kommt es nur, daß ich noch niemals geliebt habe?« drängte eine neue Frage sich ihm auf. »Alle Welt sagt es mir, daß ich noch nicht geliebt habe. Bin ich denn ein moralischer Krüppel?« Und er rief sich das Bild eines andern jungen Mädchens ins Gedächtnis zurück, für das er einmal geschwärmt hatte. Er dachte an sein erstes Auftreten in der Gesellschaft und an die Schwester eines Freundes, mit der er damals die Abende verbracht hatte, am Tische bei der Lampe, deren Licht auf ihre zarten, mit einer Handarbeit beschäftigten Finger und die untere Partie ihres hübschen, feinen Gesichtes fiel, und die Gespräche mit ihr, die sich hinzogen wie das Spiel mit dem brennenden Zündholz, das man weitergibt, und das ewige Unbehagen, der beständige Zwang und der innere Drang, sich dieses peinlichen Zustandes zu erwehren, kamen ihm wieder in den Sinn. Eine innere Stimme hatte ihm zugeflüstert: »Das ist nicht das Richtige, das ist nicht das Richtige«, und es war in der Tat auch nicht das Richtige. Dann fiel ihm ein Ball ein, auf dem er mit der schönen D. die Mazurka getanzt hatte. »Wie verliebt war ich in jener Nacht, wie glücklich war ich! Und wie schmerzlich war es mir, wie ärgerte ich mich, als ich am nächsten Morgen mit der Empfindung erwachte, daß mein Herz frei war! Warum kommt sie denn nicht zu mir, diese Liebe? Warum bindet sie mich nicht an Händen und Füßen?« dachte er. »Es gibt eben keine Liebe, das ist's! Auch die Gutsnachbarin, die mir und Dubrowin und dem Adelsmarschall mit denselben Worten vorschwärmte, wie sehr sie die Sterne liebe, auch sie war nicht ›das Richtige‹.« Und nun fällt ihm sein Versuch ein, sich auf seinem Gute in der Wirtschaft zu betätigen – und auch hier stellt sich keine Erinnerung ein, die ihm Freude machen könnte. »Wie lange sie wohl von meiner Abreise reden werden?« ging's ihm durch den Kopf; doch wer diese ›sie‹ sind, weiß er nicht zu sagen. Gleich darauf aber kommt ihm ein Gedanke, der ihn die Stirn runzeln und irgend etwas vor sich hin murmeln läßt: es ist der Gedanke an seinen Schneider Capelle und die 678 Rubel, die er ihm schuldig geblieben