Fall. Er hatte nicht nur nicht den Wunsch, mit ihr in physische Beziehungen zu treten, sondern entsetzte sich schon bei dem bloßen Gedanken an ein solches Verhältnis zu ihr. Die Befürchtung der poetisch veranlagten Tante Sofia Iwanowna, Dmitrij könnte vielleicht bei seinem selbständigen, entschlossenen Charakter eine ernstliche Leidenschaft für das Mädchen fassen und ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und gesellschaftliche Lage sie zu seiner Gattin machen, war weit gerechtfertigter.
Hätte Nechljudow damals seine Liebe zu Katjuscha klar erkannt, und hätte man vor allem ihm vorzuhalten versucht, daß er unter keinen Umständen sein Schicksal an dieses Mädchen binden dürfe, dann hätte er möglicherweise bei seiner Geradheit in allen Dingen erklärt, daß gar kein Grund für ihn vorliege, ein Mädchen, das er liebgewonnen, nicht zu heiraten, von welcher Herkunft es auch sei, und hätte auch dementsprechend gehandelt. Doch die Tanten sagten ihm nichts von ihren Befürchtungen, und so reiste er ab, ohne sich seiner Liebe zu Katjuscha bewußt geworden zu sein.
Er war davon überzeugt, daß sein Gefühl für Katjuscha nur eine Erscheinung des allgemeinen Gefühls der Lebensfreude sei, das damals sein ganzes Wesen erfüllte, und das von diesem lieben, lustigen Mädchen geteilt wurde. Als er jedoch abreiste und Katjuscha mit den Tanten auf der Freitreppe vor dem Hause stehen sah, als er in ihre schwarzen, ein wenig schielenden Augen sah, die ihm tränengefüllt nachblickten, da fühlte er doch, daß er etwas Schönes, Teures zurückließ, das nie wiederkehren würde. Und tiefe Schwermut bemächtigte sich seines Herzens.
»Leb' wohl, Katjuscha, herzlichen Dank für alles,« rief er ihr über die Haube Sofia Iwanownas hinweg zu, während er sich in den Wagen setzte.
»Leben Sie wohl, Dmitrij Iwanowitsch,« sagte sie mit ihrer angenehmen, einschmeichelnden Stimme, gewaltsam die Tränen zurückhaltend, die ihr in die Augen stiegen, und lief rasch in den Hausflur, wo sie sich ungestört ausweinen konnte.
13
Seit jener Zeit hatte Nechljudow Katjuscha wohl drei Jahre lang nicht gesehen. Er sah sie erst wieder, als er, soeben zum Offizier befördert und zur Armee unterwegs, bei den Tanten zu kurzem Besuche vorsprach. Er war da schon ein ganz anderer Mensch geworden, als jener gewesen, der drei Jahre vorher den Sommer bei ihnen verlebt hatte.
Damals war er ein ehrenhafter, selbstloser Jüngling gewesen, bereit, sich für jede gute Sache zu begeistern; jetzt war er ein verderbter, verfeinerter Egoist, der nichts liebte als nur den Genuss. Damals war ihm Gottes Welt als ein Geheimnis erschienen, das er voll Freude und Begeisterung zu enträtseln bemüht war; jetzt erschien ihm alles in diesem Leben einfach und klar und durch die Lebensverhältnisse bestimmt, in denen er sich befand. Damals betrachtete er den Verkehr mit der Natur und den Philosophen und Dichtern, die vor ihm gelebt, vor ihm gedacht und gesonnen hatten, als notwendig und wichtig; jetzt betrachtete er die Einrichtungen der Menschen und den Verkehr mit den Kameraden als notwendig und wichtig. Damals war ihm das Weib als ein geheimnisvolles, reizvolles Wesen erschienen: eben in dem Geheimnisvollen hatte der Reiz gelegen; jetzt war seine Vorstellung von der Bedeutung des Weibes, abgesehen von seinen Familienmitgliedern und den Frauen seiner Freunde, eine sehr bestimmte: das Weib war für ihn, der nun schon erfahren war, lediglich ein Gegenstand des Genusses. Damals brauchte er kein Geld, hatte an einem Drittel des Taschengeldes genug, das die Mutter ihm zukommen ließ, und konnte auf das vom Vater ererbte Gut, das er den Bauern überließ, leichten Herzens verzichten; jetzt kam er mit den fünfzehnhundert Rubeln nicht aus, die ihm die Mutter monatlich gab, und er hatte mit ihr seiner Ausgaben wegen bereits mehrere ernsthafte Auseinandersetzungen gehabt. Damals sah er sein wahres Ich in seinem inneren, geistigen Menschen, jetzt galt ihm sein gesundes, frisches, animalisches Ich als der eigentliche Mensch.
Und diese ganze furchtbare Wandlung hatte sich nur dadurch in ihm vollzogen, daß er aufgehört hatte, sich selbst zu glauben, und statt dessen begonnen hatte, andern zu glauben, weil es ihm gar zu schwer ward, zu leben, indem er sich selbst glaubte; wenn er nämlich sich selbst glaubte, mußte er fast jede Frage so entscheiden, daß die Entscheidung zu Ungunsten seines animalischen Ichs ausfiel, das nur nach leichten Genüssen strebte; wenn er dagegen den andern glaubte, brauchte er nichts selbst zu entscheiden, alles war vielmehr bereits entschieden, und zwar gegen sein geistiges Ich und zugunsten seines animalischen Ichs. Und nicht genug daran: wenn er sich selbst glaubte, konnte er sicher sein, daß die Menschen ihn stets verurteilten – glaubte er dagegen den andern, dann war er des Beifalls von Seiten derjenigen, die ihn umgaben, gewiß.
Wenn Nechljudow zum Beispiel über Gott, über die Wahrheit, den Reichtum, die Armut nachdachte, wenn er über diese Dinge sich aus Büchern unterrichtete oder in Gesellschaft darüber sprach, hatten die Angehörigen seines Umgangskreises das für unangebracht, ja zuweilen sogar für lächerlich erklärt, und seine Mutter wie seine Tanten hatten ihn mit leichtem Spott ihren »lieben Philosophen« genannt; wenn er dagegen Romane las, schlüpfrige Anekdoten erzählte, ins französische Theater ging und sich dort lustige Possen ansah, deren Inhalt er dann zu Hause in amüsanter Weise wiedererzählte, kicherten alle ganz vergnügt und ermunterten ihn durch ihren Beifall. Wenn er es für geboten hielt, seinen alten Mantel noch länger zu tragen und keinen Wein zu trinken, bezeichneten alle das als Absonderlichkeit und Effekthascherei; gab er dagegen große Summen für ein Jagdfest oder für eine luxuriöse Ausstattung seines Kabinetts aus, dann lobten alle seinen Geschmack und machten ihm obendrein allerhand kostbare Dinge zum Geschenk. Als er noch unschuldig war und es bis zur Eingehung einer Ehe bleiben wollte, zeigten seine Verwandten sich um seine Gesundheit besorgt; dagegen war selbst seine Mutter gar nicht böse, sondern vielmehr ganz erfreut darüber, als sie erfuhr, daß er ein richtiger »Mann« geworden und einem seiner Freunde irgendeine Französin abspenstig gemacht habe. An die Episode mit Katjuscha dagegen, sowie an die Möglichkeit, daß er dieses Mädchen heiraten könnte, konnte die Fürstin, seine Mutter, nicht denken, ohne aufs tiefste zu erschrecken.
In gleicher Weise hatte Nechljudow, als er nach seiner Mündigsprechung das ihm zugefallene väterliche Gut den Bauern überlassen hatte, weil er das Privateigentum am Grund und Boden für eine Ungerechtigkeit hielt, durch diese Handlung seine Mutter und seine Verwandten aufs tiefste erschreckt und mußte dafür immer wieder den Tadel und Spott der Seinigen über sich ergehen lassen.
Immer wieder erzählte man ihm, daß die Bauern, denen er das Land geschenkt hatte, nicht nur davon keinen Segen gehabt hätten, sondern vielmehr verarmt seien, daß sie drei Schenken im Dorfe eröffnet und aller ehrlichen Arbeit entsagt hätten. Als dagegen Nechljudow nach seinem Eintritt bei der Garde mit seinen Kameraden so viel Geld verpraßt und verspielt hatte, daß Helena Iwanowna zur Bezahlung seiner Schulden ihr Kapital angreifen mußte, nahm sie ihm dies durchaus nicht übel, sondern hielt es im Gegenteil für ganz natürlich und richtig, daß diese »Impfung« an ihm schon frühzeitig und in guter Gesellschaft vorgenommen würde.
Anfänglich versuchte Nechljudow hiergegen anzukämpfen, doch ward ihm dies gar zu schwer gemacht, weil alles das, was er für gut hielt, sobald er an sich selbst glaubte, von den andern für böse gehalten wurde, während umgekehrt alles, was er, an sich selbst glaubend, für böse hielt, von allen, die ihn umgaben, für gut gehalten wurde. Die Sache endete damit, daß Nechljudow sich schließlich ergab, daß er aufhörte, sich selbst zu glauben, und nur noch den andern glaubte. Anfänglich war ihm dieser Verzicht wohl unangenehm, doch hielt die unangenehme Empfindung nicht lange an, und Nechljudow, der damals auch zu rauchen und Wein zu trinken begann, fühlte, als er diese unangenehme Empfindung nicht mehr hatte, sogar eine große Erleichterung.
Und mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seiner Natur ergab er sich nun diesem neuen, von allen Leuten seiner Umgebung gebilligten Leben und brachte jene mahnende Stimme in seinem Innern, die von ihm etwas anderes verlangte, ganz und gar zum Schweigen. Der Anfang dieser Wandlung fiel mit seiner Übersiedelung nach Petersburg zusammen, und sie war beendet, als er in den Kriegsdienst eintrat.
14
Der Beweggrund, weshalb Nechljudow diesmal seine Tanten besuchte, war zunächst der, daß das Gut der Tanten auf dem Wege lag, der ihn zu seinem auf dem Kriegsschauplatz befindlichen Regiment führte; dann hatten sie ihn auch sehr darum gebeten, sie zu besuchen – hauptsächlich aber