es geschehen müsse, küßten sie sich zum dritten Mal und lächelten beide.
»Kommen Sie nicht mit zum Geistlichen?« fragte Nechljudow.
»Nein, wir bleiben noch ein Weilchen hier, Dmitrij Iwanowitsch,« sagte Katjuscha, die wie nach einer freudig getanen Arbeit aus voller Brust aufatmete und ihm dabei mit ihren treuen, jungfräulichen, liebenden, kaum merklich schielenden Augen gerade in die Augen sah.
Es gibt in der Liebe zwischen Mann und Frau stets einen Augenblick, in dem diese Liebe ihren Zenit erreicht und nichts Bewußtes, Verstandesmäßiges noch auch Sinnliches hat. Ein solcher Augenblick war für Nechljudow in dieser heiligen Nacht der Auferstehung Christi gekommen. Wenn er jetzt an Katjuscha dachte, so sah er sie nur so, wie sie in jenem Augenblick gewesen – alle andern Lagen, in denen er sie gesehen, traten in den Hintergrund. Er sah das glänzendschwarze Köpfchen, das weiße Kleid mit den Fältchen, das ihre mädchenhaft schlanke Taille und ihre zarte Brust umhüllte, sah das Rot ihrer Wangen, die sanften, mattglänzenden schwarzen Augen, und vor allem die in ihrem ganzen Wesen ausgeprägten zwei Hauptzüge: die Keuschheit ihrer jungfräulichen Liebe nicht nur zu ihm – von der wußte er schon lange – sondern ihrer Liebe zu allen und allem, nicht nur zu allem Guten und Schönen, das es irgend in der Welt gibt, sondern auch zu jenem Bettler, den sie geküßt hatte.
Er wußte, daß diese Liebe in ihr war, weil er während dieser Nacht und dieses Morgens auch in sich selbst das gleiche Gefühl empfand und sich bewußt war, daß er in dieser Liebe mit ihr in eins zusammenschmolz.
Ach, wenn doch alles dies bei dem Gefühl, das ihn in jener Nacht beseelte, stehen geblieben wäre! »Ja, dieses Furchtbare, Entsetzliche geschah nach jener heiligen Nacht der Auferstehung Christi!« dachte er jetzt, als er am Fenster des Geschworenenzimmers saß.
16
Aus der Kirche zurückgekehrt, hatte Nechljudow mit den Tanten das Ostermahl eingenommen, und um sich zu stärken, hatte er nach der beim Regiment angenommenen Gewohnheit dem Branntwein und Wein zugesprochen. Er ging dann auf sein Zimmer und schlief sogleich in den Kleidern ein. Ein Klopfen an der Tür weckte ihn. Er erkannte an dem Klopfen, daß sie es war, und er erhob sich, rieb sich die Augen und reckte die Glieder.
»Katjuscha, bist du es? Komm doch herein!« sagte er, während er sich erhob.
Sie öffnete die Tür ein wenig.
»Sie sollen zu Tisch kommen,« sagte sie.
Sie trug immer noch das weiße Kleid, doch ohne die Schleife im Haar. Sie sah ihm in die Augen und strahlte übers ganze Gesicht, als hätte sie ihm etwas ganz besonders Freudiges zu sagen gehabt.
»Ich komme gleich,« antwortete er und nahm den Kamm, um sein Haar zu kämmen.
Sie blieb noch einen Augenblick stehen. Er bemerkte das, warf den Kamm weg und näherte sich ihr. In diesem Augenblick jedoch wandte sie sich rasch um und ging mit ihrem gewohnten, leichten Schritt auf dem buntgestreiften Läufer des Korridors davon.
»Was für ein Dummkopf bin ich doch!« sagte sich Nechljudow – »warum habe ich sie nicht zurückgehalten?«
Und er lief ihr nach und holte sie im Korridor ein.
Was er von ihr wollte, wußte er selbst nicht. Es schien ihm jedoch, daß er, als sie in sein Zimmer kam, irgend etwas hätte tun sollen, was alle in einem solchen Falle zu tun pflegen, er aber nicht getan hatte.
»So wart' doch, Katjuscha,« sagte er.
Sie blickte sich um.
»Was wünschen Sie?« sagte sie stehen bleibend.
»Nichts weiter, nur ...«
Und da er wußte, was in solchen Fällen alle Leute in seiner Lage zu tun pflegen, zwang er sich, dasselbe zu tun und faßte Katjuscha um die Taille.
Sie blieb stehen und sah ihm in die Augen.
»Nicht doch, Dmitrij Iwanowitsch, nicht doch!« sagte sie tief errötend, den Tränen nahe, und entfernte mit ihrer rauen, kräftigen Hand den sie umfassenden Arm.
Nechljudow ließ sie los, und für einen Augenblick fühlte er sich verlegen und beschämt, ja er empfand sogar Abscheu vor sich selbst. Er hätte nun sich selbst glauben sollen, doch er begriff nicht, daß diese Verlegenheit, diese Scham die besten Gefühle seiner Seele waren, die sich hier offenbarten. Es schien ihm im Gegenteil, daß es lediglich seine Dummheit sei, die sich so äußerte, und daß er nunmehr das tun müsse, was alle in solchem Falle zu tun pflegen.
Er holte sie nochmals ein, umarmte sie wieder und küßte sie auf den Hals. Dieser Kuss war schon von ganz anderer Art als die beiden früheren: jener unbewußte hinter dem Fliederbusch, und dann der zweite heute früh in der Kirche. Dieser dritte Kuss hatte etwas Furchtbares, und sie fühlte das.
»Was tun Sie denn?« schrie sie mit einer Stimme, als habe er etwas unendlich Kostbares in Scherben geschlagen, und lief fort, so rasch sie konnte.
Er kam in das Speisezimmer. Die Tanten standen feiertäglich gekleidet mit dem Hausarzt und einer Nachbarin bei dem Tische mit dem kalten Imbiss. Alles war ganz so wie gewöhnlich, nur in Nechljudows Seele tobte ein Sturm. Er verstand nichts von dem, was zu ihm gesprochen wurde, gab verkehrte Antworten und dachte nur an Katjuscha. Er war noch ganz im Banne der Empfindung, die er bei jenem letzten Kuss im Korridor gehabt hatte, und konnte an nichts anderes denken. Wenn sie ins Zimmer trat, fühlte er, ohne sie anzusehen, doch mit seinem ganzen Wesen ihre Gegenwart, und mußte sich gewaltsam beherrschen, um sie nicht anzusehen.
Sogleich nach dem Mittagessen begab er sich in sein Zimmer und ging darin in großer Erregung lange auf und ab, wobei er auf jeden Laut, der sich im Hause vernehmen ließ, lauschte und jeden Augenblick ihren Schritt zu vernehmen hoffte. Jener animalische Mensch, der in ihm lebte, hatte jetzt nicht nur sein Haupt erhoben, sondern trat auch den geistigen Menschen unter seine Füße, der damals, bei seinem ersten Besuche, in ihm gelebt hatte und auch heute früh in der Kirche noch in ihm lebendig gewesen war. Dieser animalische Mensch herrschte jetzt ganz allein in seiner Seele. Obschon Nechljudow Katjuscha förmlich belauerte, gelang es ihm im Laufe des Tages doch nicht ein einziges Mal, ihr zu begegnen. Er nahm an, daß sie ihm aus dem Wege gehe. Gegen Abend jedoch fügte es sich, daß sie in das Zimmer gehen mußte, das neben dem seinigen lag. Der Doktor blieb über Nacht, und Katjuscha sollte für den Gast das Bett machen. Als Nechljudow ihre Schritte vernahm, ging er leise, mit verhaltenem Atem, als sei er im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, hinter ihr in das Gastzimmer.
Sie hatte beide Arme in den frischen Kissenüberzug gesteckt und hielt mit den Händen die Ecken des Kissens fest – und in dieser Haltung blickte sie sich lächelnd nach ihm um, doch war es kein frohes, heiteres Lächeln wie früher, es lag darin vielmehr etwas Erschrockenes, Klägliches. Dieses Lächeln schien ihm zu sagen, daß das, was er tat, eine Schlechtigkeit sei. Einen Augenblick hielt er inne. Noch war die Möglichkeit eines Kampfes gegeben. Noch ließ sich, wenn auch nur schwach, in seinem Innern die Stimme wahrer Liebe zu ihr vernehmen, die ihm von ihr, von ihren Gefühlen, von ihrem Leben sprach. Doch eine andere Stimme sprach: »Gib acht, sonst entgeht dir dein Genuss, dein Glück!« Und diese zweite Stimme übertönte die erste, und ein furchtbares, unwiderstehliches animalisches Gefühl bemächtigte sich seiner.
Er ließ sie nicht aus seinen Armen, setzte sie auf das Bett und ließ sich in dem Gefühl, daß nun noch etwas geschehen müsse, neben ihr nieder.
»Dmitrij Iwanowitsch, mein Lieber, lassen Sie mich, bitte, bitte, los!« – sprach sie mit kläglich flehender Stimme. »Matrona Pawlowna kommt!« schrie sie dann plötzlich und riß sich von ihm los.
Wirklich näherte sich jemand der Tür.
»Ich komme in der Nacht zu dir,« sprach Nechljudow. »Du bist doch allein?«
»Was fällt Ihnen ein? Um nichts in der Welt!« sagte sie, doch nur mit dem Munde, während ihr ganzes erregtes, verwirrtes Wesen etwas anderes sagte.
Es war in der Tat Matrona Pawlowna, die an die Tür gekommen war. Sie trat