Tags darauf traf der charmante, muntere Schönbock bei den Tanten ein, um Nechljudow abzuholen. Durch seine Eleganz, seine Liebenswürdigkeit, Lustigkeit, Freigebigkeit und seine Anhänglichkeit an Dmitrij bezauberte er die Tanten vollkommen. Seine Freigebigkeit gefiel zwar den Tanten, machte sie jedoch andrerseits durch ihr Übermaß ein wenig bedenklich. Ein paar blinden Bettlern, die um ein Almosen baten, schenkte er einen Rubel, an Trinkgeldern verteilte er gegen fünfzehn Rubel, und als Susette, Sofia Iwanownas kleiner Bologneser, sich in seiner Gegenwart ein Bein verletzte, so daß sogar Blut kam, erbot er sich, dem Tierchen einen Verband anzulegen, und riß ohne Besinnen sein feines Batisttuch mit Randstreifen – Sofia Iwanowna wußte, daß diese Tücher wenigstens fünfzehn Rubel das Dutzend kosteten – in Stücke, um daraus eine Binde für Susette zu machen. Die Tanten hatten solche Leute noch nie gesehen und hatten keine Ahnung, daß dieser Schönbock zweihunderttausend Rubel Schulden hatte, die, wie er bestimmt wußte, nie bezahlt wurden, und daß daher fünfundzwanzig Rubel mehr oder weniger für ihn nichts ausmachten.
Schönbock blieb nur einen Tag und reiste in der folgenden Nacht mit Nechljudow zusammen ab. Sie konnten nicht länger bleiben, da die Frist, innerhalb deren sie sich beim Regiment einzufinden hatten, bereits ablief.
An diesem letzten Tage, den Nechljudow bei den Tanten verbrachte, und an dem die Erinnerung an die Geschehnisse der Nacht in ihm noch ganz frisch war, erhoben sich in seiner Seele zwei Gefühle, die einander lebhaft widerstritten: das eine davon waren die heißen sinnlichen Erinnerungen an die animalische Liebe – die ihm freilich bei weitem nicht das gewährt hatte, was sie versprochen – und eine gewisse Genugtuung über das erreichte Ziel; das andere Gefühl war die Empfindung, daß er etwas sehr Böses begangen habe, und daß er dieses Böse wieder gutmachen müsse, nicht ihretwegen, sondern um seiner selbst willen.
In jenem Zustande egoistischen Wahns, in dem er sich befand, dachte Nechljudow nur an sich selbst, legte sich nur die eine Frage vor, ob und inwieweit man ihn verurteilen würde, wenn es herauskommen sollte, wie er gegen sie gehandelt – nicht im mindesten aber bekümmerte es ihn, was sie empfand, und was mit ihr sein würde.
Er nahm an, daß Schönbock seine Beziehungen zu Katjuscha erriet, und das schmeichelte seiner Eigenliebe.
»Darum also hast du plötzlich deine Tanten so liebgewonnen,« sagte Schönbock zu ihm, nachdem er Katjuscha gesehen – »das hält dich hier schon eine ganze Woche fest! Nun, auch ich wäre an deiner Stelle geblieben: sie ist reizend!«
Er dachte dann weiter, daß, wenn es auch bedauerlich sei, daß er jetzt fort mußte, ohne die Liebe zu ihr voll genossen zu haben, doch andrerseits diese notwendige Abreise den Vorteil hatte, daß sie mit einem Mal einem Verhältnis ein Ende machte, das er doch nur schwer hätte fortsetzen können. Er dachte auch daran, daß er ihr Geld geben müsse, nicht ihretwegen, nicht, weil sie vielleicht dieses Geld nötig haben würde, sondern weil es eben üblich war, Geld zu geben. Er beschloß, ihr so viel Geld zu geben, als nach seiner Ansicht seiner und ihrer Lage angemessen war.
Am Tage der Abreise, nach dem Mittagessen, erwartete er sie im Hausflur. Sie errötete tief, als sie ihn sah, und wollte an ihm vorübergehen, wobei sie mit den Augen nach der offenen Tür des Mädchenzimmers wies; doch er hielt sie zurück.
»Ich wollte mich verabschieden,« sagte er, ein Kuvert mit einem Hundertrubelschein in der Hand zerknitternd. »Hier, ich ...«
Sie erriet seine Absicht, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und stieß seine Hand fort.
»Nein, nimm nur,« flüsterte er und steckte ihr das Kuvert in den Busen. Als ob er sich verbrannt hätte, lief er, das Gesicht verziehend und fast aufstöhnend, in sein Zimmer.
Und lange darauf noch ging er in seinem Zimmer auf und ab, krümmte sich, sprang in die Höhe und ächzte laut, wie in körperlicher Qual, sobald er sich dieser Szene erinnerte.
Doch was sollte er tun? Es ist immer dieselbe Geschichte. So war es auch mit Schönbock und der Gouvernante gewesen, von der jener ihm erzählt hatte; so war es mit Onkel Grischa gewesen, und so war es auch mit seinem eignen Vater, als dieser auf seinem Landgute lebte und ihm von einem Dorfmädchen ein unehelicher Sohn, Mitenjka, geboren wurde, der noch am Leben war. Wenn alle es so machten, dann mußte es jedenfalls so richtig sein. So suchte er sich zu trösten, ohne doch in Wirklichkeit einen Trost zu finden. Diese Erinnerung brannte ihn tief in seiner Seele.
Dort, auf dem tiefsten Grunde seiner Seele, hatte er das Bewusstsein, so abscheulich, gemein und grausam gehandelt zu haben, daß er mit dem Bewusstsein dieser Handlung fortan nicht nur keinen Menschen verurteilen, sondern den Menschen überhaupt nicht in die Augen sehen durfte, ganz davon zu schweigen, daß er sich noch länger für den vortrefflichen, edlen, großherzigen Jüngling halten durfte, für den er sich bisher gehalten. Es war ihm aber Bedürfnis, sich für einen solchen zu halten, wenn anders er frisch und froh weiterleben wollte. Dafür gab es nur ein einziges Mittel: nicht an die Sache zu denken. Und das tat er denn auch.
Das Leben, in das er nun eintrat: die neue örtliche Umgebung, die Kameraden, der Krieg – halfen ihm dabei. Und je länger er lebte, desto mehr vergaß er, bis er es schließlich wirklich ganz vergessen hatte.
Nur einmal, als er nach dem Kriege in der Hoffnung, Katjuscha wiederzusehen, bei den Tanten vorsprach und erfuhr, daß sie nicht mehr da sei, daß sie bald nach seiner Abreise von ihnen weggezogen und, wie die Tanten gehört hatten, ganz und gar verkommen sei – nur dieses eine Mal fühlte er sich recht bedrückt und beklommen. Das Kind, das sie geboren hatte, konnte der Zeit nach sein Kind sein, aber es konnte ebensogut nicht das seinige sein. Die Tanten sagten, sie sei ganz verdorben, sei zum Laster veranlagt gewesen, ebenso wie ihre Mutter. Und dieses Urteil der Tanten war ihm angenehm, weil es ihn zu rechtfertigen schien. Anfangs hatte er noch die Absicht gehabt, sie und das Kind aufzusuchen, dann aber gab er, da in der Tiefe seiner Seele der Schmerz und die Scham bei jedem Gedanken an sie doch noch zu lebhaft waren, alle Bemühungen, sie aufzufinden, auf, vergaß vollends seine Sünde und hörte auf, an sie zu denken.
Und nun rief dieser sonderbare Zufall wieder alle Erinnerungen in ihm wach und zwang ihn zu dem Bekenntnis seiner Herzlosigkeit, Grausamkeit und Verworfenheit, die es ihm ermöglicht hatten, während dieser zehn Jahre mit einer solchen Schuld auf dem Gewissen ruhig fortzuleben. Freilich war er von diesem Bekenntnis noch weit entfernt und augenblicklich nur von der einen Befürchtung erfüllt, daß die Sache jetzt ans Tageslicht kommen, daß sie oder ihr Verteidiger alles erzählen und ihn vor aller Welt blamieren könnte.
19
In dieser seelischen Verfassung befand sich Nechljudow, als er aus dem Gerichtssaal sich in das Geschworenenzimmer hinausbegeben hatte. Er saß am Fenster, hörte auf die Gespräche, die rings um ihn geführt wurden, und rauchte in einem fort.
Der lustige Kaufmann hatte offenbar ein tiefes Verständnis für den Zeitvertreib, den der Kaufmann Smjelkow sich vor seinem Tode gewählt hatte.
»Der hat es verstanden, Bruder! Der hat die Sache auf echt sibirische Art angefaßt! Der wußte, wo Bartel den Most holt: was für ein Prachtmädel er sich ausgesucht hat!«
Der Obmann machte einige Äußerungen, des Inhalts, daß alles auf die Aussage der Sachverständigen ankomme. Peter Gerassimowitsch machte dem jüdischen Kommis gegenüber irgendeine scherzhafte Bemerkung, worauf dann beide laut zu lachen begannen. Nechljudow antwortete nur einsilbig auf alle an ihn gerichtete Fragen und hatte nur den einen Wunsch, daß man ihn in Ruhe lassen möchte.
Als der Nuntius mit seinem schiefen Gange ins Zimmer trat und die Geschworenen in den Sitzungssaal zurückrief, empfand Nechljudow eine Angst, als ob er nicht als Richter, sondern als Angeklagter den Saal betreten sollte. In der Tiefe seiner Seele fühlte er schon, daß er ein Schurke sei, der sich schämen müsse, den Menschen in die Augen zu sehen, doch betrat er gleichwohl die Estrade in der gewohnten sicheren Haltung und setzte sich auf seinen Platz, als zweiter nach dem Obmann. Er legte ein Bein über das andere und begann mit seinem Pincenez zu spielen.
Auch die Angeklagten waren irgendwohin hinausgeführt worden und wurden soeben wieder zurückgebracht.