darauf, daß er, wenn er auch keinen Branntwein trank, doch wenigstens an dem Seitentisch, auf dem Hummer, Kaviar, allerhand Käse und Sardinen serviert waren, einen Imbiss nähme. Nechljudow hätte nicht geglaubt, daß er so hungrig sei, als er jedoch erst ein Stück Käse mit Brot gegessen hatte, konnte er gar nicht mehr aufhören und aß mit förmlichem Heißhunger.
»Na, haben Sie nun die Fundamente der Gesellschaft untergraben?« sagte Kolossow, indem er sich ironisch eines Ausdrucks bediente, den eine reaktionäre Zeitung bei ihren Angriffen gegen die Geschworenengerichte gebraucht hatte. »Haben Sie die Schuldigen freigesprochen und die Unschuldigen verurteilt, ja?«
»Die Fundamente untergraben, he, he ... die Fundamente untergraben ...« wiederholte lachend der alte Kortschagin, der zu der Klugheit und Gelehrsamkeit seines liberalen Kollegen und Freundes ein unbegrenztes Vertrauen hatte.
Nechljudow wollte es darauf ankommen lassen, daß man ihn für unhöflich hielt, und fuhr, ohne Kolossow zu antworten, fort, die vor ihm stehende dampfende Suppe auszulöffeln.
»Lassen Sie ihn doch essen,« sagte Missi lächelnd, indem sie durch das Fürwort »ihn« ihre vertrauliche Beziehung zu Nechljudow andeutete.
Kolossow erzählte inzwischen rasch und laut den Inhalt des in Frage stehenden Artikels über die Geschworenengerichte, der seinen lebhaften Unwillen erregt hatte. Michail Sergejewitsch, der Vetter Missis, pflichtete ihm bei und erzählte den Inhalt eines andern Artikels derselben Zeitung.
Missi war, wie immer, sehr distinguiert und, ohne aufzufallen, mit Schick gekleidet.
»Sie sind jedenfalls sehr ermüdet und hungrig,« sagte sie zu Nechljudow, nachdem sie gewartet, bis er seine Suppe gegessen hätte.
»Nein, nicht besonders ... Und was haben Sie getrieben? Waren Sie in der Gemäldeausstellung?« fragte er.
»Nein, wir haben es aufgeschoben. Wir haben bei den Salamatows Tennis gespielt. Dieser Mister Crookes spielt wirklich ausgezeichnet.«
Nechljudow war gekommen, um sich zu zerstreuen, und das Verweilen in diesem Hause war ihm sonst immer angenehm gewesen, nicht nur, weil der vornehm-behagliche Ton, der hier herrschte, auf seine Stimmung günstig einwirkte, sondern auch, weil das liebenswürdige Entgegenkommen, das man ihm persönlich bewies, ihn mit einer wohligen, anheimelnden Atmosphäre umgab. Heute dagegen war ihm sonderbarerweise alles in diesem Hause zuwider – vom Portier, von der breiten Treppe, den Blumen, den Lakaien, dem Arrangement der Tafel bis zu Missi selbst, die ihm heute unnatürlich und wenig anziehend erschien. Unangenehm war ihm auch dieser selbstgefällige, banale, liberale Ton Kolossows, und die sinnliche Gestalt des alten Kortschagin, die etwas vom Stier an sich hatte, und die französischen Phrasen der Slawophilin Katerina Alexejewna, und die gedrückten Gesichter der Gouvernante und des Repetitors, und vor allem dieses Fürwort »ihn«, das Missi auf ihn angewandt hatte ... Nechljudow hatte von jeher zwischen zwei Auffassungen von Missis Wesen hin und her geschwankt: entweder sah er, wie bei halbgeschlossenen Lidern oder bei Mondschein, an ihr alles Schöne, sie erschien ihm frisch, hübsch, klug und natürlich; oder er sah plötzlich mit aller Deutlichkeit, wie bei hellem Sonnenlicht, an ihr alle Mängel, alles Unvorteilhafte. Heute nun war solch ein Tag für ihn. Er sah alle Fältchen auf ihrem Gesichte, sah das künstlich toupierte Haar und die spitzen Ellenbogen, und vor allem den breiten Daumennagel, der ihn an den ebenso geformten Nagel ihres Vaters erinnerte.
»Ein sehr langweiliges Spiel, dieses Tennis,« sagte Kolossow – »da waren doch die Ballspiele, die wir als Kinder spielten, weit amüsanter.«
»Nein, Sie haben es noch nicht versucht – es ist riesig interessant,« antwortete Missi, wobei sie das Wort »riesig« nach Nechljudows Meinung ganz besonders geziert sprach.
Es begann nun ein Streit, an dem auch Michail Sergejewitsch und Katerina Alexejewna teilnahmen. Nur die Gouvernante, der Repetitor und die Kinder schwiegen – sie langweilten sich offenbar.
»Ewig müssen sie streiten!« bemerkte laut lachend der alte Kortschagin, nahm die Serviette aus der Weste und erhob sich, mit dem Stuhle polternd, den der Lakai sogleich auffing. Gleich nach ihm erhoben sich auch alle andern, traten an ein Tischchen, auf dem Spülnäpfe und Gläser mit parfümiertem lauem Wasser standen, spülten sich den Mund aus und setzten dabei ihre Unterhaltung fort, an der im Grunde genommen niemand ein Interesse hatte.
»Nicht wahr?« wandte sich Missi an Nechljudow, um seine Zustimmung zu ihrer Behauptung herauszufordern, daß man den Charakter eines Menschen am besten beim Spiel studieren könne. Sie hatte auf seinem Gesicht jenen reservierten und, wie ihr schien, mißbilligenden Ausdruck bemerkt, den sie an ihm fürchtete, und sie wollte wissen, wodurch er hervorgerufen wäre.
»Ich weiß es, offen gesagt, nicht, und habe auch niemals darüber nachgedacht,« antwortete Nechljudow.
»Wollen wir nicht zu Mama gehen?« fragte Missi.
»Ja, ja,« sagte er, während er eine Zigarette hervorholte, in einem Tone, der deutlich erkennen ließ, daß er durchaus keine große Lust hatte, mit ihr zu gehen.
Sie schwieg und sah ihn fragend an. Er wurde verlegen. »Ich bin doch eigentlich nicht hergekommen, um die Leute anzuöden,« sagte er sich und bemerkte in möglichst liebenswürdigem Tone, er würde sehr gern mitgehen, wenn die Fürstin ihn empfangen wolle.
»Ja, ja, Mama wird sich freuen. Rauchen können Sie auch dort. Auch Iwan Iwanowitsch ist da.«
Fürstin Sofia Wassiljewna, die Dame des Hauses, war seit nahezu acht Jahren an den Krankenstuhl gefesselt. Sie empfing auch ihre Gäste liegend, in Spitzen und Bändern, in einer Umgebung von Samt, Goldschmuck, Elfenbein, Bronze, Lack und Blumen; sie machte keine Besuche und sah, wie sie sich ausdrückte, nur ihre Freunde bei sich, das heißt alles, was nach ihrer Meinung irgendwie über die Menge emporragte. Auch Nechljudow gehörte zu diesen Auserlesenen, weil er als ein verständiger junger Mann galt, weil seine Mutter mit der Familie intim befreundet gewesen war, und weil es doch recht nett gewesen wäre, wenn Missi ihn geheiratet hätte.
Das Zimmer der Fürstin Sofia Wassiljewna lag hinter dem großen und dem kleinen Empfangszimmer. In dem großen Empfangszimmer blieb Missi, die vor Nechljudow herging, entschlossen stehen, faßte nach der Lehne eines vergoldeten kleinen Sessels und sah ihn an.
Missi hätte Nechljudow, der als eine gute Partie galt, gar zu gern geheiratet. Er gefiel ihr außerdem, und sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß er der Ihrige – nicht sie die Seinige, sondern eben er der Ihrige – werden würde, und sie arbeitete mit einer zwar unbewußten, doch um so hartnäckigeren Verschlagenheit, wie man sie häufig auch bei Geisteskranken findet, auf dieses Ziel hin. Wenn sie ihn jetzt in dieses Gespräch gezogen hatte, so war es geschehen, weil sie ihn endlich zu einer Erklärung veranlassen wollte.
»Ich sehe, daß Ihnen irgend etwas begegnet ist,« sagte sie, »was ist Ihnen?«
Er erinnerte sich der Begegnung im Gerichtssaale und errötete, während seine Brauen sich verfinsterten.
»Ja, es ist mir etwas begegnet,« sagte er, in dem Bestreben, die Wahrheit zu sagen – »etwas Seltsames, Ungewöhnliches, Bedeutsames.«
»Was ist es? Können Sie es mir nicht sagen?«
»Nein, ich kann es jetzt nicht sagen. Gestatten Sie mir, darüber zu schweigen. Ich habe noch nicht Zeit gefunden, mir darüber vollkommen klar zu werden,« sagte er und errötete noch stärker.
»Und Sie werden es mir nicht sagen?« fragte sie, während ein Zucken über ihr Gesicht ging und der Stuhl, an dem sie sich festhielt, von seiner Stelle rückte.
»Nein, ich kann es nicht,« antwortete er, und er fühlte dabei, daß er die Antwort, die er ihr gab, auch sich selbst gab, und daß er damit zugestand, wirklich etwas höchst Bedeutsames erlebt zu haben.
»Nun, dann gehen wir.«
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sich irgend welcher überflüssigen Gedanken erwehren, und ging, rascher als sonst, voran.
Es schien ihm, als presse sie ihre Lippen in unnatürlicher Weise aufeinander, um ihre Tränen zurückzuhalten. Es bedrückte