Impressum
»BeOne«
Band 3 der »BePolarTrilogie«
Text © Martha Kindermann 2020
An der Vogelweide 88, 04178 Leipzig
Coverdesign © Kurt Stolle, Martha Kindermann
epubli, ein Service
der neopubli GmbH, Berlin
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»Einen Engel erkennt man erst,
wenn er vorübergegangen ist.«
Volksweisheit
Lebe, liebe, genieße und feiere!
Sei dankbar für jeden Engel, dessen Flügel dich streift.
Für jede Sekunde, in der du atmen darfst, beschützt wirst und dich mutig fallenlassen kannst.
Prolog
Meine Füße tun weh. Die Kabelbinder, mit denen die Boliden unsere Hände zusammengebunden haben, schneiden mir tief ins Fleisch und scheuern seit endlosen Minuten an meinen Gelenken. Ich weiß nicht, wie lange wir schon unterwegs sind, aber die Abenddämmerung setzt ein und ein Ziel ist noch nicht in Sicht. Meine Kehle ist so trocken, dass die kühle Luft bei jedem Atemzug schmerzhaft meinen Hals hinunterkriecht. Jeden Moment werden mir die Augen zufallen.
»Roya, alles gut?« Tam marschiert direkt hinter mir durch die Tunnel und riskiert mit jedem Wort sein Leben für mich.
»Ruhe da vorn, verstanden?«, fährt uns eine bedrohlich klingende Männerstimme an, »Es interessiert niemanden, was die Damen und Herren Eleven zu sagen haben. Hier habt ihr gefälligst still zu sein!«
Ein großer Typ mit Glatze und langem Ledermantel zerrt Tam nach hinten und bereitet so jedweder Konversation ein Ende. Auch wenn es mich förmlich zerreißt, ich kann mich nicht nach ihm umsehen. Ich muss die Augen geradeaus richten und die gehorsame Geisel mimen. Andernfalls verspiele ich meine Zukunft. Eine Zukunft, für die ich kämpfen wollte. Für die ich kämpfen werde. Eine Zukunft in Polar, einem friedlichen und gerechten Land, welches für seine Bevölkerung stark und transparent ist, auf deren Bedürfnisse schaut und keinen Bürgerkrieg favorisiert, um der Regierung mehr Macht zu verschaffen.
»Steh auf, Mädchen! Aber plötzlich!«
Die Karawane stoppt und der Grund dafür liegt nur wenige Meter vor mir: Tamika. Meine Teamkameradin ist auf Grund ihrer dunklen Hautfarbe in diesen düsteren Gängen kaum auszumachen, aber es ist deutlich erkennbar, dass sie heute keinen Meter mehr laufen wird. Weitere bewaffnete Boliden eilen nach vorn und treten gegen ihren erschlafften Körper. Warum? Warum treten sie auf sie ein? Warum haben sie zwei Speere in unseren Freund Melwin gejagt und warum habe ich mein Nahkampftraining seit der Landung in Middens Regierungspalast so vernachlässigt?
Ich schreie, so laut ich kann. Ich werfe mich wütend gegen meinen persönlichen Begleiter, um mich an Tamikas Seite zu kämpfen, aber es ist zwecklos. Tam schüttelt den Kopf und signalisiert mir mich zu beruhigen. ›Sie werden ihr nichts tun‹, formen seine Lippen, doch ich kann mich nicht beruhigen. Mein Magen krampft, mein Hals brennt, meine müden Augen füllen sich mit Wasser und ich kann nichts, aber auch gar nichts gegen dieses schreckliche Gefühl tun. Was, wenn ich mich ebenfalls fallen lasse und auch die Jungs eine Erschöpfung vortäuschen, die man ihnen zweifellos abkaufen würde? Ließen sie uns hier unten in der Einsamkeit der östlichen Tunnelsysteme liegen und elendig verrecken?
»Du und du – herkommen!« Der Glatzkopf zeigt auf Sly und Tam und schubst sie unsanft nach vorn, bis sie vor Tamikas geschundener Gestalt stehenbleiben. »Tragt sie!«
Das können sie nicht verlangen! Wir Eleven haben zwei Tage nichts mehr gegessen, sind völlig dehydriert und seit dem Start dieses dämlichen Camps ununterbrochen auf den Beinen.
»Wird’s bald?« Die nackte Angst spricht aus ihren dunkel unterlegten Augen und bringt mich erneut zum Heulen. Tam beugt sich hinunter und nimmt Tamika mit seinen verbliebenen Kräften wie eine Prinzessin auf die Arme.
»Wir wechseln uns ab«, gibt er Sly und den Boliden zu verstehen und macht die ersten vorsichtigen Gehversuche.
In diesem Moment bin ich so wahnsinnig, wahnsinnig vernarrt in ihn, dass sich mein Mund zu einem Schmunzeln verzieht und meine Lippen den salzigen Geschmack der Tränenbäche annehmen. Er ist tough, das wusste ich, aber die Selbstlosigkeit, die er gerade an den Tag legt, kannte ich bisher nur von seinem Bruder.
Und schon schweifen meine Gedanken inmitten der puren Verzweiflung zu Tristan. Wo auch immer er ist, für wen auch immer er kämpft, was ihn auch immer gerade antreibt – ich hoffe, es geht ihm besser als uns und er hat mich noch nicht vergessen. Seit er mit meinem vermeintlichen Bruder Rafael auf der gegnerischen Seite mitmischt und BePolar den Rücken zugewendet hat, habe ich kein Sterbenswörtchen mehr von ihm gehört. Zugegeben, wir Eleven wurden seit Beginn der Initiation von der Außenwelt abgeschottet, um uns ganz auf die Show und unsere politische Weiterentwicklung zu konzentrieren. Wer in wenigen Jahren bereit sein will ein ganzes Land zu führen, darf sich nicht durch Liebeleien ablenken lassen, oder? Wie also hätte Tristan mich kontaktieren sollen, wo er jetzt, aufgrund seiner roten Turnschuhe, auch noch landesweit gesucht wird? Er hat dafür gesorgt, dass unsere einstige Mitstreiterin Taranee untertauchen konnte, nachdem der Rest ihres Teams auf mysteriöse Weise in unzählige Fetzen gerissen wurde und sie verschont blieb. Es bringt mich beinahe um den Verstand, nichts von Tristans Aufenthaltsort zu wissen, obwohl er mich offensichtlich verraten und hintergangen hat, indem er gemeinsame Sache mit diesen fanatischen Undergroundern macht.
»Weiter!« Eine Eisenstange wird gegen meinen Rücken gedrückt und lässt mich stolpern. Diese Boliden, deren Existenz ich bis vor wenigen Tagen noch für ein Ammenmärchen hielt, halten uns brutal in Schach. Wir sind auf der Suche nach unserem Mentoren Miles hier in Ost auf dem verseuchten Gelände einer alten Schuhfabrik gelandet und diesen wilden Outsidern direkt in die Arme gelaufen. Jetzt wollen sie uns an den Höchstbietenden verkaufen, wer auch immer das sein wird.
»Wie lange lässt Daloris uns eigentlich noch im Kreis laufen?« Im Kreis laufen? Hab ich den kleinwüchsigen Boliden mit dem Irokesenschnitt richtig verstanden?
»Klappe, AJ! Die Chefin hat uns einen Auftrag erteilt und wir befolgen ihn, klar soweit?« Der Glatzkopf brüllt dermaßen laut in mein Ohr, dass ich vor Schreck zusammenzucke.
»Zündest du auch deinen Wagen an, wenn Daloris dafür den ›Auftrag erteilt‹, GAM?« Interessant, Hierarchien gibt es also auch unter den Aussteigern unserer Gesellschaft. Ich nahm an, hier ist Anarchie das vorherrschende Prinzip und jeder lebt nach seinen eigenen Regeln.
»Sehr witzig, Zwerg!« Oh, gleich brennt die Luft. »Ich bin Soldat. Ich tue, wie mir befohlen. Sie sagte: ›nehmt nicht den direkten Weg‹, also zeigen wir diesen