wollten. Schließlich wurden die meisten Reiseandenken bald vergessen und staubten irgendwo ein, landeten vielleicht sogar im Keller oder auf dem Flohmarkt.
Ricarda beschloss, zum Abschied mal den traditionellen Wai auszuprobieren, von dem sie im Reiseführer gelesen hatte. Sie legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich leicht. „Danke für die Auskunft!“
Jetzt wirkte das Lächeln des Verkäufers überrascht, er erwiderte den Wai und sah ihnen hinterher, als sie weiterschlenderten. Bedeutete das, dass sie es richtig gemacht hatte oder dass die Verbeugung übertrieben tief gewesen war?
„Was meinst du, wollen wir uns noch den Königspalast anschauen?“, meinte Sofia. „Ich glaube, dann sollten wir uns eins dieser Tuk-Tuks schnappen, zu Fuß ist es zu weit.“
„Gute Idee“, antwortete Ricarda, ihre rechte Sandale war nämlich gerade dabei, ihren kleinen Zeh wundzuschubbern. Er hatte schon die Farbe einer reifen Kirsche.
Sofia einigte sich mit dem Tuk-Tuk-Fahrer auf einen Preis von zweihundert Baht, dann kletterten sie in den offenen Fahrgastraum und klammerten sich an einer Metallstange fest, damit sie während der rasanten Fahrt nicht hin- und hergeworfen wurden oder einfach hinten aus der dreirädrigen Höllenmaschine herausfielen. Sofias große silberne Ohrringe pendelten wild.
„Wieso habe ich gerade das Gefühl, dass wir beim Preis übers Ohr gehauen wurden?“, überlegte Sofia; sie musste fast schreien, damit Ricarda sie über den Verkehrslärm verstand.
„Wahrscheinlich, weil es so ist“, brüllte Ricarda zurück. „Aber es sind ja nur drei Euro, egal.“ Der Fahrtwind wehte ihr die langen dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht, was ganz praktisch war, weil sie dadurch mehr sah. Sie hatte sich vor ein paar Wochen einen neuen Haarschnitt zugelegt, in einer weichen Schwinge fiel ihr der Pony über die Stirn. Seither musste sie sich das Haar ständig aus den Augen streichen. Das nervte ein bisschen, wirkte aber hoffentlich elegant.
Sie sahen den Königspalast schon von weitem, mächtig und golden erhoben sich die Tempeldächer und -türme über der Stadt. Kein Hochhaus in ihrer Nähe machte ihnen die Herrschaft streitig, die gläsernen Fassaden der Wolkenkratzer ragten in einem anderen Bezirk der Stadt auf. Der Palast und die Tempelanlagen ließen Ricarda verstummen, sie waren unfassbar prächtig. Manche Gebäude wirkten edel und schlicht, andere bunt und verspielt, steingewordene Lebensfreude. Wie viele Menschen wohl daran gearbeitet hatten, diese Millionen von pastellfarbenen Porzellankacheln anzufertigen und festzukleben?
„Schau mal, manche Tempel werden bewacht“, sagte Sofia und deutete auf mannshohe, bunt kostümierte Dämonenstatuen mit Fratzengesichtern.
„Die sollen bestimmt böse Geister fernhalten“, meinte Ricarda und gähnte. Was nicht an den Dämonen lag, sondern am schrecklich langen Flug. Zum Glück nahmen es ihr die Dämonen nicht übel, dass sie angegähnt wurden, oder ließen es sich zumindest nicht anmerken.
„Ich glaube eher, die sollen schamlose Touristinnen mit Shorts verjagen.“ Sofia grinste. Obwohl es ganz schön heiß war, trugen sie lange Hosen – sonst wären sie nicht eingelassen worden.
Sie teilten sich eine Limo und ruhten sich an einem Teich aus, in dem Lotusblüten die Oberfläche bedeckten. Die rosa-weißen Knospen waren geformt wie Regentropfen und größer als ein Hühnerei. Neugierig beobachtete Ricarda, wie zwei Mönche in orangefarbenen Roben und Sandalen über das Gelände gingen. Ernst und würdig sahen sie aus mit ihren kahl geschorenen Köpfen ...
Der Nachtzug nach Chiang Mai ging erst am Abend, ihr Gepäck hatten sie schon zum Bahnhof gebracht und dort deponiert. Am liebsten hätte sich Ricarda bis zur Abfahrt auf irgendeine Parkbank gelegt und die Augen geschlossen. Doch erstens trug die Bank, die sie sich ausgeguckt hatte, bei näherem Hinsehen ein kleines Schild mit dem Hinweis „For Monks only – Nur für Mönche“, und zweitens kam eine solche Freizeitplanung für Sofia nicht in Frage.
„Vergiss es, wir gehen jetzt noch einen Cocktail trinken“, sagte sie.
„Einen Cocktail?“ Ricarda dachte kurz darüber nach, was ihr Vater dazu sagen würde, wenn sie jetzt gleich ein eisgekühltes alkoholisches Getränk schlürfte. Nicht viel, was druckreif wäre. Aber praktischerweise befand sich ihr Vater gerade mehrere tausend Kilometer entfernt. Ricarda lächelte selig. „Okay.“
„Und wehe, du überlegst es dir anders und bestellst mal wieder Johannisbeerschorle.“
„Gibt´s doch hier eh nicht.“
Kurz darauf stießen sie in einem Restaurant an: Ricarda mit einer riesigen, mit Ananas-Stücken und lila Blüte verzierten Piña Colada, Sofia mit einem Mai Tai aus Rum, Mandelsirup, Zitronen- und Limettensaft. Ricarda probierte – hm, lecker. So einen würde sie sich auch noch bestellen.
Sie lehnte sich in ihrem Rattanstuhl zurück, genoss den kühlen Luftzug der Deckenventilatoren und fühlte sich so unbeschwert, so glücklich wie lange nicht. Wie ungewohnt, ohne ihre Familie in einem Restaurant zu sitzen. Deutschland? Miefiges Spießerland! Wie hatte sie es nur so lange dort ausgehalten? Vielleicht sollte sie auswandern. Sie würde Buddhistin werden und in einen Tempel eintreten. Ging das überhaupt? Bisher hatte sie keine einzige Frau im orangefarbenen Gewand gesehen, nur Männer.
Ricarda blinzelte. Sie hatte zu viel getrunken. Ja, die zwei Cocktails waren eindeutig übertrieben gewesen. Schließlich konnte es nicht sein, dass da vorne ein Elefantenrüssel durch die jetzt offen stehende gläserne Eingangstür mitten ins Restaurant hineinragte. Aber trotzdem, es sah einem Elefantenrüssel wirklich täuschend ähnlich: lang, grau, beweglich wie eine Schlange.
Ricarda kniff die Augen zusammen und schaute nochmal ganz genau hin.
Es sah immer noch genauso aus. Gab es in Thailand eigentlich Riesenschlangen?
Sofia saß mit dem Rücken zur Tür. In Zeitlupe beugte sich Ricarda über den Tisch und flüsterte ihr zu: „Dreh dich mal vorsichtig um und sag mir, was du siehst.“
Sofia drehte sich um – und schrie auf. „O Mann, ich glaub´s nicht! Der Mann da hat einen Elefanten dabei. Aber sieht so aus, als ob das Vieh nicht durch die Tür passt.“
Sie ließen ihre Drinks im Stich und drängten sich durch zum Ausgang. Ein paar andere Touristen scharten sich schon um den ungewöhnlichen Besucher. Andächtig blieb Sofia ein paar Schritte von dem Elefanten entfernt stehen. Es war schon fast dunkel draußen und nur das kühle Licht der Straßenlaternen beschien den massigen Körper des Tiers. Es trug seinen eigenen Proviant mit sich herum, auf seinem Rücken waren zwei Leinensäcke festgebunden, aus denen Bananenstauden und Pflanzenstengel – wahrscheinlich Zuckerrohrstücke – hervorragten. Bedächtig fächelte der Elefant mit den großen Ohren, streckte den Rüssel aus und nahm einer älteren Frau eine Banane ab. „Schau mal, jetzt stopft er sich das Ding in den Mund – mit Schale“, staunte die Frau. „Mal schauen, ob ihm auch eine Ananas schmeckt. Was meinst du, Klaus, frisst er die Blätter auch mit? Die sind doch ganz schön hart ...“
Ricarda musste lächeln. In der Wildnis ernährten sich Elefanten unter anderem von Baumrinde, die war noch um einiges härter. Und sie hatte mal in der Zeitung gelesen, dass die Elefanten im Münchner Zoo in der Adventszeit übrig gebliebene Weihnachtsbäume verputzen durften. Nicht mal den Stamm ließen sie übrig.
„Komm, wir füttern ihn auch!“ Sofia streckte dem Mahout einen 50-Baht-Schein entgegen und bekam ein halbes Dutzend Bananen ausgehändigt. Der Elefant beobachtete es aufmerksam, das Neonlicht spiegelte sich in seinen dunklen Augen.
„Los, gib mir auch eine.“ Ricarda schnappte sich eine der Bananen.
Eine feuchte Rüsselspitze mit zwei rosafarbenen Nasenlöchern und einem Greiffinger an der Spitze tastete danach, nahm die Frucht behutsam aus ihrer Hand. Ricarda klopfte den Rüssel, der sich wie raues, hartes Leder anfühlte. Der Elefant ragte hoch über ihr auf, war eine dunkle Silhouette vor dem Nachthimmel ... doch sie hatte keine Angst vor ihm. Er wirkte gelassen, nicht bedrohlich.
Sein Mahout redete in schnellem Thai auf ihn ein, dann lächelte er Ricarda und Sofia an. „Feed some more?“
Aus