Peter Schmidt

GEN CRASH


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um fast zwei Köpfe. Als sie fertig waren und die Fahrbahn überquerten, schnippte er seinen Joint nach den Enten, die unten auf dem dunklen Wasser schwammen.

      "Wer ist 'sie' und wer ist 'man'?"

      "Vor vier Tagen kam was über den Ticker. Du erinnerst dich an den altersschwachen Fernschreiber, den wir für die sogenannten 'Buchbestellungen' verwendet hatten? Er ist immer noch im Einsatz, nur dass jetzt wirklich bloß noch alte Schwarten damit bestellt werden. Mogadischu, Kairo, Gütersloh – die Van-Aaren-Bibliothek beschafft Ihnen jedes Druckwerk, Pornos und Aktfotografien ausgenommen. Das ist ein Service des Hauses, den sich der alte Aaren in den fünfziger Jahren höchstpersönlich einfallen ließ, um sein schlechtes Gewissen wegen seiner internationalen Waffenschiebereien zu beruhigen. Er dachte wohl, Bücher seien was Seriöses."

      "Über den Ticker?", fragte ich. "Ist das nicht ziemlich leichtsinnig?"

      "Galt einer Adresse in Zandvoort. Leichtsinnig wär's nur, wenn es jeder hergelaufene Meisterspion dechiffrieren könnte. Es war wie in alten Zeiten als Bestellung aufgemacht. Nur dass man dabei eine winzige, aber aufschlussreiche Kleinigkeit übersehen hatte."

      "Die wäre?"

      "Reykjavik."

      "Reykjavik, aha."

      "Na, fällt bei dir der Groschen, Addi?"

      "Nein. Spann mich nicht auf die Folter, Jakob."

      "Hat dir denn noch keiner gesteckt, dass Simons' Buchladen schließen musste?"

      "Ich befasse mich schon lange nicht mehr mit der isländischen Verbindung."

      "Dann allerdings. Es gibt wohl noch mehr Leute in der Firma, die unsere gute alte isländische Verbindung aus den Augen verloren haben. Simons starb vorigen Herbst an Altersschwäche, mit achtundsiebzig Jahren."

      "Was du nicht sagst? Sah man ihm gar nicht an, als ich ihn vor drei Jahren in Monte Carlo traf. Da war er noch so fit, dass er zweimal wöchentlich am Barren turnte."

      "Diese Nordländer wirken immer, als würden sie mühelos hundert Jahre alt. Wegen ihrer strohblonden Haare. Dann kommt ein langer strenger Winter "

      "Irgendwas war also faul an der Nachricht?"

      "So faul wie Simons in seinem Sarg, Addi, wenn ich mal einen etwas unappetitlichen Vergleich ziehen darf. Reykjavik bestellte was bei uns, aber Reykjavik ist längst von der Liste gestrichen. Also nahm ich mir den Text zur Brust. Jagte ihn durch sämtliche bekannten Dechiffrierroutinen. Ich brauchte dabei nur aus meinem riesigen Fundus zu schöpfen." Er tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. "Sie hatten mir gesagt, ich könnte ruhig vergessen, was ich wüsste. Es sei Schnee von gestern. Beschränk dich ganz auf den Buchversand, Beilda wollen wir dich haben, da bist du am richtigen Platz. Nur, Beil-Kindchen hat noch lange nicht vergessen, was hier oben schlummert. Sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie damit nicht meine Neugier herausforderten. Warum Island, wenn Island out ist, Addi? Was steckte dahinter? Wen wollten sie damit verscheißern? Mich doch wohl nicht. Ich sitze hier und packe Bücherkisten aus."

      "Klingt alles ganz plausibel", bestätigte ich.

      "Also machte ich mir ein paar Gedanken darüber."

      "Wie jeder an deiner Stelle."

      "Ich dachte in aller Ruhe darüber nach."

      "Sollte man, Jakob, sollte man Wir sind schließlich keine Postboten."

      "Und genau dazu wollten sie mich machen, Adrian. Zum Briefträger. Also zeigte ihnen der alte Beil mal, was 'ne Harke ist. Drei Stunden Arbeit, und der Text lag vor mir wie ein offenes Buch. Ich hatte die Bestätigung an eine Adresse in Zandvoort weiterzuleiten, in chiffrierter Form, aber nach einem anderen Code. So geht man immer vor, aus Sicherheitsgründen. Die alte Version wird vernichtet oder als Notiz mit dem Stempel ERLEDIGT abgelegt – nachdem man aus Alibigründen die Bestellung ausgeführt hat, versteht sich. Um neu zu chiffrieren, muss man lediglich rechnen können, Tabellen vergleichen und nicht das geringste von der Nachricht selber verstehen. Aber diesmal verstand ich genau, was ich in den neuen Code übertrug."

      "Unser Mann im Allerheiligsten?"

      "Diesmal verzichtete ich darauf, dem alten Simons ein Buch über Moskauer Museen zu schicken. Einen architektonischen Schinken voller Gegenlichtaufnahmen und beleibter russischer Lehrerinnen, die ihren Schülern eine Lektion in Stadtgeschichte geben." Beil lächelte triumphierend. "Er hätte es ja doch nicht mehr zu den anderen ins Regal werfen können, um es irgendwann im internationalen Leihbuchverkehr auf die Reise zu schicken."

      "Du willst sagen, wer einen Absender fingiert, der gar nicht mehr existiert, hat etwas zu verbergen, Jakob?"

      "Und ob ich das sagen will."

      "Da Simons den Auftrag nicht angenommen haben kann, wird er auch niemals etwas über seinen wirklichen Absender ausplaudern können?"

      "Und was sagt uns das, Addi? – Sie sind noch vorsichtiger als sonst. Und warum sollten sie noch vorsichtiger sein? Weil es ein heißes Eisen ist."

      "Ein Russe, Jakob?"

      "Russe, Georgier – spielt das eine Rolle?"

      "Was sagen die Auguren? Hat er ein Gesicht?"

      "Wenn er eins hat, Adrian, dann ist es das am besten gehütete Geheimnis der Welt."

      "Verrate mir nur, ob aus dem Politbüro – oder einer der Kandidaten? Oder vielleicht aus dem ZK? Ich nenne einfach ein paar Namen: Witalij Worotnikow, Wadim Medwedew, Nikolaij Sljunkow? Jurij Solowow? Georgij Rasumowski? Viktor Tschebrikow oder Alexander Jakowlew?"

      "Viel zu hoch angesetzt. Ich würde unseren Mann nicht in der Führungsspitze suchen. Das wäre natürlich eine Sensation. Er scheint bei Gorbatschow ein und aus zu gehen. Putzt er ihm die Schuhe, klopft er seine Teppiche? Ob man ihn zu seinen engsten Vertrauten zählen darf, ist fraglich. Aber er sitzt an der Quelle. Er bekommt mit, was gesagt wird. Er bedient den Fernschreiber und die Tonbandgeräte – oder arbeitet in der Nähe. Es gibt keine Geheimnisse vor ihm. Er ist vertrauenswürdig. Vielleicht einer seiner Zuarbeiter, der sich den Schlüssel zu den Aktenschränken um den Hals gehängt hat."

      Beil blieb vor einem kleinen Antiquitätenladen stehen. Sein Schaufenster lag unterhalb des gepflasterten Gehwegs. Ein rostiges Geländer sperrte den Treppenschacht ab, damit niemand durch einen unvorsichtigen Schritt in die Tiefe stürzen konnte, und er hängte seinen vorgewölbten Bauch darauf und blinzelte nachdenklich in das Gewirr der Taschenuhren, Bilder und Puderdöschen hinab.

      "Die da wäre nicht schlecht."

      Ich folgte seiner ausgestreckten Hand, sie deutete auf eine goldgerahmte Miniatur, kaum größer als ein Handteller. Plötzlich begriff ich, dass er mich nur in diese elende Gegend geführt hatte, um mir zu zeigen, was er als Gegenleistung erwartete. Auf dem hölzernen Rückwandsockel stand ein Emailleschild mit der Aufschrift: Jan BormannSpezialist für alte Miniaturen.

      Beil sammelte das Zeug seit seinem vierzigsten Lebensjahr (ungefähr der Zeitpunkt, an dem er sich selbst und den Rest der Welt aufgegeben hatte). Er und Luise breiteten ihre Reichtümer abends auf den Sesseln und Tischen aus, um sie mit van Goghs Werken zu vergleichen. Van Gogh war ihr künstlerischer Kontrahent, das Malergenie, an dem sich ihr Widerspruch entzündete. Seine blinden Originale konnten einfach nicht mit der Farbenpracht von Beils Miniaturen konkurrieren. Er hatte ein Stück mit rotem Ziegeldach und drei krummen Erlen ausgesucht. Über den Bach vor dem schiefen Häuschen, das aussah, als würde es gleich unter der Last seines Dachs zusammenbrechen, spannte sich die Miniaturausgabe einer weißen Zugbrücke. Irgendwo im Bild war auch ein Schaf zu sehen, aber etwas zu klein und zu weit weg, um es genau erkennen zu können.

      "Kostet?", fragte ich.

      Er zuckte die Achseln und bog wiegenden Schritts um das Geländer. Unten angekommen, winkte er mir mit krummem Zeigefinger zu. Im Hintergrund brannte eine grüne Glaslaterne, und nicht weit vom Durchgang zum