Uwe Heit

In deutschen Zeiten


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gut wie.«

      »Die gelben liegen ganz unten in der Luke, weil sie am längsten im Schiff sind.«

      Als die Waggons des ersten Zugs mit Bananen beladen waren, fuhren die Arbeiter die vollen Paletten in die Lagerhalle, bis die Hafenbahn neue leere Waggons bereitstellte. Ich zählte und wartete. Marina vertraute mir derweil an, dass Nils im Leben mehr erreichen würde, wenn er freiwillig drei Jahre in der Armee dienen würde. Dann schickten die Hafenarbeiter im Schiff ihren Kollegen auf der Rampe eine Staude gelber Bananen auf einer Palette mit. Die aßen ein paar und legten die restliche Staude an die Lagerhalle. Ich musste immer wieder dort hinsehen. Der Anblick der reifen gelben Bananen war kaum zu ertragen.

      »Siehst du die Bananen nicht?«, unterbrach ich endlich Marina. Sie hatte gerade von Nils’ Augen geschwärmt.

      »Welche Bananen?«

      »Die da. Sie essen sie!«

      »Was sollen sie sonst damit machen?«

      »Können wir auch welche von denen essen?«

      »Die will ich nicht. Die sind nicht goldgelb. Es stört mich wirklich, dass alle Mädchen von Nils schwärmen. Diese Kinder.«

      Mich dagegen quälten immer stärker die Gier nach den reifen Früchten und die Angst, dass ich keine Bananen bekommen würde. Als der Kran defekt war, ging Marina zum Schiff. Kurze Zeit später kam sie mit einer halben Staude goldgelber Bananen zurück.

      »Sind die für uns?«, fragte ich ungläubig, als ich endlich wieder sprechen konnte.

      »Für alle, die welche haben wollen.«

      Ich ergriff vorsichtig eine goldgelbe Banane, betrachtete sie zärtlich, schälte sie sorgsam ab und aß. Sie schmeckte herrlich. Die ersten Bisse erinnerten mich an die glücklichen Momente meiner Kindheit. Und ich konnte jetzt so viele Bananen essen, wie ich wollte! Sie lagen direkt neben mir! Nach wenigen Sekunden hatte ich die erste Banane gegessen. Die zweite schmeckte genauso wie die erste.

      »Das ist Glück. Ich bin glücklich!«, jubelte ich. Bei der vierten Banane dachte ich an alle Verwandten und Freunde, die diese beglückende Erfahrung nie machen würden. Während Marina auf der Toilette war, verschlang ich gleich drei Bananen. In der Mittagspause aß ich nichts, weil ich Angst hatte, mit vollem Magen weniger Bananen essen zu können. Die achte Banane aß ich etwas langsamer als die vorherigen. Die neunte Banane schmeckte fast so gut wie die ersten.

      »Übertreibst du es nicht?«, fragte Marina. Sie hatte mir gerade erzählt, wie gut Nils in seinen neuen weißen Jeans aussehen würde.

      »Ich habe doch erst sechs gegessen«, log ich.

      Sie riss die Augen auf. »Sechs? Schon sechs?«

      Ich konnte den Anblick zuckersüßer, überreifer Bananen nicht ertragen. Ich musste sie einfach essen! Aber schon bald bereitete mir das Essen Mühe, das wäre früher unvorstellbar gewesen. Als ich merkte, dass ich keine Banane mehr essen wollte, staunte ich über diese völlig neue Erfahrung. Und ignorierte das Gefühl. Längst war ich übersatt. Musste mich zum Essen der Bananen zwingen. Aß dennoch weiter. Bissen um Bissen. Das Schlucken fiel mir immer schwerer, aber die Erinnerung an stundenlanges Anstehen in endlosen Schlangen vor Geschäften in froststarren Wintern für ein paar schwarzfleckige Bananen gab mir die Kraft. Ich quälte mich weiter: Banane um Banane, Stück für Stück. Dann machte ich eine weitere unglaubliche Erfahrung: Ich ekelte mich vor dem Anblick einer goldgelben Banane. Als Nächstes hatte ich das Gefühl, dass die Bananen aus meinem Magen hoch auf meine Augäpfel drückten. Endlich weigerte sich etwas in mir, das Stück Banane im Mund zu schlucken. Etwas Unbekanntes, Starkes. Ich schaffte es dennoch. Nachdem meine Arbeitsschicht vorbei war, saß ich mit starken Bauchschmerzen bewegungslos vor meinem Schrank im Umkleideraum. Mein Freund Uwe, Ladungskontrolleur in einer anderen Brigade, stellte sich vor mich, zog eine goldgelbe Banane aus der Tasche und begann grinsend, sie zu essen. Ich drehte entsetzt den Kopf weg, aber es war zu spät. Uwes Gelächter verfolgte mich bis zur Toilette, in die ich alles erbrach, was ich gegessen hatte.

      Uwe war ein echter Rostocker. Sein Großvater war ein englischer Seemann gewesen, der Anfang des Jahrhunderts in Rostock geblieben war. Der Name der Familie war gegen ihren Willen vor ein paar Jahren von einer Behörde eingedeutscht worden. Von Lee in Lieh. Uwe hatte seinen alten Namen mehrmals von der Behörde zurückgefordert – natürlich vergeblich. Es wunderte mich, dass er trotz des Widerstands gegen die Maßnahme einer Behörde im Überseehafen arbeiten durfte. Der war immerhin gesichertes Grenzgebiet zu Westdeutschland, zu feindlichem Ausland. Wir hatten uns kennengelernt, als ich Paletten mit Zementsäcken zählte, die mit einem Gabelstapler aus dem Lager gefahren wurden. Währenddessen war mir ein junger Mann aufgefallen, der sichtlich gut gelaunt die Hafenarbeiter bei der Arbeit beobachtete. Ich hatte mich über seine gute Laune gewundert und neugierig ein Gespräch mit ihm angefangen.

      »Wie geht es?«

      »Ausgezeichnet!«

      Ich hatte wenige Menschen kennengelernt, die das von sich behaupten.

      »Was machst du im Hafen? Du bist doch kein Umschlagarbeiter.«

      Der junge Mann hatte fröhlich gelacht: »Umschlagarbeiter? Ich bin doch nicht doof und schufte! Ich bin Zähler wie du. Mein Brigadier hat mich zum Kistenzählen aufs Freilager geschickt, aber ich gucke lieber den Idioten bei der Arbeit zu.«

      »Ich heiße Frank Grunwald.«

      »Ich Uwe Lieh. Lieh ist aber kein chinesischer Name.«

      Uwe war wie ich als Umschlagarbeiter gescheitert. Er hatte sich schon beim Anblick der Zementsäcke gegen diese Arbeit entschieden.

      Einige Wochen später wollten Uwe und ich zum ersten Mal gemeinsam nach der Spätschicht mit der Hafenfähre nach Warnemünde fahren. Wir fuhren mit dem Bus zu der Anlegestelle der Fähre im Hafen. Ich hätte gern an der frischen Seeluft auf dem Oberdeck der Hafenfähre gesessen, aber Nils und Uwe wollten lieber Skat bei Dieselgeruch unter flackerndem elektrischen Licht im Unterdeck spielen. Neben Nils saß Marina, sie hatte einen Arm unter seinen freien Arm geschoben, ihren Kopf an seine Schulter gelegt und betrachtete mit einer Mischung aus Desinteresse und Sympathie unser Spiel. Nils, groß, sehr schlank, blond, sehr blauäugig, war mir auf Anhieb unsympathisch gewesen. Er hatte den Beruf des Ladungskontrolleurs im Gegensatz zu mir erlernt und ich hatte den Verdacht, dass er mich aus dem Grund nicht akzeptierte. Vor allem aber störte mich, dass viele Mädchen im Hafen von ihm schwärmten. Am S-Bahnhof in Warnemünde trennten wir uns. Uwe und ich suchten vergeblich zwei freie Plätze in einer Gaststätte in Warnemünde.

      »Gehen wir in den Teepott«, sagte Uwe schließlich. »Meine Cousine ist dort Kellnerin.«

      »Du glaubst, wir kriegen dort Plätze?«

      »Sie ist meine Cousine!«

      Die Gaststätte »Teepott« lag direkt an der Mole und sah wahrhaftig wie ein riesiger Teepott aus. Es wunderte mich, dass die zuständige Behörde der DDR diesen Bau genehmigt hatte: Er sah so gar nicht aus wie ein sozialistischer Plattenbau. Ich hatte keine große Hoffnung auf Plätze für uns – trotz Uwes Verwandtschaft mit einer Kellnerin. Wir erblickten durch die gläserne Eingangstür im ersten Stock nicht weit von uns entfernt einen freien Tisch in der Gaststätte, aber Uwes Cousine arbeitete heute nicht und ihre Kollegin beachtete uns nicht. Warum auch. Wir warteten dennoch vor dem Eingang, dass die Kellnerin uns irgendwann einlassen würde. Uwe wurde bald übermütig: »Ich frage sie, ob wir an den Tisch dürfen. Meine Cousine ist hier Kellnerin!«

      »Du kannst doch nicht einfach reingehen!«, sagte ich.

      »Ich gehe rein! Manuela ist meine Cousine!«

      »Wir warten doch erst eine halbe Stunde!«

      Es war vergeblich. Uwe öffnete die Tür und betrat die Gaststätte. Ich war sicher, dass er keinen Erfolg haben würde, Cousine hin oder her. Als er zurückkehrte, sagte er nur: »Willst du nicht endlich reinkommen?«

      »Wie hast du das geschafft?«

      »Die Kellnerin wollte mich rausschmeißen, weil ich sie angesprochen