Uwe Heit

In deutschen Zeiten


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staunte ich.

      »Es gibt nur noch Nudeln mit Tomatensoße, weil der Koch heute noch was vorhat. Ich habe schon Bier für uns bestellt. Und Nudeln.«

      »Das hast du richtig gemacht«, lobte ich.

      Wir setzten uns an den freien Tisch. Die Kellnerin stellte wortlos zwei große Gläser Bier vor uns.

      »Äh, das ist ja ›Hafenbräu‹!«, stellte ich nach dem ersten Schluck fest. Die Matrosen der Handelsflotte der DDR erhielten auf ihren Schiffen nur dieses stark nach Chlor schmeckende Bier. Vielleicht sollte es das Heimweh in fremden Gewässern bekämpfen. Nachdem die Kellnerin zwei Teller mit Nudeln auf unseren Tisch gestellt hatte und schon wieder wortlos gehen wollte, reagierte Uwe schnell: »Dürfen wir noch zwei große Bier bekommen?«

      »Nein. Jeder kriegt noch ein kleines«, entschied sie.

      Die Nudeln waren sehr bissfest und die rötliche Tomatensoße war fast geschmacklos.

      »Na, wie ist es hier?«, wollte Uwe nach dem Essen von mir wissen.

      »Toll!«

      »Das meine ich auch.«

      Und dann geschah das, worauf Uwe und ich und bestimmt alle anderen Gäste gewartet hatten. Ein großes weißes Schiff mit vielen hell erleuchteten Fenstern verließ den Hafen von Warnemünde. Es glitt scheinbar lautlos durch das dunkle Meereswasser, wurde kleiner und kleiner und verschwand schließlich als ein kleiner heller Punkt in der schwarzen Ferne. Das war die Fähre nach Trelleborg, ein Ort, für uns genauso unerreichbar wie die Sterne am schwarzen Nachthimmel.

      Im Arbeiterwohnheim

      Den Platz im Arbeiterwohnheim, einem fünfstöckigen Plattenbau, hatte ich nur der Arbeit wegen bekommen. Die Heimleiterin, eine ältere, schwammige Frau in einem hellrosafarbenen Pullover mit unzähligen weißen Fusseln, hatte mir beim Einzug gesagt: »Du kommst zu Siegfried und Helms und dem Neuen in die Wohnung. Siegfried ist ein wenig komisch, aber er beruhigt sich schnell wieder.«

      »Was meinen Sie mit komisch?«

      »Siggi ist eine Seele von Mensch!«

      Die Wohnung im zweiten Stock hatte zwei Einbettzimmer, in denen Siegfried und Helms wohnten, und ein Zweibettzimmer mit dem anderen Neuen und mir. Nichts Persönliches entdeckte ich in der Wohnung: keine Blume, kein Bild. Nur ein armseliges Aquarium in der Wohnstube. In dem Kühlschrank in der Küche lag eine Plastiktüte mit einem Klumpen verschimmeltem Fleisch. Ich war allein beim Einzug in die Wohnung. Erst am Abend kam ein junger blonder Mann. Er setzte sich auf das andere Bett im Zimmer und wir sahen uns an. Lange. Schweigend.

      »Guten Abend«, sagte ich schließlich.

      Er nickte nur.

      »Bist du schon lange hier?«, fragte ich.

      »Seit zehn Tagen.«

      »Wie ist die Arbeit im Umschlag?«

      Er zuckte nur mit den Schultern.

      »Hast du Rostock schon kennengelernt?«, fragte ich.

      »In der Kneipe bin ich beim ersten Bier eingeschlafen.«

      »Was für eine trübe Tasse«, dachte ich.

      Helms und Siegfried sah ich in den ersten Wochen im Arbeiterwohnheim nicht. Andreas, der Blonde in meinem Zimmer, erzählte mir, dass Helms seit Jahren bei seiner Freundin wohne. Er behalte das Einzelzimmer dennoch, was bei der lächerlichen Miete verständlich sei. Das habe er von Siegfried erfahren, unserem anderen Mitbewohner. Den hatte ich bisher nur gehört in der hellhörigen Wohnung. Wir trafen weder in der Küche noch im Bad, im Wohnzimmer oder auf dem Flur aufeinander. Siegfried vermied anscheinend jede Begegnung mit mir und ich wollte nicht einfach an die Tür seines Zimmers klopfen, um mich vorzustellen. Schließlich lernten wir uns doch kennen. In einer Nacht. Grelles Licht und Gebrüll weckten mich. Ich schreckte im Bett hoch. Ein untersetzter, stämmiger Mann mit puterrotem Gesicht und wirrem Haar stand im Schlafanzug brüllend in der Tür meines Zimmers. Mir wurde klar, dass ich allein war mit dem Fremden, denn Andreas hatte Nachtschicht. Ich ließ den wütenden Mann nicht aus den Augen und fragte mich: »Wann stürzt er sich auf mich?« Allmählich verstand ich im Gebrüll Worte wie »Schweinerei, Sauerei!« und »Niemand schmeißt Helms Becher um!«

      »Ist das etwa Siegfried?«, dachte ich.

      Er sei manchmal komisch, aber er beruhige sich schnell wieder, so hatte die Heimleiterin ihn beschrieben. Ich sagte langsam und sehr ruhig: »Guten Tag, ich bin der Neue.«

      Ich wiederholte es immer wieder. Langsam und ruhig. Endlich hörte der Mann auf zu brüllen. Dann murmelte er Unverständliches. Schließlich zitterte er nur noch vor Wut. Langsam und sehr ruhig sagte ich: »Bin ich froh, dass ich endlich meinen Nachbarn kennenlerne. Ich habe mich schon lange gefragt, wer so rücksichtsvoll durch die Wohnung geht.«

      Der Mann im Schlafanzug brauste auf: »Helms Becher ist kein Dreck!«

      »Welcher Becher, um Gottes willen?«, dachte ich. Es beruhigte mich ein wenig, dass der Mann an der Tür stehen blieb, so fühlte ich mich halbwegs sicher. Was aber konnte ihn besänftigen? Ich erinnerte mich daran, dass Andreas erzählt hatte, Siegfried sei sehr stolz darauf, dass er in Warnemünde aufgewachsen sei.

      »Du bist ein echter Warnemünder?«

      Der Mann brummelte Unverständliches, aber er sah mich nicht mehr an.

      »Ich habe gehört, dass du ein echter Warnemünder bist. Es gibt ja nicht viele echte Warnemünder in Rostock.«

      »Warnemünder sind keine Rostocker«, sagte der Mann mürrisch.

      »Ihr Warnemünder seid die echten Jungs von der Küste. Warnemünde ist was Besonderes. Das wissen alle in der DDR.«

      »Warnemünde hat nie zu Rostock gehört!«

      Ich redete und redete und redete und bemerkte nach einigen Minuten erleichtert, dass sein zornesrotes Gesicht eine Spur heller wurde.

      »Und du bist ein waschechter Warnemünder ... Siegfried?«

      »Schon immer«, sagte Siegfried.

      »Auch deine Eltern?«

      »Klar!«

      »Und die Großeltern?«

      »Klar.«

      »Seid ihr nie aus Warnemünde rausgekommen?«

      »Wie meinst du das?«

      »Ich meine, ob ihr zwischendurch mal woanders gewohnt habt oder immer in Warnemünde?«

      »Immer dort!«

      »Wau!«, sagte ich ehrfürchtig. »Siegfried, ich bin ja neu im Wohnheim. Es wäre toll, ganz toll, wenn du mir die Sitten des Hauses erklärst. Du bist ja nicht nur ein waschechter Mann von der Waterkant, sondern lebst ja schon seit vielen, vielen Jahren im Wohnheim.«

      Siegfried starrte mich an. Sein Gesicht wurde wieder dunkler. Es brach aus ihm heraus: »Hättest du nicht gleich zu mir kommen können? Ein Wort von dir und ich hätte dir alles zu Füßen gelegt. Nein, da schleicht er scheinheilig durch die Wohnung und randaliert im Bad!«

      Ich sagte eilig: »Das war ein Fehler, mein Fehler, Siegfried! Ich entschuldige mich von ganzem Herzen dafür. Du hast recht, du hast recht. Siegfried, du hast vollkommen recht.«

      Ich redete und redete und dachte: »Mit dem Irren soll ich zusammenleben? Wann habe ich im Bad randaliert?«

      Allmählich beruhigte sich Siegfried wieder.

      »Siegfried, ich unterhalte mich gerne mit dir«, sagte ich. »Welche Regeln muss ich beachten, damit wir sehr gut zusammenwohnen können?«

      Er führte mich durch die Wohnung und erläuterte mir seine Vorstellung von Ordnung. In der Küche beim Blick in den fast leeren Kühlschrank, während er erklärte, wie sauber und reinlich dieser sein müsse, wartete ich darauf, was er über die Plastiktüte mit dem verschimmelten Fleisch im Mittelfach sagen