Uwe Heit

In deutschen Zeiten


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und Großmutter las aus einer alten, zerfallenden Familienbibel. Zu ihrem Verdruss waren wir bei der sonntäglichen Kirchenandacht am Radio immer nur zu zweit. Meine Eltern hatten als Genossen der SED die Kirche verlassen und mein Großvater besuchte in der Zeit, in der wir vorm Radio saßen, seine Freundin, wie ich viel später erfahren würde. So war ich der Einzige, der sich neben meiner Großmutter in der Familie noch zum Protestantismus bekannte. Nach der Morgenandacht gingen wir in die Kirche: Ein stolzes Kind in Opposition zu seinen Eltern und dem dickfelligen Großvater begleitete seine an Krücken humpelnde Großmutter. In der Kirche trafen wir Bekannte, alte Frauen, die wenigsten in Begleitung eines Enkels. Während der Unterhaltung der Alten über Krankheiten und den baldigen Tod wartete ich geduldig auf meinen Moment. Irgendwann betrachteten trübe, schwache Augen mich wohlgefällig und Großmutter wurde laut um ihren artigen, gottgläubigen Enkel beneidet. Anschließend lobte meine Großmutter mich, danach lobten alle gemeinsam. Ich versuchte, währenddessen immer sehr bescheiden auszusehen, um noch mehr Gutes über mich zu hören. In der Schulklasse war ich der Einzige, der die Christenlehre besuchte. Wenn ich zu Mitschülern sagte: »Ich muss heute nach der Schule zur Christenlehre!«, sahen sie mich an, als hätten sie eine gefährliche Seite an mir entdeckt. Mein Mitschüler in der Christenlehre, Gottlieb, verheimlichte seine Besuche dort in der Schule, weil seine Eltern fürchteten, er könnte deswegen von Lehrern benachteiligt werden.

      Als ich nach meinem Unfall endlich wieder gehen konnte, holte ich mir selbst Bücher – zuerst noch aus der Kinderbibliothek. Die Bibliothekarin, eine kleine, dickliche Frau mit ordentlichen Dauerwellen, beobachtete misstrauisch, was in ihren zwei kleinen Räumen geschah. Sie ermahnte mich jedes Mal: »Mach keine Flecken hinein!«, »Iss nicht beim Lesen!«, »Nimm kein Buch mit in die Toilette, schon gar nicht beim großen Geschäft!«, »Reiß keine Seiten heraus!« Am wichtigsten aber war es ihr, dass keine Seite genickt wurde. »Keine Eselsohren!«, sagte sie streng.

      Mit vierzehn durfte ich endlich Bücher in der Erwachsenenbibliothek ausleihen. Ich hatte es schon vorher versucht.

      »Dein Personalausweis!«, hatte die Bibliothekarin gesagt.

      Das hatte ich befürchtet. Ich war dreizehn Jahre alt gewesen und noch ohne Ausweis.

      »Komm mit deinem Personalausweis wieder.«

      »Ich möchte Bücher lesen«, hatte ich sie angefleht.

      »Dein Personalausweis!«

      Beim dritten Versuch hatte ich behauptet, Altpapier zu sammeln, den Erlös würde ich für den Kampf der unterdrückten Massen in Afrika und Lateinamerika gegen den Imperialismus spenden. Aber ich war immer noch dreizehn gewesen. Oft hatte ich sehnsüchtig die Bücher in den Regalen hinter den großen Scheiben der Erwachsenenbibliothek betrachtet.

      Mit vierzehn aber durfte ich die Bücher endlich ausleihen. Sogar vier auf einmal. Manchmal auch fünf. Ich las sogar die Klassiker des Marxismus-Leninismus. Nachdem ich alle Bücher der Bibliothek gelesen hatte, begann ich zu schreiben. Lernte die Angst des Schriftstellers vor dem leeren, weißen Blatt kennen. Fing immer wieder an zu schreiben. Zerknüllte Blätter. Zerbrach Bleistifte. Biss auf Kulis. Schließlich hatte ich das Thema für meine erste Geschichte gefunden: Ein Huhn lebte sehr beengt mit dreitausend anderen in einem nicht gelüfteten Stall einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft für Tierproduktion. Mein Huhn träumte von saftigen grünen Wiesen und fürchtete die brutalen LPG-Bauern. Es war sehr aufgeregt, als es mit den dreitausend Gefährten aus dem Stall getrieben wurde. Dabei wurden ihm nicht die Knochen zerbrochen wie anderen Hühnern. Es erstickte nicht in einem Metallkäfig. Es fiel nicht aus dem Käfig, rutschte auf dem Weg zum Geflügelschlachthof nicht vom Lkw-Anhänger, wurde nicht auf der Straße überfahren und landete nicht in Kinderhänden. Mein Huhn erwartete im Käfig auf dem Hof nicht geduldig den Tod, sondern öffnete die Käfigtür und floh. In meiner Geschichte war der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs ein ehemaliger General der Waffen-SS, der mit einer Maschinenpistole auf die flüchtenden Hühner schoss. Eine Kugel traf meinen Helden, als er durch eine Lücke im Zaun in die Freiheit flüchten wollte. Die letzte Empfindung des Huhns – bevor sein Schädel zerplatzte – war der Geruch des saftigen, frischen Grases auf der anderen Seite des Zauns gewesen.

      Ich war sehr stolz auf meine erste Geschichte.

      In Plattenbauten

      Nach der Scheidung meiner Eltern zog ich mit meiner Mutter in die Plattenbausiedlung der Stadt. Dort lebten viele ehemalige Bewohner der Altstadt, deren Bürgerhäuser schneller verfielen, als billige Plattenwohnungen gebaut werden konnten. Meine Mutter und ich wohnten in einer Wohnung der Albert-Hase-Straße. SS-Leute hatten am Ende des Zweiten Weltkriegs Albert Hases Vater aufhängen wollen, weil er Kommunist war und weil das Dritte Reich am Ende war. Alberts Vater hatte sich aber nicht aufhängen lassen, schon gar nicht wegen des Endes des Dritten Reichs, und hatte sich versteckt. Also hatte die SS anstatt des Vaters den Sohn erhängt. Wenigstens trug unsere Straße keinen der in Plattenbausiedlungen der DDR üblichen Namen wie Rosa-Luxemburg-Straße, Karl-Marx-Allee oder Juri-Gagarin-Ring. Nachts wankten grölende Betrunkene an unserem Plattenbau vorbei. Sie kamen aus der Altstadt, in der es neben verfallenden Bürgerhäusern Kneipen gab. Die Kneipen waren jeden Abend voll, denn Alkohol war billig in der DDR und Arbeit gesetzliche Pflicht, aus der niemand entlassen wurde. Vielmehr sollten Alkoholiker durch die sozialistischen Kollektive in den volkseigenen Betrieben erzogen werden – eine Aufgabe, an der viele sozialistische Kollektive scheiterten. Es war oft unerträglich warm in den Wohnungen der Plattenbausiedlung, denn deren Zentralheizung heizte unabhängig vom Wetter. Auch im Winter war es manchmal trotz offener Fenster unerträglich warm. Trotzdem mussten die Mieter keine hohen Heizkosten und überhaupt nur wenig Miete zahlen, weshalb Plattenbauwohnungen bei vielen begehrt waren. Die dünnen Wände zwischen den Wohnungen hingegen gehörten zu den Gründen, weshalb sie bei einigen nicht begehrt waren. Über uns wohnten die Sikorskys, eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Herr und Frau Sikorsky begannen meistens gegen siebzehn Uhr zu streiten, wenn er von der Arbeit kam. Am Anfang stand immer die Behauptung, dass er wieder die »Schlampe«, eine Arbeitskollegin, »gevögelt« hätte. Herr Sikorsky kam manchmal nur vier oder fünf Minuten später als sonst nach Hause und seine Erklärungen für die Verspätungen hielt ich für glaubwürdig, aber sein Tonfall ließ mich um die Ehe der Sikorskys fürchten. Das Ehepaar Berndt wohnte unter uns. Frau Berndt erlaubte ihrem Mann das Zigarrenrauchen nur auf der Toilette, von wo der Rauch durch den Lüftungsschacht direkt in unsere Wohnung zog. Herr Berndt war der Hausvertrauensmann für die Mieter unseres Aufgangs. Er führte das Hausbuch, in das er den Namen jedes Fremden schrieb, der bei einem Mieter im Aufgang übernachtete. Er war auch dafür verantwortlich, dass die Mieter den Aufgang reinigten. Dass die Rentner von der Reinigung ausgenommen waren, stellte niemand infrage – bis ein Offizier mit seiner Familie in unseren Aufgang einzog. Der Major sagte, er müsse die Kapitalisten mit der Waffe in der Hand bekämpfen und habe keine Zeit, für die Alten den Besen zu schwingen.

      An unserem Plattenbau entlang zog sich eine stark befahrene Straße, dahinter, keine fünfzig Meter von unserer Wohnung entfernt, lag der Güterbahnhof der Stadt. Bagger schütteten dort Kohle in Waggons, die beim Rangieren mit ohrenbetäubendem Lärm gegeneinander knallten. Kohlestaub wurde durch den Wind in die Wohnungen getragen, schwärzte die Wäsche und legte sich auf die Möbel, besonders dann, wenn die Zentralheizung der Plattenbausiedlung auf Höchststufe heizte: Dann mussten die Mieter alle Fenster ihrer Wohnungen öffnen, um die Hitze ertragen zu können. Viele Plattenbaubewohner waren davon überzeugt, dass der ständige Krach, der Kohlestaub und die Hitze die Ursachen für ihre Schlafstörungen und einige Krankheiten waren, was aber kein Arzt erkennen wollte oder konnte oder durfte. In dieser Umgebung wollte ich Schriftsteller werden. Im Lärm, im Dreck, in der Hitze.

      Mit sechzehn sollte ich mich für eine Berufsausbildung entscheiden. Jeder Jugendliche musste eine Ausbildung machen. Ich aber konnte mich nicht entscheiden, weil Schriftsteller kein Lehrberuf war. Die anderen Schüler verschickten Bewerbungen, ich nicht. Meine Mutter wurde immer ungeduldiger und mein Vater wollte »etwas sehen« für das Geld, das er jeden Monat für mich bezahlte. Schließlich bewarb ich mich für eine Ausbildung als Pferdezüchter. In der Ablehnung wurde ich für meine Ehrlichkeit in der Bewerbung gelobt. Ich hatte erwähnt, dass ich noch nie auf einem Pferd geritten sei. Danach schrieb ich eine