Uwe Heit

In deutschen Zeiten


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für die kleine, arme DDR war. Diese Bewerbung lag lange auf meinem Schreibtisch, dann steckte ich sie in eine Schublade. Schließlich vergaß ich sie. Als alle anderen in der Klasse bereits einen Lehrvertrag hatten, behauptete meine Mutter, dass ich bald als arbeitsscheues Element irgendeiner Arbeit zugeführt würde. Schließlich bewarb ich mich für eine Lehrstelle als Baufacharbeiter in der vierzig Kilometer entfernten Bezirksstadt.

      Wenn ich gewusst hätte, dass ich als Baufacharbeiterlehrling in der Bezirksstadt in einem identischen Plattenbau wie zu Hause wohnen würde: Ich hätte die Bewerbung als Erdölarbeiter abgeschickt! Hinter dem Lehrlingswohnheim lag der gleiche Spielplatz mit den gleichen Spielgeräten und Sandkästen wie zu Hause, davor die gleichen, grauen Gehwegplatten, die gleichen Straßenlampen und die gleichen grau-weißen Papierkörbe aus Stein mit schwarzem Plastikeinsatz. Die Eingänge des Wohnheims waren verriegelt bis auf einen, der von den Erziehern überwacht wurde. Ich wohnte mit sieben anderen Jugendlichen in einer Zweizimmerwohnung. Kein Lehrling durfte ohne Erlaubnis den Plattenbau verlassen. Herr Rogge, der Leiter, war ein stämmiger, untersetzter Mann, ein ehemaliger Maurer, der nach einem Arbeitsunfall Erzieher geworden war, sich aber immer noch als Maurer fühlte. Er stand oft am Eingang des Essenraums im Wohnheim und kontrollierte die Essenausgabe an uns Lehrlinge. Jeden Morgen gab es Marmelade, Butter und Brot und jeden Abend Wurst, Butter und Brot. Brot konnte jeder essen, so viel er wollte, aber nur im Essenraum. Niemand durfte auch nur eine Scheibe mitnehmen. »Wegen der Ratten«, sagte Herr Rogge. Morgens gab es dunkles heißes Wasser. Die Küchenfrau nannte es Kaffee. Das grüne heiße Wasser am Abend nannte sie Tee. Es roch muffig im Essenraum, weil die Fenster immer verschlossen und verriegelt waren. »Wegen der Ratten«, sagte die Küchenfrau; früher hatten Lehrlinge das Essen aus Protest aus dem Fenster geworfen. Wir mussten in Gruppen nach genau festgelegten Zeiten essen. Manchmal warteten wir auf der Treppe vor dem Essenraum, weil die Gruppe vor uns noch nicht fertig war. Herr Rogge stürzte uns die Treppe herunter, wenn es ihm zu laut wurde. Er brüllte uns von oben an, breitbeinig, die Hände auf den Oberschenkeln: »Muss ich euch Respekt vor der Küche beibringen?« Dann war er wieder ganz Maurer. Manche Lehrlinge provozierten das sogar. Im Keller des Lehrlingswohnheims, dem Freizeitbereich, war alles zerstört bis auf den blanken Beton und bis auf drei Tischtennisplatten. Die Platten waren verbogen, von Zigarettenbrandflecken übersät und wurden als Sitzplätze benutzt. Lehrlinge mit Zehnklassenabschluss durften immer darauf sitzen. Lehrlinge mit acht Klassen, von denen viele schlecht gestochene Tätowierungen auf Händen und Armen hatten, durften nur dann auf den Platten sitzen, wenn genug Platz für sie war. Teilfacharbeiterlehrlinge mit sechs oder sieben Klassen durften niemals auf den Platten sitzen. Sie standen an den Betonwänden des Kellers, rauchten ununterbrochen und sahen sehnsüchtig zu den sitzenden Lehrlingen hinüber.

      Die meisten Erzieher im Lehrlingswohnheim waren ehemalige Maurer, die aus verschiedenen Gründen umgeschult hatten. Ein mürrischer Alkoholiker weckte uns jeden Morgen, indem er eine Eisenstange gegen die Metallgestänge unserer Betten schlug. In meiner Lehrbrigade waren wir zu neunt: acht Lehrlinge aus der Zweizimmerwohnung im Plattenbau und Kevin, der aus der Bezirksstadt selbst stammte. Am ersten Tag der praktischen Ausbildung warteten wir gemeinsam vor der Materialausgabe, einer kleinen Halle neben unserer Berufsschule, auf unseren Lehrmeister. Gesehen hatten wir ihn noch nie. Es war ein kalter Morgen. Wir warteten und froren und schimpften, denn der Lehrmeister war nicht pünktlich. Eine halbe Stunde nach dem Termin fuhr ein Mann auf einem Motorrad mit Beiwagen in unsere wartende, frierende, schimpfende Gruppe. Erschrocken sprangen wir auseinander. Der Fahrer, ein dicker, junger Mann in einer Tarnjacke der Gesellschaft für Sport und Technik, stieg gemächlich vom Motorrad. Wir hielten vorsichtig Abstand und betrachteten ihn. Er zog seine rutschende Hose hoch und sagte grimmig: »Ich bin Lehrmeister Günter Milch. Ich duze euch. Ihr siezt mich. Ich rede euch mit Vornamen an. Ihr nennt mich Lehrmeister. Klar?!«

      Ein paar von uns nickten schüchtern. Unser Lehrmeister ging ohne ein weiteres Wort in die Halle, wir folgten ihm nach kurzem Zögern. Milch unterhielt sich lärmend mit dem Lagerverwalter, als der ihm Arbeitsgeräte und Berufsbekleidung aushändigte. Wir Lehrlinge brachten alles nach draußen und legten es auf einen Haufen. Als wir damit fertig waren, zeigte Milch darauf und sagte: »Worauf wartet ihr? Jeder nimmt sich was und ab zur Baustelle!«

      Wir erklärten ihm, dass wir nicht wussten, wo die Baustelle war. Der Lehrmeister sagte ein paar unverständliche Worte, fuchtelte mit den Armen umher und fuhr mit dem Motorrad weg.

      Ohne Kevin, den Ortskundigen, hätten wir uns auf dem Weg zur Baustelle sicher verlaufen. Schwer beladen fragte ich mich, ob das alles schon Teil der praktischen Ausbildung sein könnte. Auf der Baustelle fanden wir unseren Lehrmeister schließlich in der Kantine an einem Tisch mit Bauarbeitern. Er hatte uns anscheinend noch gar nicht erwartet. Milch führte uns auf der Baustelle in den Aufenthaltsraum der Lehrbrigade, einen Raum mit Tischen aus gepresstem Holz und Blechschränken an den Wänden. Er forderte uns auf, uns einzeln vorzustellen. Während die anderen Lehrlinge einer nach dem anderen redeten, entschied ich, dass ich mein Lebensziel, Schriftsteller zu werden, nicht erwähnen würde.

      Am Ende der Vorstellungsrunde sah uns Lehrmeister Milch der Reihe nach an. »Der eine hat keine andere Lehrstelle gefunden. Der andere war zu faul gewesen, sich rechtzeitig woanders zu bewerben. Die meisten wollen mit Schwarzarbeit die dicke Marie verdienen. Idioten! Der Arsch wird euch noch auf Grundeis gehen.« Dann drohte er: »Wir werden ein Lehrlingskollektiv der sozialistischen Arbeit, denn dafür gibt es Geld. Wer ist dagegen?«

      Grimmig sah er uns an. Keiner wagte, etwas dagegen zu sagen.

      »Wer von euch macht den FDJ-Sekretär?«

      Niemand meldete sich. Einige von uns duckten sich. Als ich den Lehrmeister im Befehlston sagen hörte: »Du bist der FDJ-Sekretär!«, hob ich den Kopf. Ludwig sah sehr unglücklich aus. Es hatte anscheinend ihn getroffen.

      »Ich?«, fragte Ludwig erschrocken.

      »Genau. Du«, schnarrte Milch.

      »Ich bin so was noch nie gewesen.«

      »Dann wird ’s Zeit. Wer von den anderen hat was dagegen?«

      Spätestens jetzt wusste Ludwig, dass er verloren hatte.

      »Einstimmig angenommen«, verkündete der Lehrmeister. »Wer wird sein Stellvertreter?«

      Es war kindisch, aber ich senkte sofort wieder den Kopf in der Hoffnung, dass es mich so nicht treffen würde.

      »Was ist mit dir!«, hörte ich den Lehrmeister.

      Ich starrte auf die zerkratzte Tischplatte. Die Sekunden vergingen. Als ich Ingos Stimme hörte, atmete ich auf.

      »Ich bin doch gar nicht in der FDJ!«, sagte Ingo triumphierend.

      Nun sahen ihn alle an. Ich kannte bis dahin nur einen Jungen, der nicht Mitglied der Freien Deutschen Jugend der DDR war: Reinhold, dessen Eltern den Zeugen Jehovas angehörten. Er hatte nicht an den FDJ-Versammlungen teilnehmen müssen, worum er von allen anderen Schülern beneidet worden war.

      »In meiner Truppe sind immer alle in der FDJ. Du darfst nach der Lehre wieder austreten«, sagte Milch.

      »Wer ist dagegen, dass er unser Stellvertretender FDJ-Sekretär wird?«

      Niemand sagte etwas.

      »Wir brauchen einen Kassierer für die Mitgliederbeiträge der FDJ. Wer will es freiwillig machen?«

      Ein Freiwilliger wurde gesucht. Das war neu. Ich wusste nicht, welche Posten er noch verteilen würde, aber der des Kassierers erschien mir erträglich. Dieser Lehrmeister würde dafür sorgen, dass alle den Beitrag bezahlten. Ich hob eine Hand. Milch war überrascht.

      »Ein Freiwilliger. Das gab es ja noch nie. Du bist der Kassierer. Das war alles.«

      Anschließend erklärte er uns die Zukunft: »Die Lehrer in der Berufsschule haben euch sicher gesagt, dass die meisten Maurer einen anderen Beruf erlernen müssen, wenn das Wohnungsbauprogramm im Jahr 1990 abgeschlossen ist. Haben sie das?«

      Wir nickten.

      »Könnt ihr alles vergessen. Es wird nie genug Wohnungen in der DDR geben. Maurer haben immer Arbeit. Mein Kumpel Georg ist zwei Meter groß, hat ein