Uwe Heit

In deutschen Zeiten


Скачать книгу

der Moment, den ich seit zwei Tagen gefürchtet hatte. Der Lehrmeister wollte wissen, was ich geschrieben hatte. Kurz vor Feierabend kam er in die Baracke und las meine Seite im Brigadetagebuch. Er schwieg dabei. Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. Die Zeit dehnte sich. Ich klammerte mich am Stuhl fest aus Furcht, wie Johann hinausgeworfen zu werden. Endlich klappte Milch das Buch zu – und sagte nichts. Er sah mich nicht einmal an. Mir wurde übel. »Sicher wartet er auf die anderen Lehrlinge, um mich richtig fertigzumachen«, dachte ich. »Großmutter hatte recht gehabt: Gott bestraft jede Schandtat!« Bald danach kamen die anderen Lehrlinge missmutig in die Baracke. Ich wusste, dass sich ihre Laune gleich verbessern würde. Der Lehrmeister wertete schimpfend den Arbeitstag aus, noch war alles wie immer. Dann hob er das Brigadetagebuch in die Höhe. Es wurde unerträglich. Ich schloss die Augen.

      »Er hat eine Seite geschafft! In zwei Tagen eine Seite! Ihr müsst euch eine ganz fette Scheibe von ihm abschneiden!«

      Völlig verblüfft öffnete ich die Augen wieder. Ein Lob des Lehrmeisters! Für mich! Das hatte ich nicht erwartet. Die anderen Lehrlinge auch nicht.

      »Morgen schreibt Ludwig«, sagte Milch.

      Ludwig wagte, dagegen zu protestieren.

      »Du schreibst eine Seite und wenn du eine Woche in der Unterkunft sitzt!«, drohte der Lehrmeister.

      In den nächsten Tagen bei der Arbeit in der Baugrube, dachte ich oft an Ludwig. Wie gern wäre ich an seiner Stelle gewesen. Die anderen Lehrlinge nannten ihn »das faule Schwein im Warmen«. Es war aber klar, dass keiner von ihnen an Ludwigs Stelle sein wollte – ich schon. Ludwig redete nicht über das Brigadetagebuch. Nicht am ersten Tag und nicht am zweiten. Ich wurde langsam unruhig. Er las gern Märchen – vielleicht konnte er über ein sozialistisches Lehrlingskollektiv schreiben? An seinem dritten Tag hörten wir den Lehrmeister in der Unterkunft brüllen: »Drei Sätze in drei Tagen! Ein Affe hätte mehr geschafft.«

      Ludwig kam erleichtert und zufrieden zurück zu uns in die Baugrube. Als Nächster sollte Ingo schreiben. Der große, hässliche, starke Ingo.

      »Ich kann so was nicht, Lehrmeister«, sagte er langsam.

      »Du hast doch schreiben gelernt in der Schule. Oder nicht?«

      »Ich schreibe kein sozialistisches Brigadetagebuch.«

      »Das ist Arbeitsverweigerung.«

      »Ich schreibe, was wirklich abgeht auf der Baustelle«, erwiderte Ingo ruhig. »Ich schreibe die Wahrheit.«

      Der Lehrmeister behauptete, Ingo wolle uns in große Schwierigkeiten bringen. Er ahnte aber, dass Ingo imstande war, tatsächlich die Wahrheit zu schreiben. Schließlich wurde ich von ihm zum alleinigen Schreiber des Tagebuchs bestimmt.

      Ich war stolz darauf. Talent hat man oder man hat es nicht.

      Baubrigade Vogel

      Trotz des tristen Alltags als Lehrling verlor ich nie mein Ziel aus den Augen. Weil viele berühmte Schriftsteller am Anfang ihrer Karriere Kurzgeschichten geschrieben hatten, versuchte auch ich es. Themen zu finden, war aber nicht einfach. Erfahrungen wie das Säubern der Gullys auf der Baustelle, die von Maurern als Toilette benutzt worden waren, waren für Kurzgeschichten nicht geeignet. Dennoch schaffte ich es, in meinem ersten Lehrjahr eine Kurzgeschichte zu schreiben: »Der Idiot als Verbrecher«. Es ging um Knut aus dem Dorf einer meiner Tanten. Knut stand jeden Tag am Straßenrand – im Sommer wie im Winter in kurzen Hosen – und bewegte seinen Oberkörper ständig im gleichen Rhythmus hin und her. Er war völlig harmlos, aber in meiner Kurzgeschichte erlebte er kurze wache Momente, in denen er Nachbarn ausraubte. Am Ende starb ein Unschuldiger. Ich war sehr stolz auf meine Kurzgeschichte. Wo aber würde ich meine Leser finden? Die anderen Lehrlinge kamen nicht infrage, die hatten ja nicht mal mein Brigadetagebuch gelesen. Ich schickte »Der Idiot als Verbrecher« dem Schriftstellerverband der DDR des Bezirks Schwerin. Weil ich wochenlang keine Antwort bekam, glaubte ich, meine großartige Kurzgeschichte hätte die Schriftsteller eingeschüchtert. Endlich, nach fünf Wochen, kam ein Brief für mich zu Hause an. Der Lärm des Güterbahnhofs drang in mein brütend warmes Zimmer – aber auf meinem Bett lag der Brief des Schriftstellerverbandes der DDR für mich. Ich wusste, dass ich es geschafft hatte. Dass es so kommen würde, hatte ich seit dem Unfall mit dem Lkw gewusst. Ich öffnete den Brief. Eine Frau Böhm hatte mir geschrieben. Ich würde die Vorurteile der Bevölkerung Behinderten gegenüber bestärken, stand im ersten Satz. Im zweiten schrieb Frau Böhm, dass ich unbedingt die Regeln der Grammatik lernen müsse. Als Schluss: »Üben Sie weiter.« Drei Sätze hatte die Frau geschrieben. Ich war glücklich, dass mich der Schriftstellerverband der DDR nun kannte. Probleme des Alltags würden für mich nur noch nichtige Begleiterscheinungen sein. Der Hinweis auf Regeln der Grammatik war unwichtig. Homer hatte auch keine gekannt. Es war die historische Leistung der Frau, dass sie mein Talent entdeckt hatte. Wer auch immer sie war.

      Im zweiten Lehrjahr kam ich in die Baubrigade Vogel. Brigadier Vogel war ein dicker, bleicher Mann mit bartstoppeligem Gesicht, schweigsam und mürrisch im nüchternen Zustand. Dann berührte er oft seine dicke, braune Brille, als wollte er sich vergewissern, dass er sie noch im Gesicht hatte. Er hatte einen Freund in der Brigade, Rudi, dessen Zunge oft wie ein feuchter roter Lappen einen Zentimeter aus dem Mund hing. Rudi war Alkoholiker und hatte ein paar Mal vergeblich versucht, in einer Klinik vom Trinken loszukommen. Knud, der Jüngste in der Brigade, war ein athletischer, spöttischer Mann und trank in Maßen. Ich musste meistens mit Martin, einem sechzig Jahre alten Hilfsarbeiter, zusammenarbeiten. Er trank heimlich aus einer kleinen Flasche, die er in seiner Arbeitsjacke versteckte. Die Brigade stellte den Fußboden einer riesigen Fabrikhalle her. Lkw schütteten flüssigen Beton in der Halle aus. Wir verteilten die Masse mit Schaufeln, verrieben sie, glätteten sie. Manchmal mussten wir stundenlang auf den Lkw mit Beton warten, denn die Fahrer kauften unterwegs Waren ein, die es später in den Geschäften nicht mehr geben würde. Einer der Fahrer vertrug kein kritisches Wort über den Zustand seines Betons. Wenn er wieder unbrauchbaren Beton gebracht hatte, fluchte Brigadier Vogel oft still in sich hinein, bevor er gequält grinsend den Fahrer laut lobte: »Werner, gute Mischung und pünktlich wie die Feuerwehr. Wenn alle so arbeiten würden wie du, wäre diese Scheißhalle längst fertig.« Werner lieferte danach sofort eine gute Betonladung. Martin hatte ihm einmal seine ehrliche Meinung über den angelieferten Beton gesagt. Um acht Uhr morgens. Danach hatten wir an dem Tag gar nichts mehr erhalten. Als wir den Fußboden der Fabrikhalle angefertigt hatten, bekamen wir den Auftrag, ihn wieder zu entfernen. Die Ingenieure hatten die Maße der Aussparungen für die Maschinen, die später dort stehen sollten, falsch berechnet. Knud schimpfte darüber am meisten, vermutlich weil er so etwas noch nicht so oft erlebt hatte wie die älteren, erfahrenen Maurer. Den größten Teil der Betondecke mussten wir mit Spitzhacken zerkleinern und mit Presslufthämmern aufstemmen, weil er im Laufe der Monate ausgehärtet war. Ein Dumper beförderte die Betonbrocken aus der Halle. Er stieß dabei dichte, schwere schwarze Auspuffgase voller fettiger Rußteilchen aus, die sich als dichte Wolke auf uns senkten. Übelkeit und Kopfschmerzen waren die Folge. Die Maurer tranken mehr Alkohol als sonst.

      Ich fuhr an den Wochenenden zurück in meine Heimatstadt, wo ich mich manchmal mit Artur traf. Er war ein untersetzter Jugendlicher mit blassem Gesicht, roten Aknenarben und glanzlosem, strähnigem Haar. Artur trug nur Jeans der Marke Levi Strauss. Seine Jeans bestanden nur aus Flicken. Flicken an Flicken. Artur verachtete Leute in Hosen mit scharfen Bügelfalten. Besonders seinen Vater, einen treuen Genossen der SED. Artur hatte Schallplatten mit westlicher Rockmusik in Polen gekauft und in die DDR geschmuggelt. Bei jeder Rock ’n’ Roll-Platte konnte er sich an die Gefahren durch deutsche Grenzbeamte mit Deutschen Schäferhunden erinnern – was die Platte für ihn noch kostbarer machte. Wir hörten gemeinsam Pink Floyd, Deep Purple, Led Zeppelin und andere westliche Rockgruppen in seinem Zimmer. Dabei tränten mir oft die Augen vom Rauch unserer Zigaretten, denn Artur öffnete aus Angst vor den Nachbarn nicht das Zimmerfenster. Er war der Erste, der in seiner geflickten Levi Strauss mit einem Walkman durch unsere Stadt spazierte. Damit erregte er großes Aufsehen. Die Polizei kontrollierte ihn jedes Mal. Wir unterhielten uns oft über den Sinn des Lebens. Artur war der Meinung, dass es mit der Menschheit zu Ende ginge. Ich hatte noch Hoffnung. Über Wolf Biermann sagte mein Freund: »Mein Vater hasst ihn wie die Pest, obwohl er nichts