Franz Josef Hinkelammert

Der Schrei des Subjekts


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Verdrängung des lebenden Menschen als Subjekt im Namen der Erfüllung des Gesetzes

      Die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, besteht daher in der Zerstörung des Menschen als Subjekt in allen seinen Formen. Das Gesetz erdrückt, sobald es in legalistischer Form erfüllt wird, d.h. wenn die Legitimität aus der Legalität erwächst. Die Sünde besteht natürlich nicht darin, daß das Gesetz erfüllt wird. Das Gesetz ist notwendig zum Leben. Die Kritik des Gesetzes will nicht das Gesetz abschaffen. Sie entsteht daraus, daß das Gesetz zum Leben da ist. Wird es aber in legalistischer Form erfüllt, wendet sich das Gesetz gegen dieses Leben, dem es zu dienen hat und zerstört dann dieses Leben des Menschen, das das Kriterium der Unterscheicdung des Gesetzes zu sein hat.

      Jesus kritisiert dieses legalistiusch interpretierte Gesetz, und diese Kritik wird von Paulus weitergeführt. Nach Paulus liegt ein Fluch über dem Gesetz, ein Fluch, der immer dann wirklich wird, wenn man in der legalistischen Erfüllung des Gesetzes die Gerechtigkeit sucht. Dieser Fluch spricht sich darin aus, das diese Gesetzeserfüllung den Menschen tötet. Das Gesetz ist dann Gewalt, und hinter dem Rücken des Gesetzes erscheint die Sünde. Sie zerstört den Menschen und verwickelt ihn in eine große Lüge. Diese Lüge behauptet, daß das Gesetz in seiner legalistischen Erfüllung gerecht macht. Daher wird die Ungerechtigkeit begangen in Erfüllung des Gesetzes, das Gesetz verwandelt sich in eine Geißel der Menschheit. Diese Ungerechtigkeit ist daher eine Verfälschung des Gesetzes, insofern es ein Gesetz für das Leben ist. Die Ungerechtigkeit ergibt sich durch die legalistische Erfüllung des Gesetzes.

      Die Ungerechtigkeit ergibt sich in der Erfüllung des Gesetzes, auch dann, wenn das Gesetz ein gerechtes Gesetz ist. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob das Gesetz als solches gerecht ist oder nicht. Eine solche Frage entsteht auf einer völlig anderen Ebene. Auch das gerechte Gesetz führt zur Ungerechtigkeit, wenn es legalistisch erfüllt wird. Selbst das “Du sollst nicht töten” oder das Gebot der Nächstenliebe führen zur Ungerechtigkeit, wenn sie legalistisch interpretiert werden. Dasselbe gilt natürlich für das Wertgesetz, das immer dann ein Gesetz ist, das tötet, wenn es legalistiusch erfüllt wird. Daß das Gesetz ein von Gott gegebenes Gesetz ist, verändert diese Situation überhaupt nicht. Auch das von Gott gegebene Gesetz führt zur Ungerechtigkeit, wenn es legalistisch angewendet wird. Das Gesetz zerstört den Menschen als Subjekt und durch seine legalistische Anwendung führt es zur Sünde.

      Weder für Jesus noch für Paulus ist das Problem die Gerechtigkeit des Gesetzes. Jesus behandelt sowohl das Gesetz des Sabbats als auch das Wertgesetz als gerechte Gesetze. Es ist gerecht, die Schulden zu bezahlen. Jesus bezweifelt in keinem Fall die Gerechtigkeit dieser Gesetze. Was er bezweifelt, ist das Verhältnis zum Gesetz. Als legaler Formalismus genommen, tötet jedes Gesetz und führt daher zur Ungerechtigkeit, indem es den Menschen als Subjekt zerstört. Die Rebellion des lebenden Menschen als Subjekt verwandelt das Gesetz, sofern es es herausfordert durch die Unterscheidung in bezug auf das menschliche Leben. Sie fordert heraus und unterscheidet. Als Ergebnis kann sie auch zur Änderung des Gesetzes führen. Aber auch das neue Gesetz, auch wenn man es für gerechter hält als das vorhergehende, führt zur Ungerechtigkeit, wenn man es legalistisch erfüllt.

      Das Gesetz tötet nicht etwa deswegen, weil es inhaltlich vorschreibt, zu töten. Das Gesetz tötet durch seine Form. Es führt nicht dadurch zur Sünde, daß es verletzt wird, sondern dadurch, daß es nicht verletzt, sondern in legalistischer Form angewendet wird. Aber es ist gleichzeitig die Quelle einer völlig unbegrenzten unjd unbegrenzbarer Gewalt. Aber diese Gewalt erscheint nicht als Verletzung des Gesetzes, sondern im Namen der Aufzwingung seiner legalistischen Interpretation.

      Indem das Gesetz legalistisch interpretiert und angewendet wird, tötet es. Die Pflicht zur Zahlung einer Schuld, die für den Schuldner unzahlbar geworden ist, tötet den Schuldner. In der Zeit Jesu verlor der Schuldner, wenn er zahlungsunfähig wurde, allen seinen Besitz und er und seine Familie wurden in die Sklaverei verkauft. Das Gesetz der Schuldenzahlung tötete, indem es erfüllt wurde. Dieses Töten war natürlich keine Verletzung irgendeines Gesetzes. Es war das Ergebnis seiner Erfüllung. Es war aber auch nicht das Ergebnis irgendeiner Absicht des Gesetzgebers. Auch im Mittelalter verschwand der Schuldner, der nicht zahlen konnte, im Schuldturm, und kam nie wieder ins Leben zurück, wenn nicht irgendwer für ihn zahlte oder man ihm die Schulden nachließ. Heute werden ganze Völker zum Hunger verurteilt weil sie unzahlbare Schulden haben, die man dann mit Blut und Feuer einzieht. Das Gesetz tötet, obwohl das Gesetz nicht verletzt wird und das Gesetz als solches kein ungerechtes Gesetz ist. Der Schuldner kann sich daher an kein Gericht wenden. Er erleidet den Tod durch Erfüllung des Gesetzes, und das Gericht ist dazu da, die Erfüllung des Gesetzes durchzusetzen.

      Dies ist die Gewalt, die in der legalistischen Anwendung des Gesetzes geschieht, der Fluch, der auf dem Gesetz liegt. Es handelt sich um eine Gewalt, gegen die das Gesetz nicht schützt, denn das Gesetz selbst ist diese Gewalt. Es handelt sich um eine Gewalt, die kein Gesetz verletzt und ist das Ergebnis eines Gesetzes, das verbietet, zu töten und das dies weiterhin verbietet. Daher stehen das Gesetz und alle Machtapparate zu seiner Sicherung auf der Seite dieser Gewalt. Es ist die Gewalt als Rechtsstaat.

      Dies ist die eine und grundlegende Seite der Sünde, die hinter dem Rücken des Gesetzes geschieht und daher des Fluches, der auf dem Gesetze liegt. Dennoch hat diese Gewalt im Namen des Gesetzes noch eine andere Seite. Es ist die Seite der Aufzwingung der legalistischen Geltung des Gesetzes. Damit sich die blinde, legalistische Form der Gesetzeserfüllung ohne Widerstand durchsetzt, muß jeder Widerstand gehen die Konsequenzen dieser Gesetzeserfüllung gebrochen werden. Einen Widerstand dieser Art kann nicht der einzelne Schuldner, der eine unzahlbare Schuld hat, ausüben, denn die Gerichte werden ihn brechen. Übt er Widerstand, so muß er sterben ganz so, wie im Fall der Schuldenzahlung: erschossen oder gehenkt. Er hat keine Chance. Aber der Widerstand kann sich verallgemeinern und sich organisieren. Der Mensch als Subjekt kann seinen Widerstand in Aufstand verwandeln. Damit aber tritt die Gewalt als Gewalt für die Aufzwingung des Gesetzes auf, um jenes Subjekt zu zerstören, das Widerstand leistet und sich selbst bestätigt gegen den Tod, der aus der Erfüllung des Gesetzes folgt und der daher das Verhältnis zum Gesetz in Frage stellt. Diese Gewalt des Gesetzes läßt jetzt das Gewicht des Gesetzes über den fallen, der den Widerstand ausübt. Dies ist dann die Gewalt der Nacht der langen Messer im Namen von “law and order”. Jetzt entsteht die Gewalt, die den Terror ausübt, die Gewalt des Leviathan. Sie wird ausgeübt, damit sich nie wieder jemand sich erdreistet, den Kopf zu erheben gegenüber der Sünde, die begangen wird in Erfüllung des Gesetzes.

      Diese Gewalt des Leviathan scheint ebensowenig eine Verletzung des Gesetzes zu sein. Das Gesetz verlangt die Bedingung der Möglichkeit seiner Anwendung. Der offene Terror wird jetzt zum Weg des Gesetzes. Den Völkern, die sich der Schuldenzahlung widersetzen, werden jetzt Lebensbedingungen aufgezwungen, die schlimmer sind als die, die sie im Fall ihrer totalen Unterwerfung hätten. Der Staatsterrorismus wird zur Gegenwart des Rechtsstaats.

      Diese Gewalt ist nicht etwa diejenige, die in der legalistischen Anwendung des Gesetzes selbst impliziert ist, wie dies im Falle des Wertgesetzes oder des Gesetzes des Sabbats der Fall ist. Es ist die Gewalt in der Aufzwingung einer Gesetzlichkeit, deren legalistische Erfüllung selbst in Gewalt einmündet. Es gibt allerdings Typen dieser Gewalt, die durchaus spezielle Bedeutung haben.

      Dabei handelt es sich zum ersten um die Gewalt, die dem auferlegt wird, der das Gesetz verletzt. Auch in diesem Falle geschieht Gewalt. Derjenige, der das Gesetz verletzt, wird mit Gewalt behandelt. Der Mörder, der das Gesetz “Du sollst nicht töten” übertreten hat, wird getötet, wo es die Todestrafe gibt, oder er wird lebenslänglich verurteilt. Man übt Gewalt aus gegen sein Leben, weil er Gewalt ausgeübt hat in Verseletzung des Gesetzes. Diese Gewaltausübung gilt nicht selbst als Gesetzesverletzung, sondern als gerechte Antwort auf eine Gesetzesverletzung. Der Mörder hat getötet, folglich ist er selbst zu töten. Indem der Mörder getötet wird, gilt das verletzte Gesetz als wieder hergestellt. Damit ergibt sich eine Gewalt gegenüber dem menschlichen Leben, die nicht als Verletzung des Gesetzes gilt, sondern als seine Wiederherstellung. Diese Gewalt schließt je nach Kulturtradition Gefängnis, Folter, Todestrafe und Enteignung ein. Aber es handelt sich immer um eine Gewalt, die das Gesetz selbst fordert und die unter Anwendung des Gesetzes ausgeübt wird, sodaß sie nicht als Gesetzesverletzung interpretiert wird.

      Es