Franz Josef Hinkelammert

Der Schrei des Subjekts


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der Ehebrecherin, im Rausch an der Börse und im Kaufhaus, das zum Tempel wird. Das was bei Johannes Jesus zeigt, ist die Rückgewinnung der menschlichen Dimensionen des Lebens.

      Das Verhältnis zu den Reichen, das Jesus in den synoptischen Evangelien einnimmt, kann man aus dieser Perspektive verstehen. Jesus wird vorgeworfen, daß er sich mit den Publikanern vermischt und Beziehungen aufrechterhält. Alle wissen, daß die Publikaner sehr häufig Betrüger sind und Diebe. Aber die Publikaner selbst wissen das auch. Gerade deshalb kann Jesus mit ihnen verkehren, denn trotz aller Gesetzesübertretungen bleiben sie Menschen, die menschlich denken können. Aber mit den Reichen, die reich geworden sind, indem sie das Gesetz erfüllt haben und die von der Legitimität ihres Reichtums überzeugt sind, verkehrt er nicht und kann es auch nicht. Er verkehrt nicht mit den Publikanern, obwohl sie das Gesetz verletzt haben, sondern weil sie es verletzt haben, aber dabei sehend geblieben sind und nicht erblindeten.

      Dies aber erklärt den Zusammenstoß mit den Händlern im Tempel. Gott verschwindet aus dem Haus Gottes und seinen Ort nimmt Mammon ein, der jetzt Gott ist. Aber es ist kein Gesetz verletzt worden. Gerade in Erfüllung des Gesetzes - in diesem Falle des Wertgesetzes – ersetzt es Gott im “Haus meines Vaters”. Gott wird in Erfüllung des Gesetzes entthront. Es handelt sich um einen Akt gegen Gott, der gleichzeitig ein Akt gegen den Menschen ist. Wo der Mensch entthront wird, wird auch Gott entthront. Wenn der Mensch für den Sabbat und für den Markt da ist, wird Gott aus dem “Haus meines Vaters” ausgeschlossen. Aber das Gesetz wird erfüllt. In Erfüllung des Gesetzes wird aus dem Haus Gottes ein Kaufhaus und daher eine Räuberhöhle, deren Gesetz jetzt die Ethik der Räuberbande ist. Es sind Räuber, die ihr Gesetz erfüllen und der, der das Gesetz erfüllt, kann sehr wohl ein Räuber sein.

      Demgegenüber ist wieder Jesus der Gesetzesbrecher, der bei der Verletzung des Gesetzes sogar Gewalt anwendet. Kein Gesetz gab ihm das Recht, die Händler aus dem Tempel zu vertreiben. Das Gesetz ist gegen Jesus, nicht gegen die Händler. Die Händler hatten ihre Mietverträge für ihre Verkaufsstände im Hinterhof des Tempels und sie hatten pünktlich ihre Miete bezahlt. Die Konsumenten kamen und kauften bei ihnen die Tiere die sie als Opfer darbringen wollten und das Gesetz gab ihnen das Recht, verpflichtete sie sogar, diese Opfer darzubringen. Sie hatten die Freiheit, gemäß ihrer Präferenzen einzukaufen und die Händler gaben einen guten Kundendienst und dienten auf ihre Art dem Gesamtinteresse. Jesus aber mischt sich ein gegen jedes Recht und jedes Gericht der Welt würde ihn verurteilen und die Zahlung des Schadens verlangen. Außerdem beleidigt Jesus sie, indem er sie Räuber nennt, während sie doch ihre Miete bezahlen und ihre Produkte zum Marktpreis verkaufen. Außerdem, sollten sie ihr Geschäft auf Kredit gegründet haben, diese Kredite aber bedienen wie es die Gerechtigkeit verlangt, weswegen sollten sie wohl Räuber sein? Sie sind gerecht und gerechtfertigt.4

      Aber diese ihre Überzeugung enthüllt ihre Unmenschlichkeit. Bei Johannes steht eine menschliche Welt der unmenschlichen gegenüber. Aber die menschliche Welt ist keineswegs eine Welt ohne Sünden. Dennoch, selbst die Sünde ist dort menschlich, sodaß man sprechen und sich verstehen kann. Die unmenschliche Welt hingegen beruht auf der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Diese Sünde scheint es nicht zu geben, sodaß man nicht einmal über sie sprechen kann oder darf. Jesus klagt diese Sünde als Blasphemie an, wenn er sagt, daß das “Haus meines Vaters” zum Kaufhaus gemacht worden sei. Für Johannes ist dies wichtig, denn wenig später wird Jesus der Blasphemie angeklagt werden von jenen, die er der Blasphemie angeklagt hat. Derjenige, der die Blasphemie anklagt, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, wird durch das Gesetz selbst der Blasphemie angeklagt. Dies ist Ironie des Johannes.

      Jesus und das mosaische Gesetz

      Der Kritik des Gesetzes seitens Jesus unterliegt ständig ein tiefer Sinn der Rückgewinnung des mosaischen Gersetzes. Für Jesus hat das Gesetz in seiner Zeit die Wurzeln des mosaischen Gesetzes selbst verloren. Er sieht es als ein mosaisches Gesetz an, das den Sinn des mosaischen Gesetzes verloren hat. Daher geht alle Kritik des Gesetzes, die Jesus durchführt, von der Rückgewinnung des mosaischen Gesetzes gegenüber diesem mosaischen Gesetz seiner Zeit aus. Jesus versteht sich selbst in seiner Kritik als in der Tradtion des mosaischen Gesetzes stehend.

      So sagt er über das Gesetz Moses zu den Juden, die ihm zuhören: “Hat nicht Mose euch das Gesetz gegeben? Und doch tut keiner von euch das Gesetz.” (Joh 7, 19) Er sagt dies Menschen gegenüber, die ihm im Namen des Gesetzes vorwerfen, einen Kranken am Sabbat geheilt zu haben. Sie werfen ihm vor, das Gesetz verletzt zu haben. Jesus hingegen wirft ihnen gerade deswegen vor, das Gesetz nicht zu erfüllen. Er hat am Sabbat einen Kranken geheilt und behauptet, eben dadurch das Gesetz erfüllt zu haben. Seine Zuhörer verteidigen den Sabbat als Legalismus und als formale Norm, sodaß sie überzeugt sind, das Gesetz zu erfüllen. Aber Jesus wirft ihnen vor, es gerade dadurch nicht zu erfüllen. Davon ausgehend, interpretiert Jesus das Gesetz des Moses:

      “Mose hat euch die Beschneidung gegeben – nicht, daß sie von Mose stammt, sondern von den Vätern -, und ihr beschneidet einen Menschen am Sabbat. Wenn ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt, damit das Gesetz des Mose nicht verletzt werde, was zürnt ihr mir, weil ich einen ganzen Menschen am Sabbat gesund gemacht habe?” (Joh 7, 22-23)

      Jesus argumentiert vom Gesetz des Mose aus. Der Formalismus des Gesetzes des Sabbat wird aufgehoben, wenn es um die Beschneidung geht, denn die Beschneidung ist das Zeichen des Gesetzes, das ein Gesetz ist für das Leben. Jesus interpretiert die Beschneidung als eine Heilung, allerdings als eine partielle Heilung. Daher kann er hinzufügen: “was zürnt ihr mir, weil ich einen ganzen Menschen am Sabbat gesund gemacht habe?”

      Das Gesetz ist ein Gesetz für das Leben. Sofern es das ist, muß es ständig einem Urteil der Unterscheidung unterliegen, sodaß das Gesetz aufgehoben wird immer dann, wenn es nicht für das Leben dient. Jedes formale Gesetz, das diesem Urteil nicht unterliegt, wird zum Gesetz, das tötet. Ein Gesetz rein formal anzuwenden ohne solch eine Unterscheidung, führt zum Tod. Daher ist auch die Ablehnung eines solchen Unterscheidungskriteriums tödlich. Daher sagt Jesus: “Warum sucht ihr mich zu töten?” (Joh 7, 19)

      Daher ruft er dazu auf, zu urteilen, denn ein Urteil über das Gesetz ist nötig, damit es dem Leben dient: “Urteilt nicht nach dem Schein, sondern fällt ein gerechtes Urteil.” (Joh 7, 24) Dieses Urteilen ist dem Gesetz selbst nötig, damit es dem Leben dient und es hebt das Gesetz immer dann auf, wenn das menschliche Leben als Urteilskriterium es erfordert. Der einfache Formalismus des Gesetzes hingegen urteilt dem Schein nach und ist nicht gerecht.

      Jesus interpretiert das Gesetz des Mose als ein reflexives Gesetz in bezug auf das Leben des Menschen. Es ist ein Gesetz, das für das Leben gegeben ist und deshalb ist es ein Gesetz, das im Namen dieses Lebens herauszufordern ist. Daher kann Jesus gemäß Lukas seine Öffentlichkeitsarbeit als Beginn eines “Gnadenjahres des Herrn” herausstellen. Auch seine Reflektion über den Sabbat läßt er in Geschehnissen der jüdischen Bibel wurzeln. Er kann daher darauf bestehen, daß er nicht gekommen ist, das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen und daß er nicht einen Buchstaben des Gesetzes wegnehmen will. Ich bin daher überzeugt, daß Jesus einen Verlust des mosaischen Gesetzes und seiner Tradition feststellt, die in seiner Zeit geschehen ist. Es handelt sich um den Verlust dieser Reflexivität des Gesetzes in bezug auf das Leben des Menschen und seiner Umwandlung in ein normatives, formal gültiges Gesetz, dessen Erfüllung man erreicht durch einfache und mechanische Erfüllung des Gesetzes als Norm. Tatsächlich ist ja die mosaische Tradition anders. Die Normen gelten vielfach nicht einfach durch formale Legalität; sie werden ständig im Namen des Lebens der Menschen herausgefordert. Diese Herausforderung von Normen läuft häufig auf neue Normen heraus, die die ursprüngliche Norm beschränken. So etwa mit der Norm der Zahlung von Schulden. Da aber solch eine Norm in ihrer Logik die Existenz jeder menschlichen Gemeinschaft untergräbt, fordert man sie durch andere Norman heraus, die sie begrenzen. Solche Begrenzungen sind etwa die Erklärung von Gnadenjahren, Sabbatjahren oder Jubeljahren, die der formalen Norm im Namen des menschlichen Lebens ihre absolute Geltung nehmen. Dies geschieht durch eine Reflexivität en bezug auf dieses Leben, die in das Gesetz selbst eingeführt wird. Alle Gesetze des Mose sind voll von solchen Reflektionen in bezug auf das menschliche Leben, wodurch den formalen Normen die absolute Geltung genommen