Es gibt sehr offensichtliche Beispiele. So wurde in den letzten Jahrzehnten der Sinnzusammenhang des Pater Noster durch Rückgriff auf Übersetzungen verändert. Der alte Text lautet: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben haben. Er wurde ersetzt durch: Vergib uns unsere Beleidigungen, wie auch wir denen vergeben, die uns beleidigt haben. So erscheint dann der ursprüngliche griechisch geschriebene Text in zwei sich widersprechenden Übersetzungen, die beide behaupten, den Sinn des Originals wiederzugeben. Das Original als Text wird daher nicht verändert. Aber in diesem Fall ist der Mechanismus außerordentlich transparent und es ist leicht, die zweite Übersetzung als Fälschung zu entlarven. Dennoch bleibt die Analogie mit den vorhergehenden Beispielen erhalten.
Diese Umkehrungen des Sinnzusammenhangs der christlichen Mysterien und Lehren geschehen vom ersten Jahrhundert an, aber sie brauchen viele Jahrhunderte, um sich durchzusetzen.Sie verwandeln ein Christentum, das vom Standpunkt des Armen, des Ausgeschlossenen und des Opfers her entstanden war, in ein orthodoxes Christentum, das vom Gedsichtspunkt der Macht her denkt. Der Weg des Christentum an die Macht und zum christlichen Imperium bezieht sich also nicht einfach auf den Zugang zur politischen Macht, sondern verwandelt das ganze Christentum von seinem Innern her, indem es die christlichen Mysterien und Lehren umkehrt.
Innerhalb dieser Umkehrung der christlichen Vorstellungen ist die Bedeutung der griechisch-römischen Philosophie, insbesondere des Platonismus und der Stoa, zu suchen. Diese Philosophie denkt ganz ausschließlich von der Macht her. Sobald das Christentum sich auf die Bekehrung des Kaisers und daher der Macht konzentriert, kehrt es sich um. Der Konflikt von Christentum und Imperium hört auf, und die griechisch-römische Philosophie gibt jetzt die begrifflichen Mittel, um diese Umkehrung durchzuführen. Es wird nicht etwa platonisch, sondern integriert den Platonismus in dieser seiner Umkehrung ins Gegenteil des Sinnzusammenhangs der christlichen Botschaft. Diese gibt weiterhin den kategorialen Rahmen des Denkens an, aber seine Umkehrung ins Gegenteil findet durch Rezeption der griechisch-römischen Philosophie statt. Deshalb wird in dieser Umkehrung das griechisch-römische Denken ebenfalls ganz radikal verändert.
Es ist dieses Christentum, das seine Umkehrung durchführt, indem es eine antijudaische Lektüre seiner Heiligen Schriften durchführt. Die christlichen Schriften sind so strukturiert, daß ihre Umkehrung als Sinnzusammenhang die die Entwicklung einer antijudaischen Interpretation seiner Schriften zumindest fördert. Diese Tatsache ist besonders im Evangelium des Johannes sichtbar.
Diese Fähigkeit der christlichen Mythen und Lehren, ins Gegenteil umgekehrt werden zu können, finden wir ganz ebenso in den jüdischen Mythen und Lehren. Dies erklärt sich aus der gemeinsamen Geschichte des Christentums und des Judentums. Umso mehr fällt auf, daß die Mythen der griechischen Tradition nicht diese gleiche Dimension der möglichen Umkehrung haben. Daher wird man nur schwer Beispiele solcher Umkehrungen im griechischen Denken finden. Die griechischen Mythen und das entsprechende Denken gehen direkt von der Macht aus und denken diese Macht, sodaß die Möglichkeit ihrer Umkehrung von vornherein ausgeschlossen wird. Auch diese Texte sind natürlich ambivalent wie jeder Text. Aber ihre Ambivalenz ist linear und gradweise.
Aus diesem Grund war wohl das Christentum für das griechisch-römische Denken unüberwindbar. Diesem Denken fehlte eine Dimension, um überhaupt antworten zu können. Es wurde schlechthin überrollt. Aber es gab eine Rückgewinnung, die innerhalb der christlichen Kategorien stattfand durch die Umkehrung des Christentums in sein Gegenteil, sodaß jetzt auf eine völlig neue Art wiederum ein Sinnzusammenhang entstand, der aufs neue von der Macht als letzter Instanz ausging. Es ist aber gerade dieses von der Macht her denkende Christentum, das mit seinem kategorialen Rahmen alle bisherige Macht in allen ihren Dimensionen neu strukturiert und das damit eine Machtposition entwickelt, die mehr Macht zu entwickeln vermochte als alle vorherige Macht. Aus dieser neuen Machtkonstellation entsteht die Moderne, die weiter von ihr geprägt ist trotz aller ihrer Säkularisationen und die schließlich die ganze Welt erobert. Keine Macht hat widerstehen können. Sowohl der Liberalismus als auch der Sozialismus haben noch diese Wurzel. Auf diese Weise konnte das Christentum, als von der Macht her denkende Orthodoxie, zuerst als imperiales Christentum, danach in seinen Säkularisierungen, die gesamte Welt erobern. Diese Säkularisierungen sind natürlich nicht als solche christlich und entstehen häufig gerade in Auseinandersetzungen mit dem Christentum. Sie behalten aber den vom Christentum geschaffenen universalen kategorialen Rahmen bei, in dem der Arme, der Ausgeschlossene und der Geopferte das Wahrheitskriterium ist. Dies ist ganz unabhängig davon, ob dies nun in seiner ursprünglichen Form geschieht oder in seinen Umkehrungen ins Gegenteil. Ganz ausschließlich in diesem Sinne handelt es sich um Säkularisierungen des Christentums. In säkularisierter Form wird dieser kategoriale Rahmen weitergeführt so wie die Säkularisierung grundlegende Mythen, die aus dem Christentum stammen, in säkularisierter Form weiterführt. Sie löst nicht die Mythen auf, sondern verwandelt ihre Form, indem sie sie säkularisiert.
Vor wenigen Jahren hat Camdessus, Generalsekretär des Internationalen Währungsfonds, eine solche Umkehrung durchgespielt. Camdessus beschäftigt sich nicht nur mit Geld, sondern auch mit Theologie. In einem Vortrag über “Der Markt und das Reich Gottes” entwickelt er eine Umkehrung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Als Text übernimmt er sie fast vollständig, kehrt sie aber in ihr Gegenteil um durch die Veränderung der Bedeutung einiger zentraler Worte. Er geht dabei von der Option für die Armen aus, von der die Befreiungstheologie spricht und verwandelt sie in eine Option für die Reichen, denn den Armen kann es nur besser gehen, wenn es den Reichen besonders gut geht. Will man also realistisch etwas für die Armen tun, dann muß man den Reichtum der Reichen fördern. Aus der Option für die Armen wird dann die Option für die strukturellen Anpassungen der IWF.2
Diese Umkehrungen sind natürlich nicht auf religiöse Texte beschränkt, denn sie beziehen sich ganz generell auf Sinnzusammenhänge unserer Welt. Sie entstehen aus der jüdisch-christlichen Tradition, sind aber leicht säkularisierbar und und treten heute ganz generell in unserem sozialen Leben auf. Auch der Stalinismus beruht auf der Umkehrung des Sinnzusammenhangs der Marxschen Theorie in ihr Gegenteil. Etwas ähnliches ist mit allem aufklärerischen Denken geschehen. Alle heutigen ideologischen Auseinandersetzungen beruhen auf solchen Umkehrungen. Dies ist heute auch weitgehend bewußt, sodaß die ideologische Auseinandersetzung sich ganz stark auf die Besetzung von Worten konzentriert, die die Sinnzusammenhänge unseres Lebens ausdrücken und durch deren Bedeutungsveränderungen generelle Sinnveränderungen bei Beibehaltung gleicher Texte erzeugt werden.
Das orthodoxe imperiale Christentum wird durch die Umkehrung ins Gegenteil ein Anti-Christentum. Aber es hält die Wahrheit des Christentums als gefangene und unterdrückte Wahrheit am Leben. In diesem Sinne ist es, wie Bloch sagt, das Gute an diesem Christentum, daß es Häresien schafft. In den Häresien und den als häretisch angesehenen innerkrichlichen Bewegungen drängt die Wahrheit immer wieder ans Licht, auch wenn sie in späteren Entwicklungen wieder verloren geht.
Während das Anti-Christentum der Orthodoxie im Christentum den Armen und Geopferten als letzten Bezugspunkt beibehält, wenn auch in der reduzierten Form als einfache moralische Pflicht des Mächtigen oder schließlich als automatisches Produkt des Marktmechanismus, entsteht auf dem Höhepunkt der Moderne ein völlig neues Anti-Christentum, das dieses Wahrheitskriterium und schließlich jedes Wahrheitskriterium vernichten will, um es durch den Willen zur Macht zu ersetzen. Die Wahrheit wird nicht mehr gefangen gesetzt, sie soll vernichtet werden. Dieses Anti-Christentum will den vom Christentum universalisierten kategorialen Rahmen selbst sprengen, und schließt alle seine seine Säkularisierungen ein. Es handelt sich um einen radikalen Anti-Humanaismus, der konsequenterweise Christentum, Liberalismus und Sozialismus als die Summe aller Humanismen nimmt und als ihre letzte Quelle und wahre Wurzel das Judentum ansieht.
Die erste Welle dieses Anti-Humanismus - der Faschismus - war daher zutiefst antisemitisch, aber gleichzeitig anti-christlich, anti-liberal und anti-sozialistisch. Heute ist eine neue Welle dieser Art entstanden und geht mit der heutigen Globalisierungsstrategie zusammen. Wiederum ist der Gegner der Humanismus selbst in allen seinen Formen, insbesondere jetzt der klassische - utopische - Liberalismus zusammen mit dem von ihm hervorgebrachten Reformkapitalismus und der Sozialismus. Er ersetzt den Humanismus durch die angebliche Humanisierung des Menschen durch seine Brutalisierung und Verwilderung im Namen eines universalen Anti-Humanismus. Es ist jener Anti-Humanismus, von dem bereits