Franz Josef Hinkelammert

Der Schrei des Subjekts


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den Himmel. In der Form des Himmels, spricht er über die Erde. Aus dem Himmel, den er beschreibt, können wir seinen Stand auf der Erde und seine Vorstellungen darüber, wie sie sein sollte, ablesen. So ist es auch, wenn jemand über die Hölle spricht: auch in diesem Falle spricht er über die Erde. Daher sagt er uns, wie er seine Feinde einschätzt und was er mit ihnen tun wird, wenn er tun kann, was er möchte. Der Himmel, von dem spricht, existiert in der Form, in der man über ihn spricht, ganz sicher nicht, ebensowenig die Hölle. Sollte es einen Himmel geben, so ist er mit sicherheit etwas ganz Anderes als das, was von ihm sagt. Aber deshalb ist das, was vom Himmel sagt, nicht unsinnig. In himmlischen Vorstellungen sagt es immer etwas über die Erde.

      Ich bin überzeugt, daß dies in der Tradition des menschlichen Denkens sehr Häufig auch bewußt ist. Die Moderne hat allerdings zum großen Teil dieses Bewußtsein verloren. Aber es wurde auch wieder zurückgewonnen. Marx sieht dies sehr genau, und weiß, daß, wer über den Himmel spricht, auf himmlische Weise immer auch über die Erde spricht. Max Weber tut deben dies in seinen Analysen der Religionen. Wenn er die protestantische Ethik en ihrer Beziehung zum Geist des Kapitalismus untersucht, spricht er darüber, wie die englischen Puritaner des XVIII. Jahrhunderts sich die Erde bezogen, als sie über den Himmel sprachen und wie diese ihre Vorstellung vom Himmel die englische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschütterte und veränderte.

      „Machen wir also die Erde zum Himmel“, fordert bereits der Kirchenvater Johannes Chrysostomus.1 In Wirklichkeit sagt das jeder, der einen Himmel denkt. Man muß dann fragen, was er sich unter dem Himmel vorstellt, um zu wissen, was er auf der Erde will.

      Revolutionen auf der Erde setzen Revolutionen im Himmel voraus. Die Revolution im Himmel sagt etwas über mögliche Revolutionen auf der Erde. Dasselbe gilt für Konterrevolutionen. Ihnen geht eine Konterrevolution im Himmel voraus. Utopien und Idealtypen säkularisieren dieses Verhältnis zum Himmel, aber sie schaffen es nicht ab. Sie enthalten Reflektionen über unmögliche, aber perfekte Welten, die dann das aussagen, was man als Mögliches für diese Welt denkt.

      Daher können wir eine Geschichte des Himmels und eine Geschichte der Hölle schreiben, und eines Geschichte Gottes und des Teufels, ganz so, wie wir Geschichten von Gesellschaften schreiben können. Insgesamt aber werden diese Geschichten eine einzige Geschichte der Menschheit ausmachen. In dieser Geschichte aber kann die Religion niemals ein bloßer Überbau sein. Sie steckt kategoriale Räume ab, innerhalb derer die wirkliche Geschichte vor sich geht. Himmel können Höllen implizieren, aber es gibt Höllen, die Himmel implizieren. Wenn heute die Hölle auf Erden für die Mehrheit der Bevölkerung produziert wird, so gibt es Minderheiten, die diese Hölle als ihren Himmel ansehen. Auch sie haben stheologische Reflektionen über den Himmel, und dieser Himmel hat etwas mit den Höllen zu tun, die hervorgebracht werden.

      Ich verstehe das Evangelium des Johannes unter diesem Gesichtspunkt. Er schafft zentrale Kategorien, die bis heute in all unserem Denken über den Menschen und die Gesellschaft gegenwärtig sind. Es mag sich um einen theologischen Text handeln, aber man wird ihn niemals verstehen, wenn man nicht davon ausgeht, daß theologische Texte die Wirklichkeit interpretieren. Sie sprechen auf theologische Weise über die Wirklichkeit. Nur deshalb kann daraus etwas hervorgehen, wie hier tatsächlich hervorging: ein Welttheater.

      Der größere Teil des Buches untersucht das Evangelium des Johannes, das Welttheater, das er entwickelt und seine Verwandlungen bis heute. Hierauf wurden am Ende des Buches zwei Arbeiten über den heutigen Globalisierungsprozeß eingeschlossen, die den Thesen des Hauptteils entsprechen und sie für unsere heutige Gegenwart vertiefen können.

      Man sagt, daß im europäischen Mittelalter und besonders im XIV. Jahrhundert nach dem Ausbruch der Großen Pest Feste gefeiert wurden, in denen man tanzte, bis auch der letzte von der Pest hinweggerafft wurde. Unsere Gesellschaft heute tanzt diesen Tanz. Es wäre notwendig, ihn zumindests einen Moment zu unterbrechen, um darüber nachzudenken, ob es nicht besser wäre, der Pest entgegenzutreten um sie aufzuhalten anstatt diesen Todestanz bis zu Ende zu tanzen

      Einführung: Methodologische Grundlegung

      Im Folgenden will ich den Text des Evangeliums des Johannes als einen Gründungstext unserer Kultur behandeln. Es gibt Schlüsselprobleme der Moderne, die in diesem frühen Text auftauchen, der auf radikale Weise mit der griechisch-römischen Tradition bricht. Johannes ist ein christlicher Jude, der seinen Text außerhalb Palestinas schreibt. Er richtet sich an die Christen seiner Region, die sowowhl jüdische als auch römische nichtjüdische Christen sind. Er schreibt über den Juden Jesus, der in Palestina vor der Zerstörung des Tempels und daher in einer jüdischen Umgebung lebte, in der der Tempel alles menschliche Zusammenleben prägte. Daher war das Judentum in dieser Zeit nicht einfach eine Religionsgemeinschaft, sondern eine als Religionsgemeinschaft organisierte jüdische Nation. Daher bezieht sich das Evangelium direkt auf eine jüdische Gesellschaft: das jüdische Gesetz, der Tempel, der Sanhedrin, die Farisäer und die Saduzäer. Dennoch, in einem zentralen Teil des Evangeliums erscheint die herrschende Macht des römischen Imperiums in der Gestalt des Statthalters Pontius Pilatus. Jerusalem und der Tempel haben zwar ein jüdische Autorität, aber diese hat lediglich eine relative Autonomie innerhalb des Imperiums, dem sie unterworfen sind.

      Das Evangelium des Johannes, das über diese Vorgänge berichtet, wird allerdings in einer völlig anderen Umgebung geschrieben und nach einem Zeitraum von über einem halben Jahrhundert. Man nimmt heute an, daß es in den achziger oder neunziger Jahren des ersten Jahrhunderts geschrieben wurde. Jerusalem und der Tempel sind zerstört, es gibt keine als Nation organisierte jüdische Gesellschaft mehr und die Juden jüdischer Religion sind genau so zerstreut wie es die Christen sind. Sie haben keine politische jüdische Autorität mehr und auch kein Gebiet mehr, in dem sie politische Autonomie hätten. Es gibt keinen Hohenpriester mehr und sie organisieren sich jetzt als Religionsgemeinschaft von ihren Synagogen aus; ihre politisch-religiöse Autorität wird zur rabbinischen Autorität.

      Die Christen sind jetzt von der jüdischen Religion getrennt, und die Synagoge verweigert ihnen den Zugang. In den vorhergehenden Jahrzehnten und vor allem vor der Zerstörung des Tempels war der Tempel weiterhin auch das Gotteshaus der Christen, weil er das Gotteshaus einer gesetzlich begründeten Nation war. Er war es, auch wenn die Christen bereits eine eigene Identität entwickelten und ihre Gegenwart nur ertragen wurde. Jetzt hingegen bricht ein ernsthafterer Konflikt auf zwischen Christen und Juden und das Wort Juden bezieht sich immer mehr auf die Anhänger der jüdischen Religionsgemeinschaft. Die Christen verlieren ihre jüdische Identität, auch wenn sie aus der jüdischen Tradition kommen. Das Evangelium des Johannes macht diese Situation gegenwärtig und geht von ihr aus. Es richtet sich an Christen, die jetzt von den Juden getrennt sind, seien diese Christen nun von jüdischer Herkunft oder nicht. Sein zentrales Problem aber ist nicht etwa, die Beziehung zu den Juden der Synagoge zu interpretieren, sondern die Stellung dieser Christen - und ihr Verhältnis zu den Juden - innerhalb des römischen Imperiums. Das Evangelium des Johannes erzählt die Geschichte Jesu, die in einem jüdischen Palestina vor sich geht, das einen autonomen Staat hat, um von da aus zu Christen zu sprechen, die im römischen Imperium leben ohne irgendeine Vermittlung irgendeines jüdischen, autonomen Staates. Indem es über das Leben Jesu in Palestina spricht, muß es gleichzeitig, wenn auch verschlüsselt, über das Leben dieser Christen in Teilen des Imperiums sprechen, die wenig mit dieser Geschichte zu tun haben oder sie vollends verloren haben. Dies gibt in diesem Evangelium eine besondere Wichtigkeit der Figur des Pontius Pilatus, denn hier spitzt sich die Beziehung Jesu und des Sanhedrins zum Imperium zu.

      Nun ist der Text des Evangliums des Johannes ein geschriebener Text. Daher kann man seine wörtliche Darstellung nicht mehr ändern. Dennoch ändern auch diese Texte im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung.

      Dies kann sehr einfache Gründe haben. Der Text stand nicht immer wörtlich fest, sondern erst von seiner Kanonisierung an. Immer gibt es daher eine Zeit, in der sie umgeschrieben wurden. Es gibt keine ursprünglichen Manuskripte. In einer Zeit, in der das Material, auf dem der Text geschrieben steht, nur sehr begrenzte Zeitdauer hat wie das beim Papyrus der Fall ist, wird der Text uns in Form von Kopien des Originals übermittelt, die selbst geschriebene Texte sind. Der Kopierer kann den Text ändern oder sich beim Kopieren irren. Er kann auch Einschübe machen,