Aber wenn Gott nicht ihr Vater ist, so ist es Abraham auch nicht.
Jesus kennt letztlich nur eine Sünde: den Mord. Mord schließt in der jüdischen Tradition die Ungerechtigkeit und die Ausbeutung ein. Der Ungerecchte mordet durch seine Ungerechtigkeit. Die Lüge ist der Schleier, der den Mord verdeckt, sodaß der Mord als etwas ganz anderes auftritt. Daher heißt bei Jesus das in-der-Wahrheit-sein die Bejahung des Lebens mittels des Nein zum Töten. Man ist nicht in der Wahrheit etwa, weil man nur mit guten Günden tötet, aber auch nicht dadurch, daß man von Abraham abstammt oder sich taufen läßt. In der Wahrheit sein, geht durch ein Nein zum Töten hindurch, auch gegenüber dem Mord, der in Erfüllung des Gesetzes geschieht. Es gibt keine guten Gründe zum Töten. Alle Gründe sind schlechte Gründe, wenn sie das Töten legitimieren. Gute Gründe zum Töten sind immer Lüge und sie kommen vom Vater der Lüge.
Diese Interpretation der Lüge finden wir auch bei Paulus:
“Gottes Zorn enthült sich vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhalten.” (Röm 1,18)11
Dieses Niederhalten hat die Bedeutung von Gefangenhalten. Die Ungerechtigkeit hält die Wahrheit in einem Gefängnis. Die Ungerechtigkeit behauptet, die wahre Gerechtigkeit zu sein. In moderner Sprache ist dies Ideologienkritik.
Auf die Rede Jesu hin, der gemäß es sich aus der Haltung gegenüber dem Mord erweist, ob man Gott oder den Teufel zum Vater hat, kommt eine ebenso radikale Antwort von seiten seiner Zuhörer, die doch am Anfang Jesu Gläubige waren: “Sagen wir nicht mit Recht, daß... du von einem Dämon besessen bist?” (Joh 8,47) und: “”Jetzt wissen wir, daß du von einem Dämon besessen bist.” (Joh 8,52) Und Jesus antwortet: “Ich bin von keinem Dämon besessen, sondern ich ehre meinen Vater, aber ihr entehrt mich.” (Joh 8,49)
Hatte Jesus gesagt, daß die Haltung zum Mord erweist, ob man Gott oder den Teufel zum Vater hat, so nehmen seine Zuhörer dies jetzt auf, aber drehen es um. Jetzt hat derjenige, der dies sagt, nämlich Jesus, den Teufel im Leibe. Es ist jetzt aus der Sicht seiner Zuhörer, die zu Gegnern geworden sind, teuflisch, das Leben durch das Nein zum Töten zu vermitteln. Hier ist klar: Jesus ist Luzifer und Luzifer ist der Teufel.
Es tritt ein Spiel von sich korrespondierenden Gegensätzen ein. Jesus sagt zu ihnen, sie hätten den Teufel zum Vater. Sie aber antworten, Jesus habe einen Dämon, wobei Dämon hier bereits die Bedeutung von Teufel hat. Vom Standpunkt Jesu aus, der die Bereitschaft zum Töten ins Auge fast, haben sie den Teufel zum Vater. Aber von ihrem Standpunkt aus, der vom Gesetz und der Freiheit durch Gesetz aus urteilt, hat Jesus einen Teufel. Ein ähnliches Spiel der Gegensätze hatten wir vorher bereits gesehen im Fall der Tempelreinigung, als Jesus seine Gegner der Blasphemie anklagt. Sie antworten dadurch, daß sie ihn der Blasphemie anklagen. Der neuralgische Punkt, von dem aus diese gegensätzlichen Anklagen verständlich werden, ist der Standpunkt des Gesetzes und Gerechtigkeit durch die Erfüllung des Gesetzes. Jesus urteilt jeweils von einer Befreiung aus, die das lebende Subjekt dem Gesetz gegenüber vertritt, während die andere Seite von der formalen Erfüllung des Gesetzes her urteilt, der gegenüber die Subjektivität dem Gesetz gegenüber Blasphemie und Teufelswerk ist. Und Johannes macht sehr eindeutig klar, daß für ihn der Glaube darin besteht, sich als lebendiges Subjekt dem Gesetz gegenüber zu befreien und daß gerade dies der Glaube des Jesus ist, den man im Glauben teilt. Dieser Glaube aber ist ein Weg, nicht ein für-wahr-halten.
Die ganze Auseinandersetzung endet:
“Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Er aber verbarg sich und ging aus dem Tempel.” (Joh 8,59)
In der Sicht von Johannes handelt es sich um einen Prozeß der Verhärtung der Herzen, die in einer Spirale vor sich geht. Diejenigen, mit denen Jesus zusammenstößt, sind Leute, “die zum Glauben an ihn gekommen waren.” (Joh 8,31) Sie haben keine Absicht, Jesus zu töten. Jesus konfrontiert sie damit, was es heißt, Söhne Abrahams zu sein. Jesus tut dies auf provozierende Weise, worauf sie sich zunehmend verschließen. Sie verhärten ihre Herzen. Am Schluß wollen sie Jesus tatsächlich töten.
Jesus hat in diesem Prozeß einen durchaus aktiven Teil. Er enthüllt den andern vor sich selbst und vor allen andern. Bekehrt der andere sich nicht, so wendet er sich gegen ihn. Man kann dann versten, warum Johannes in einem etwas späteren durchaus ähnlichen Zusammenhang Isaias zitiert:
“Er hat ihre Augen blind und ihr Herz hart gemacht, dami sie nicht mit ihren Augen sehen und mit ihren Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.” (Joh 10,40)
Die Bedeutung dieser Szene
Diese gesamte Szene ist äußerst überraschend. Hier wird der extremste und radikalste Zusammenstoß des ganzen Johannesevangeliums berichtet. Jesus stößt kein einziges mal mit seinen Gegnern aus der jüdischen Orthodoxie in solch extremer Weise zusammen. Und gerade diese Szene bezieht sich auf einen Zusammenstoß mit Gläubigen. Eine ähliche Radikalität des Zusammenstosses gibt es nur noch im Falle des Judas. Aber auch in diesem Falle handelt es sich um den Zusammenstoß mit einem Gläubigen und nicht mit einem Vertreter der jüdischen Orthodoxie. Auch im Falle des Judas handelt es sich nicht um den Zusammenstoß mit einem “Juden”, - wie dies die spätere antijudaische und antisemitische Lektüre dieser Texte behauptet - sondern, wenn man dieses Wort hier benutzen will, um den Zusammenstoß mit einem Christen. Es handelt sich um das Problem der Apostasie.
Die kommentierte Szene erweckt Aufmerksamkeit. Johannes ist derjenige Evangelist, der am wenigsten als Chronist schreibt. Er schreibt wirklich ein Welttheater. Was aber kann dafür diese Szene bedeuten?
Ich nehme an, daß Johannes in dieser Szene etwas sagt, ohne es zu sagen und man könnte sich fragen, was das wohl sein könnte. Ich nehme an, daß Johannes, wenn er diesem Konflikt zwischen Jesus und seinen Gläubigen einen so herausragenden Ort gibt, sich nicht einfach auf etwas bezieht, was in der Vergangenheit tatsächlich geschehen ist. Man kann daher annehmen, daß er durch diese Szene hindurch etwas beleuchten will, was in seiner Zeit, in der erschreibt, geschieht. Johannes spricht zu Christen seiner Zeit und will ihnen etwas vermitteln. Man kann daher annehmen, daß diese Kirche, zu der Johannes spricht, gerade diesen Konflikt erlebt, von dem er als Konflikt der Vergangenheit spricht. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Kirche, in der Johannes tätig ist, dieser Konflikt um den Glauben ausgetragen wird, den Johannes an Hand eines Konfliktes zwischen Jesus und seinen Gläubigen darstellt. Es ist ebenfalls möglich, daß dieser Konflikt in der Kircher, zu der Johannes spricht, sogar gewaltsame Formen angenommen hat.12 Dies würde dann bedeuten, daß Johannes, wenn auch in verschlüsselter Form, von diesem Konflikt spricht. Die Christen sind nicht nur von den Römern oder den Juden der Synagoge verfolgt, sondern auch von Christen. Der Glaube an Jesus ist in einem Konflikt mit dem Glauben des Jesus.
Das Evangelium des Johannes läßt eine solche Vermutung aufkommen. An einem andern Ort läßt Johannes Jesus sagen:
“Sie werden euch aus den Synagogen ausstoßen. Ja, es kommt die Stunde, wo jeder, der euch tötet, Gott damit einen heiligen Dienst zu erweisen glaubt.” (Joh 16,2)
Die Juden hatten zu dem Zeitpunkt, als Johannes das schrieb, die Christen aus den Synagogen ausgeschlossen. Aber der zweite Teil des Satzes bezieht sich nicht auf die Juden. “Jeder, der euch tötet” bezieht sich auf alle. Es schließt vor allem die Christen selbst ein. Auch Christen können diejenigen verfolgen und töten, die den Glauben des Jesus zum ihren machen, der darin besteht, nicht zu töten. Dieser Art Christenverfolgungen durch Christen ziehen sich durch unsere gesamte Geschichte hindurch und geschahen möglicherweise bereits in der Zeit der Niederschrift des Johannesevangeliums. Im ersten Johannesbrief kommen solche Konflikte zum Ausdruck:
“Liebe Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommt, so sind auch jetzt schon viele Antichristen aufgetreten. Daran erkennen wir, daß es die letzte Stunde ist. Aus unserer Mitte sind sie hervorgegangen; aber sie gehörten nicht zu uns.” (1 Joh 2, 18-19)
Auch hier ist klar, daß die Antichristen Christen sind, die sich dem Glauben des Jesus widersetzen. Sie sind “aus unserer Mitte”