Wut und Empörung auslösten. Sie stoßen schlechterdings mit allem Gemeinsinn zusammen und der Gemeinsinn reagiert agressiv. Jetzt aber erscheint ein ganz anderes Argument. Johannes zeigt zuerst, daß die Hohenpriester und die Pharisäer Angst haben. Sie haben Angst vor den Römern, die durch diesen Jesus provoziert werden könnten: “Wenn wir ihn so weitermachen lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und uns den heiligen Ort und das Volk wegnehmen.” Sie sehen sich einer extremen Wahlsituation gegenüber: entweder töten sie Jesus oder die Römer töten sie, zusammen mit der gesamten jüdischen Nation und ihren heiligen Orten. Es handelt sich daher um ein Problem des “politischen Realismus” gegenüber den auf sie zukommenden Sachzwängen. Es ergibt sich für sie, daß es keinen anderen realistichen Ausweg aus dieser Situation gibt außer dem Tod Jesu: “daß es besser ist, wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht.” Der Hohe Rat läßt sich von diesem Argument überzeugen: “Seit jenem Tag also waren sie entschlossen, ihn zu töten.”
Vom Gesichtspunkt des Gemeinsinns und des “politischen Realismus” her geurteilt, ist diese Entscheidung völlig rational. Die Hohenpriester haben “gute Gründe”, Jesus zu töten. Ich bin überzeugt, daß Johannes genau das sagen will. Die Entscheidung, Jesus zu töten, ist kein Produkt irgendeiner Wut gegen Jesus, obwohl solche Wut und Empörung existiert. Aber sie bestimmen nicht die Entscheidung. Sie ist auch kein Ergebnis irgendeines “blinden Hasses”. Jedenfalls erklärt der Haß nicht die Entscheidung. Die Entscheidung fällt als Ergebnis eines völlig normalen und rationalen politischen Urteils. Die Hohenpriester unterwerfen sich dem Gesetze eines Sachzwangs und handeln entsprechend. Johannes zeigt sie als Männer mit guten Gründen. Wenn später in der Passionsgeschichte diese Hohenpriester ihre Anklage gegen Jesus im Namen ihres Gesetzes erheben und für Jesus die Todesstrafe fordern, zeigen sie nur, daß ihr Kriterium des politischen Realismus mit dem Gesetz übereinstimmt, das denjenigen zum Tode verurteilt, der sich selbst zum Sohn Gottes macht.
Für Johannes ist gerade dieses Argument wichtig. Wäre Jesus einfach von Mördern umgebracht worden, die ihn aus Haß beseitigen wollen, verliert alle seine Theologie ihren Sinn. Ich bin auch überzeugt, daß er hier bewußt auf die Position antwortet, die in den synoptischen Evangelien zum Ausdruck kommt und die eher Haß und Wut als Grund für die Verurteilung Jesu durch die Hohenpriester ansehen. Johannes hingegen zeigt sie gerade als ehrenwerte, sogar mutige Männer mit guten Gründen und vernünftigem Urteil. Sie gehen dem Gesetz nach, dem Gesetz des vernünftigen Handelns, den Sachzwängen und den Normen der Gesetzlichkeit.
Das Argument des Johannes hingegen zielt auf etwas ganz anderes. Er will zeigen, daß die guten Gründe zum Töten keine guten Gründe sind. Er unterschiebt den Hohenpriestern daher keine schlechten Gründe, wie dies die synoptischen Evanglien tun. Er gesteht ihnen Gründe zu, die alle Welt für gute Gründe zum Töten hält. Worum es ihm zu zeigen geht ist, daß die guten Gründe zum Töten genau so schlechte Gründe sind wie die schlechten Gründe zum Töten: alle Gründe zum Töten sind schlechte Gründe. Alle guten Gründe zum Töten aber sind Gründe, die aus der Erfüllung von Gesetzen entspringen. Folglich ist Jesus Opfer der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Daher klagt Johannes nicht die Hohenpriester an. Er klagt das Gesetz an, er klagt den politischen Realismus an, er klagt den Gemeinsinn an. Er stellt dagegen seinen Realismus, der darin bestehen soll, nicht zu töten. Dieser Realismus des Johannes steht gegen den politischen Realismus immer dann, wenn der politische Realismus gute Gründe zum Töten sieht.
Die institutionelle Freiheit durch Gesetz: Dietrich Bonhoeffer
Ich glaube, daß Dietrich Bonhoeffer dieses Problem der Freiheit durch das Gesetz an ganz entscheidender Stelle für seine theologische und politische Entwicklung behandelt. Er schreibt darüber während der Zeit des Nazi-Regime in Deutschland. Er hatte 1930/1931 in den USA studiert. Im Jahre 1939 sucht er Asyl in den USA, kehrt aber nach wenigen Monaten nach Deutschland zurück, weil er glaubt, es sei seine Pflicht, Widerstand gegen das Regime auszuüben. Er wird schließlich zum Tode verurteilt und 1945, kurz vor Ende des Krieges, hingerichtet.
Von der Zeit seiner Studien in den USA an analysiert er das Problem der Freiheit, wobei er mit der Freiheit der Kirche beginnt:
"‘..die religiöse Freiheit ist für den Amerikaner ein selbstverständlicher Besitz... Freiheit bedeutet…hier die Möglichkeit, und zwar die der Kirche von der Welt gebotene Möglichkeit der unbehinderten Wirksamkeit. Wird aber die Freiheit der Kirche wesentlich als diese Möglichkeit verstanden, dann ist ihr Begriff noch unerkannt. Freiheit der Kirche ist nicht dort, wo sie Möglichkeiten hat, sondern allein dort, wo das Evangelium sich wirklich und in eigener Kraft Raum auf Erden schafft, auch und gerade wenn ihr keine solchen Möglichkeiten angeboten sind. Die wesentliche Freiheit der Kirche ist nicht eine Gabe der Welt an die Kirche, sondern sie ist die Freiheit des Wortes Gottes selbst, sich Gehör zu verschaffen... Das amerikanische Lob der Freiheit ist eher ein Lob, das der Welt, dem Staat, der Gesellschaft gezollt wird, als eine Aussage über die Kirche. Solche Freiheit mag ein Zeichen dafür sein, daß die Welt in Wahrheit Gott gehört. Ob sie ihm aber in Wirklichkeit gehört, das eben hängt nicht von dieser Freiheit als Möglichkeit, sondern von der Freiheit als Wirklichkeit, als Nötigung, als faktisches Geschehen ab. Freiheit als institutioneller Besitz ist keine wesentliches Prädikat der Kirche.... sie kann auch die große Versuchung sein, der die Kirche erliegt, indem sie ihre wesentliche Freiheit der institutionellen Freiheit opfert... Wo aber der Dank für die institutionelle Freiheit durch ein Opfer der Freiheit der Verkündigung abgestattet werden muß, dort ist die Kirche in Ketten, auch wenn sie sich frei glaubt.”15
Das Evangelium, das Bonhoeffer am meisten zitiert, ist das Johannesevanglium. Tatsächlich übernimmt er mit seiner Kritik der institutionellen Freiheit die wesentlichen Kriterien gerade aus der Auseinandersetzung im Kapitel 8. Institutionelle Freiheit legt in Ketten, wenn man sich nicht befreit. Daher sieht Bonhoeffer diese Notwendigkeit der Befreiung innerhalb einer institutionellen Freiheit:
“Die Amerikaner reden in ihren Predigten so viel von Freiheit. Freiheit als Besitz ist für eine Kirche eine zweifelhafte Sache, Freiheit muß erworben werden aus dem Zwang eines Muß. Freiheit der Kirche kommt aus dem Maß des Wortes Gottes. Sonst wird sie zur Willkür und endet in vielen Bindungen. Ob die Kirche in Amerika wirklich frei ist, ist mir sehr fraglich.” (Bonhoeffer, a.a.O. Bd.4, S.23)
Bonhoeffer interpretiert diesen Rückzug auf die institutionelle Freiheit als Verlust der Reformation:
“Die amerikanische Theologie und Kirche als ganze haben niemals zu verstehen vermocht, was ‘Kritik‘ durch Gottes Wort bedeutet in ihrem ganzen Umfang. Daß Gottes ‘Kritik‘ auch die Religion, auch die Christlichkeit der Kirchen, auch die Heiligung des Christen trifft, daß Gott seine Kirche jenseits von Religion und Ethik begründet hat, das bleibt zuletzt unverstanden. Ein Zeichen dafür ist das allgemeine Festhalten an der natürlichen Theologie. Christentum ist in der amerikanischen Theologie noch wesentlich Religion und Ethik... Die entscheidende Aufgabe ist heute das Gespräch zwischen dem Protestantismus ohne Reformation und den Kirchen der Reformation.” (Bonhoeffer, a.a.O. Bd.4,S.47/48)
Es kann Bonhoeffer daher nicht um den Glauben an Jesus, - das wäre bloße Religion -, sondern nur um den Glauben des Jesus gehen. Er drückt dies folgendermaßen aus:
“So ist die Kirche nicht ein Religionsgemeinschaft von Christusverehrern, sondern der unter Menschen Gestalt gewordene Christus.” (Bonhoeffer, a.a.O. Bd.4,S.89)
Dieser Glaube des Jesus ist für ihn dann ein jenseits der Religion. Nur so kann man seine These verstehen, daß Christentum keine Religion sei:
“Die Kirche kann ihren eigenen Raum auch nur dadurch verteidigen, daß sie nicht um ihn, sondern um das Heil der Welt kämpft. Andernfalls wird die Kirche zur ‘Religionsgesellschaft‘, die in eigener Sache kämpft und damit aufgehört hat, Kirche Gottes und der Welt zu sein.” (Bonhoeffer, a.a.O. Bd.4, S.123)
Dies führt dann auch bei Bonhoeffer zu einem universalen Nein zum Töten:
"In der Menschwerdung Christi empfängt die ganze Menschheit die Würde der Gottebenbildlichkeit zurück. Wer sich jetzt am geringsten