Gerhard Ebert

Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag


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stumm, zumal ihm durch den Kopf ging, dass diese Jutta, der er noch eben seine Gunst bezeugt hatte, womöglich erfahren könnte, dass er sich mit einer anderen Tänzerin vergnügte, dass es ihm also so ernst mit ihr gar nicht war. Uwe war eingesperrt in rundweg absurde kleingeistige Befangenheit.

      Einige Tage später traf ihn in Sachen Solotänzerin ein geradezu verheerender Schlag. Und zwar aus einer Richtung, aus der das nun wahrhaftig nicht zu erwarten gewesen war. In der Schule, in der großen Pause, sprach ihn ein rund zwei Jahre älterer Schüler aus einer anderen Klasse an. Eberhard Fromme, Sohn eines Bauunternehmers, zweimal sitzen geblieben, aber stattlich und elegant, informierte ihn diskret und durchaus nicht unhöflich, er sei mit Frau Göppel verlobt und er, Uwe, möge doch bitte absehen, ihr weiterhin Geschenke zu machen. Uwe erstarrte innerlich zur Salzsäule und versprach dem Eberhard prompt hoch und heilig, ihm hinfort nicht mehr in die Quere zu kommen – und war tagelang regelrecht krank.

      15. Wahlen der „Restdeutschen“

      Geradezu krank machte Uwe auch die haarsträubende politische Entwicklung in Deutschland. In Berlin hatten die Russen den Westteil der Stadt total blockiert, wo Amerikaner, Engländer und Franzosen als Besatzungsmacht eingezogen waren. Niemand wusste genau, warum sich die Alliierten, die gemeinsam den deutschen Faschismus niedergerungen hatten, nun auf einmal so arg in die Haare gerieten. Man konnte nur hoffen, dass nicht ein neuer verheerender Krieg daraus werden würde. Uwe jedenfalls verfolgte die Ereignisse sehr aufmerksam. Auch was die Politiker im Westen Deutschlands so anstellten, ließ ihm keine Ruhe. Gar nicht anfreunden konnte er sich mit deren Entscheidung, einen Staat ohne die Mitteldeutschen zu gründen. Am 26. April notierte er in sein Tagebuch: „In Bonn hat man sich geeinigt. Es wird also doch der westdeutsche Staat zur Wirklichkeit. Und wo bleibt die Einheit Deutschlands?“

      Woran lag es, dass dieser Herr Adenauer die Deutschen im Zentrum des Landes, die Leute in Thüringen, Sachsen oder Mecklenburg, einfach aufgab? Uwe wusste sich keine Antwort. Sein Verhältnis zur CDU kühlte sich ab. Klar, dass die im Stich gelassene Ost-CDU nun sehen musste, wie sie mit der üblen Entwicklung zurechtkommen könnte. Der Professor Hickmann, der wieder einmal aus Dresden angereist war, eierte herum. Dessen Argumente für eine notgedrungen eigene Entwicklung im Osten konnten Uwe nicht so recht überzeugen. Obwohl ein christlicher Sozialismus, wie ihn die CDU propagierte und wie er mit der SED hoffentlich möglich sein würde, ihm nach wie vor durchaus erstrebenswert schien. Deshalb war er ja in diese Partei eingetreten.

      Endlich Entspannung. Am 5. Mai schrieb Uwe in sein Tagebuch: „Ein historischer Tag. In allen vier Hauptstädten der vier Großmächte wurde die Verlautbarung ausgegeben, dass am 12. Mai dieses Jahres die Blockade aufgehoben werden soll und damit alle Blockademaßnahmen, die ab 1. März 48 durchgeführt worden sind. Am 23. Mai findet eine Außenministerkonferenz in Paris statt.“

      Dieser 5. Mai war für Uwe noch aus anderem Grunde historisch. An diesem Tage ging er nämlich ins Rathaus, um dort in die ausliegende Wahlkartei zu sehen. In den muffigen Räumen des alten Gemäuers war nicht viel Betrieb. Die Bürger interessierten sich offenbar wenig für Politik. Ohne warten zu müssen, kam er an die Reihe, wurden die Daten seines Ausweises mit denen einer umfangreichen Liste verglichen. Sein Name stand doch tatsächlich neben denen seiner Eltern. Zufrieden notierte Uwe am Abend: „Ich war schon dabei!“ Mit anderen Worten: Er war aufgenommen in den Kreis der Erwachsenen, er konnte von nun an mitreden, wenn auch mit nur einer Stimme.

      Einigermaßen stolz lief Uwe denn am Sonntag trotz regnerischem Wetter zum Wahllokal in der Gastwirtschaft um die Ecke, um seine Stimme abzugeben. Der Wirt stand wie immer gleich vorn am Eingang an seinem schönen Zapfhahn, im Schankraum saßen einige alte Herren und tranken ihr Bier, am Billard maßen zwei Spieler ihre Kräfte, ansonsten aber bier- und rauchgeschwängerte Leere im Raum. Man musste ins Hinterzimmer. Dort standen zwei Kabinen, davor Tische mit ein paar Leuten daran, die den Ausweis sehen wollten. Man grüßte sich, alsdann war Ruhe. Irgendwie gespenstig eigentlich. Auch von seinen Eltern kam keine besondere Reaktion. Im Wahllokal lief alles so beiläufig ab, als sei nie eine faschistische Diktatur gewesen. Dabei hätten doch alle laut und froh rufen müssen: Endlich Wahlen!! Nichts dergleichen. Wahrscheinlich wussten oder ahnten sie, wie relativ, wie undurchschaubar das alles war.

      Anstatt dass am nächsten Tag die Wahl-Ergebnisse groß in der Zeitung gestanden hätten, war darüber nichts zu finden außer der Mitteilung, dass erst ausgezählt werden müsse. Vater reagierte gelassen und meinte, das sei nun mal so. Uwe hingegen wusste nicht so recht, wie er das finden sollte. So verfolgte er mit ziemlich gemischten Gefühlen, was sich nach der Abstimmung für den 3. Volkskongress abspielte. Aufmerksam studierte er die Ergebnisse, die zwei Tage später im Blatt zu lesen waren. In vielen Wahlbezirken seiner Heimatstadt überwogen überraschend die Nein-Stimmen. Es war eigentlich nicht zu erklären. Erst am Mittwoch brachte die „Volksstimme“ das amtliche Wahlergebnis. Danach stimmten in der Ostzone 7943949 wahlberechtigte Bürger mit „ja“ und 4080272 mit „nein“, also war das Verhältnis 66,1 zu 33,9 Prozent. Das Ergebnis war brauchbar, es belegte die Zustimmung der Mehrheit zur notgedrungen eigenen Entwicklung der „Restdeutschen“.

      Uwes Unbehagen gegenüber deutscher Politik wuchs. Irgendwie war Misstrauen angesagt. Der Umgang mit den Wahlergebnissen schien ihm nicht korrekt, aber auch was die Politiker im Westen Deutschlands verzapft hatten, konnte er nicht billigen. Dass sie das nach 1945 ohnehin kleiner gewordene Deutschland nun auch noch spalteten und einen Separatstaat als Bundesrepublik Deutschland ausgaben, war eine elende Sauerei! Und obendrein hievten sie alte Nazis wieder in öffentliche Ämter! Das konnte man nicht gut heißen! Er, Uwe, hatte sich „Nie wieder Faschismus!“ geschworen, und an diesem Schwur würde er festhalten, so alt auch immer er werden würde!

      16. Kein Faible für Vaters Farbtöpfe

      So aufregend auch war, was draußen im Lande geschah. Uwe durfte sich nicht zu arg ablenken lassen. Das Abitur rückte unerbittlich näher! Also musste langsam eine Entscheidung fallen, was nach erfolgreicher Reifeprüfung mit ihm geschehen sollte.

      Uwe war ganz und gar unschlüssig. Aus lauter Verlegenheit besuchte er in der Volkshochschule einen Kurs für künftige Architekten. Sein Klassenkamerad Gerhard Meyer interessierte sich und hatte ihn geworben. Uwe spürte allerdings sehr bald, dass das Hantieren mit Lineal und Zirkel, noch mehr das exakte Operieren mit Zahlen nicht so sehr sein Fall war. Alle Dinge, die haargenau auf Punkt und Komma stimmen mussten, waren ihm irgendwie unheimlich. Alsbald sagte er dem Zirkel Ade.

      Als ihm Vater zu Hilfe kam und riet, sich für eine Laufbahn im behördlichen Dienst zu bewerben, ließ Uwe dies zunächst mit sich geschehen. Ein erster Besuch im Landratsamt zur Vorstellung beim Landrat endete jedoch trotz Voranmeldung irgendwo bei einem untergeordneten Beamten, und Uwe hatte außer an saubere und kalte Räume schon kurz danach keinerlei brauchbare Erinnerung an diese kurze Begegnung. Dass das so absolut schief lief, war ihm letztlich sogar sehr recht, denn als knickrigen Beamten irgendwo im Büro, und wenn das noch so schön in irgendeiner Parkvilla untergebracht wäre, sah er sich eigentlich nicht. Der Umgang mit Papier, Stift und Schreibmaschine war ihm lieb, aber irgendwelche Papiere verwalten und abheften, und das möglichst hurtig für irgendeinen brummigen Chef, das war für ihn keine Perspektive.

      Da Vater wusste, wie gern sich Uwe mit irgendwelcher Schreiberei befasste, recht erfolgreich einen Schreibmaschinen-Kursus besucht hatte und neuerdings auf seiner uralten Maschine sogar kleine Artikel für die örtliche Kreiszeitung fabrizierte, schlug er ihm vor, er solle einen seriösen Beruf erlernen und Schriftsetzer werden. Es gäbe in der Stadt drei Druckereien, und er wolle, so Uwe zustimme, einmal herum hören. Für solche Hilfe war der unschlüssige Sohn außerordentlich dankbar, zumal ihm klar war, dass Vater eigentlich gern gesehen hätte, wenn er in dessen Fußstapfen getreten, wenn er also Färbermeister geworden wäre.

      Allerdings kannte Uwe ziemlich gut, was da auf ihn zugekommen wäre. Er hatte als Bub Vater das Mittagessen in den Betrieb bringen müssen und dort natürlich so in etwa gesehen, was Vati beruflich am Halse hatte. Faszinierend waren die vielen unterschiedlichen Farbtöpfe und –fässer schon, die in seiner mit hellen Fenstern ausgerüsteten Meisterbude herumstanden,