Gerhard Ebert

Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag


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Korb bekam. Und wenn Günter sich ebenso schnell erheben sollte, musste er, Uwe, sofort so tun, als habe er ganz andere Absichten.

      Der erste Ton kam, und schon steuerte Uwe auf die Fremde zu. Obwohl ihm das Herz bis in den Hals schlug, ihm irgendwie die ganze Welt irre vor den Augen tanzte, sah er doch, dass Günter sitzen blieb und keinerlei Anstalten machte, die Schöne aufzufordern. Schon hörte sich Uwe seine Bitte zum Tanz murmeln, sah fast verschwommenen Auges, wie die Fremde sich freundlich erhob und voran ging in den schmalen Gang hin zur Tanzfläche. Mit bebender Seele folgte er ihr, sich zur Ruhe zwingend. An der Tanzfläche angekommen, drehte sie sich zu ihm um, schaute ihn mit braunen Augen durchaus freundlich an und ließ sich zum Tanz in die Arme nehmen.

      Uwe spürte sofort, dass sie federleicht tanzte und sich wunderbar führen ließ. Sie hatten einen langsamen Walzer erwischt, was ihm die Möglichkeit bot, seine Tanzkunst auszuspielen; jedenfalls das, was er dafür hielt. Leicht fügte sie sich jeder Bewegung, ließ aber mehr als nötige Nähe nicht zu. Uwe fühlte, dass Vorsicht angezeigt war. Er durfte nicht als aufdringlich erscheinen.

      Umso nötiger wäre es gewesen, wenn er jetzt locker ein wenig geplaudert hätte. Leider zeigte sich, dass sie nicht dazu aufgelegt oder nicht dazu in der Lage war, ihrerseits irgendetwas Nettes zu plappern. Manchmal hatte man ja Glück als Tänzer und die Auserwählte redete auf einen ein, dass man nur immer geschickt reagieren musste. Aber dies jetzt war ein Fall, wo ganz klar ihm die Initiative überlassen wurde. Und schon spürte Uwe, wie sich in ihm wieder alles verklemmte. Was sollte er sagen? Vom Wetter reden? Vom weiten Weg in den „Grünen Baum“ in Rothenbach? Sollte er sie etwas fragen? Wie sie hieß, wusste er immerhin inzwischen; denn ihre Freundin hatte sie „Ursula“ genannt. Die Zeit verstrich, und Uwe verkrampfte sich. Schon kam er aus dem Takt, trat ihr auf den Fuß.

      „Oh, Entschuldigung!“ stieß er bestürzt heraus.

      „Bitte, bitte! Kein Problem!“ sagte sie.

      Das war eigentlich eine liebenswürdige Erwiderung, eine, die zu weiteren Worten hätte Anlass sein sollen. Aber Uwe verpasste die Gelegenheit, war wie gelähmt, hatte nicht einmal die Kraft, sie wirklich direkt anzusehen. Im Gegenteil, sein Blick wanderte ziellos durch den Saal. Er war einfach nicht in der Lage, solch einer Frau beim Tanz fest in die Augen zu sehen und männliche Sicherheit auszustrahlen. Schlimm deprimiert geleitete er die Fremde zurück zum Tisch. Er bedankte sich, sie nahm Platz und alles war vorbei. Uwe war klar, dass er an diesem Abend keinen neuen Anlauf machen durfte. Dazu war er viel zu verwirrt. Er hätte nur alles noch schlimmer gemacht.

      Offenbar hatte Fräulein Ursula auch mit anderen Männern nichts im Sinn, jedenfalls an diesem Abend. Beim nächsten Tanz verteilte sie wieder einen Korb, wenig später erhob sie sich mit ihrer Freundin, verabschiedete sich von Günter und spazierte hinaus. Auf Uwe, was ihm so gut getan hätte, warf sie nicht einen Blick. Und er tat so, als würde er nicht einmal bemerken, dass seine Tänzerin von eben den Saal verließ. Auch gegenüber Günter ließ er sich nichts anmerken, verhielt sich so, als sei nicht das Geringste geschehen. In Wahrheit aber brannte ein neues Feuer in ihm.

      Noch in der Nacht schrieb er zu Hause in sein Tagebuch: „Am Abend mit Günter im „Grünen Baum“. Wollte ich ein reizendes Fräulein holen. War schon vorengagiert. Doch dann kam sie direkt an unseren Tisch und setzte sich zu uns. Da holte ich sie. Ich war zu doof in der Konversation. Leider ging sie in der Pause mit ihrer Freundin hinaus und kam nicht zurück. Ich glaube, ich habe sie auf den ersten Blick ein wenig gern. Sie wurde von einer Freundin Ursula genannt. Hoffentlich sehe ich sie bei passender Gelegenheit einmal wieder.“

      Lange, sehr lange musste Uwe auf solch passende Gelegenheit warten. Zumal er sich nicht leisten konnte, wie damals bei der Suche nach diesem Fräulein Anneliese durch die ganze Stadt zu streifen. Zunächst stand unerbittlich die Reifeprüfung auf der Tagesordnung! Und da musste Tag für Tag noch allerhand geschuftet werden. Uwe war ein Schüler, dem nichts zuflog, der alles mühsam bimsen musste. Während andere eine Seite in irgendeinem Buch quer lasen, aber trotzdem Bescheid wussten und sogar darüber reden konnten, musste er die Seite mehrmals lesen und wusste schlimmstenfalls immer noch nicht, was da eigentlich geschrieben stand. Das war sein Los in dieser Welt und er begann, sich damit abzufinden.

      So machte er denn fleißig Schularbeiten und schaffte im Sommer ein brauchbar gutes Abitur. Eltern und Geschwister gratulierten mit rührender Aufmerksamkeit, konnten seinen Kummer indessen nicht lindern, der darin bestand, dass sich unter den Gratulanten kein hübsches Mädchen befand, das ihm lieb gesonnen war. Etwas verloren saß er am Nachmittag des erfolgreichen Tages an seinem Schreibtisch und packte mit nun allerdings denn doch erleichtert frohen Gefühlen alles hinweg, was irgendwie mit Schule und Prüfung zu tun hatte. Schon seltsam, auf einmal ohne alle Verpflichtungen einfach so herum zu sitzen!

      Indessen, nach ein, zwei Tagen des Verschnaufens orientierte er sich auf eine Tätigkeit, die ihm schon seit geraumer Zeit willkommene Abwechslung bedeutete und ihn ganz und gar gefangen nahm. Er schrieb nämlich an Manuskripten für eine Filmfirma in Berlin. Zunächst waren das zwar nur Ideenskizzen für einen möglichen Film und, so eine Skizze gelungen war, Entwürfe für ein Filmexposé, aber es regte an und machte Spaß. Zumal der Herr Güntler aus Berlin, mit dem er korrespondierte, meist recht zufrieden war. Was natürlich auch bei Uwe Zufriedenheit beförderte und allerdings auch Illusionen. Wie auch immer, Uwe saß oft an seiner Schreibmaschine und phantasierte. Das machte auch deswegen Spaß, weil er inzwischen eine Rheinmetall-Reiseschreibmaschine besaß, die er mit finanzieller Unterstützung seiner Tante Luise in der HO hatte kaufen können, der neu gegründeten Staatlichen Handelsorganisation.

      18. Träumen am Setzkasten

      An einem Montag Ende August des Jahres 1949 schlief Uwe nicht wie neuerdings üblich bis in die Puppen, sondern ließ sich von seinem Wecker zeitig aus den Federn werfen. Als das Monster schrillte, klopfte er ergeben auf den Knopf, stopfte seinen nachtsteifen Penis wehmütig in die Hose, putzte die Zähne, netzte das Gesicht pro forma mit Wasser, verließ seine Bodenkammer und wankte die Treppe hinunter zum Frühstück. Er dankte Mutter für den netten Service und nahm ihre freundlichen Wünsche für den neuen Lebensabschnitt entgegen. Dann zog er los, und zwar ziemlich erwartungsvoll.

      Auf der Straße – welch guter Auftakt - empfing Uwe die aufgehende Sonne. Ein wolkenlos klarer Himmel verhieß einen schönen Sommertag. Aber nicht ins Schwimmbad führten Uwes Schritte heute, sondern zum ersten Mal in seinem Leben zur Arbeit. Erstaunlich, wie viele Menschen an solch lausig frühem Morgen unterwegs waren. Leider, schade, kein bekanntes Gesicht darunter, und, höchst bedauerlich, nicht ein hübsches Mädchen.

      Als Uwe nach etwa einer Viertelstunde vom Markt rechts ab und in die Nikolaistraße einbog, vorbei an der Mohren-Apotheke, wo sich noch nichts rührte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Diesen langweiligen Weg würde er nun also mindestens zwei Jahre lang laufen müssen. Es sei denn, er würde den Zugang über die Leipziger Straße wählen. Auch von da konnte man ja die Druckerei Berger erreichen. Vielleicht war das günstiger, weil man diesen oder jenen Bekannten treffen würde. Die tägliche Aussicht auf ein schönes Gesicht, das einem mit ziemlicher Gewissheit begegnet, würde die Tour echt aufwerten. Er beschloss, es am nächsten Tag auszuprobieren.

      Schon stand Uwe vor der altehrwürdigen Haustür zur Druckerei. Er drückte die eiserne Klinke nieder und trat ein. Er landete zunächst im dunklen, etwas muffigen Hausflur und musste von da nach rechts ins Büro. Nachdem er auch diese Tür bewältigt hatte, befand er sich im mit Papier und allerlei Utensilien vollgepackten, eigentlich etwas düsteren Verkaufsraum der Druckerei. Hinter dem Tresen stand sein künftiger Chef und erwartete ihn schon. Uwe grüßte ehrerbietig. Max Berger musterte den Ankömmling mit blitzenden Äuglein, indem er den Kopf etwas absenkte, um über die Lesegläser seiner Brille schauen zu können, und erwiderte den Gruß freundlich. Dann trat er heran und schüttelte seinem neuen Lehrling kräftig die Hand.

      „Auf gute Zusammenarbeit, Uwe“, sagte er, „hier komm, hier kannst du ablegen.“

      Damit geleitete er ihn in eine kleine Kabine, vorbei an der bereits an ihrer Maschine stehenden Druckererin, die ihn mit etwas verschlafenen Augen neugierig musterte. Auch Uwe hatte geschaut und