Christian Kuhnke

Der Alte Krug


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heute immer seltener anzutreffenden Gleichgewicht von Klarheit und Verneblung – manche Kritiker sprechen vielleicht vereinfacht auch von Cappuccino und Bier - auf der Spur sein. Hinter der Fassade der Trunkenbolde im Alten Krug werden wir schon bald verbissene Anstrengungen um eine klare Linie erkennen, eingebettet in die Wechselspiele von Ruhe und Verwirrung, Entspannung und Verdruss, Beharrung und Weiterentwicklung. Momente und Vermutungen werden uns kriminalistisch eine ziemliche Strecke begleiten, bis wir den Weg in die klare Einfachheit des Neuen dank der Möglichkeiten und Ideen Anderer gefunden haben.

      Auf diesem Weg in der Zeit von gut vierzehn Tagen werden wir vornehmlich von drei Personen begleitet. Es ist dies einmal Tommy Krümel, ein Student ohne Abschluss, der mit über dreißig Jahren immer noch von einer Karriere als Rockmusiker träumt. Dann haben wir den frischgebackenen Oberstudienrat Heinz Döhlke, dessen analytischer Geist uns einige überraschende Entdeckungen bescheren wird und schließlich Giesbert Romanowski, Computerfachmann und Webdesigner, der auf seine Gelegenheit wartet und sie schließlich auch bekommt. Aber nicht nur er. Bis dahin ist es allerdings ein verzwickter Weg.

      Oder was würden Sie denn sagen, wenn Sie plötzlich aus ihrem wohlsortierten Alltagsleben herausgerissen würden? Dem morgendlichen Weckerklingeln, der ergebnislosen Suche nach den Puschen, dem ersten trüben Kaffee und der ekligen Zahnpasta. Schlimmer noch wenn sie auf ihrem Smartphone die neusten Meldungen über den Weltuntergang, die wenig erfreuende Entwicklung ihrer Aktienwerte oder schlimmer noch ihrer Zinsen auf dem Tagesgeldkonto oder den Stand ihres Girokontos abrufen? Und dann noch ihr Partner schon seit drei Tagen unterwegs ist um Brötchen zu holen? Wenn nach einem erwarteten, aber dennoch plötzlichen Tod der alte und ungeliebte Beruf während des Grabbesäufnisses auf dem Müll der Individualgeschichte landet und man in ein zunächst verwirrendes und undurchschaubares Machtgezerre hineingerissen wird? Vermutlich Einbruch, Erpressung, ominöse Liebeswallungen und Ehebruch, typische Politiker und Verwaltungsbeamte oder zumindest so was Ähnliches in`s Spiel kommen? Und das in unserer beschaulichen deutschen Provinz und nicht nur in vergleichbaren Bananenrepubliken? Alles schon erlebt? Gut, dann sind Sie in der Realität angekommen. Ich auch.

      Somit können wir ja gemeinsam in den ersten Plot zischen. Denn dieses Begräbnis war ja nun wirklich reineweg zum Heulen.

      ERSTER TAG

       Trunken müssen wir alle sein! Jugend ist Trunkenheit ohne Wein; Trinkt sich das Alter wieder zu Jugend, so ist es wundervolle Tugend.

      Goethe,Westöstlicher Divan

       Das bierselige Begräbnis von Joschi. Ein nicht vermutetes Testament sorgt für Aufsehen

      Alle Kampftrinker, wehmütige Versicherungsagenten, leidenschaftslose Lastwagenfahrer, verhärmte Ehemänner, der Bürgermeister Müller mit seinem Fraktionsvorsitzenden Hohl und die leichte Lola standen ganz benommen vor dem klaffenden Erdloch. Der Pastor mit seiner rosigen Nase stammelte pathetisch vom ewigen Leben und den reichlichen Verfehlungen der Toten im hiesigen – nur weil sie einige Jahre lang mit einer anderen kultischen Gottesanbetung geliebäugelt hatte. Dieser Infame! Es war wirklich reineweg zum Heulen. Ich wusste allerdings nicht genau warum.

      Mit dem Tod der Wirtin Anna Magdalena Josephine Beuteler – kurz Josephine oder für engste Stammgäste „unsere Joschi“ - war für uns alle eine Ära endgültig zu Ende gegangen. Schließlich hatte sie mit ihrem Bier, ihren Schnäpsen, fettigen Frikadellen und ihren ausschweifenden Erzählungen im Alten Krug bei allen Gästen beträchtliche Löcher in den Geldbeutel gerissen und uns pompöse Erheiterung, aber auch etliche Blackouts beschert – von persönlichen Zerwürfnissen, Verbrüderungen und Eheanbahnungen gar nicht zu reden. Für uns ging das Leben aber doch noch ein Stück weiter – wie für Joschis Mischlingsköter Siegel. Während die Glöcklein der nahen Seelenabschussrampe genüsslich bimmelten, spürte ich auf meiner rechten Wange eine eiskalte Krokodilsträne. Unglaublich. Das komische Gefühl in der Magengrube wurde noch durch Yankos Requiem verstärkt, die er kurzfristig für diesen Abschied fertig gestellt hatte und die nun von CD abgespielt wurde. Yanco war kein Stammgast des Alten Kruges, aber ein begnadeter Musiker. Man musste ihn nur anrufen uns sagen: „Junge, hau rein. Wir brauchen für das Begräbnis von Joschi noch eine passende Musik“ – schon saß er an seinen Computern und werkelte los. Meine Stimmung hatte er mit seinem Requiem für Joschi umfassend getroffen.

      Als danach aber noch der Frauengesangsverein unseres Ortes langmähnig und kurzröckig ein Lied irgendwo zwischen F und Fis anstimmte, benetzte sich auch meine zweite Kopfbacke mit einem salzwässerigen Tropfen. Herrje, was würde der Umtrunk mit begleitendem Schmaus gleich für aussichtslose Perspektiven erbringen! Ich trocknete meine Tränen und richtete meinen Blick entschlossen über die Friedhofsmauer in Richtung des Alten Kruges, der schwarze, silber melierte Schnauzermischling Siegel folgte meinen Augen nicht weniger entschlossen. Schließlich hatten wir die Schlüsselgewalt. Ha! Irgendwie würde ich wenigstens für einen Abend Joschi auferstehen lassen und einen persönlichen Schlusspunkt setzen können.

      Wenn die Damen vom Chor noch etwas zum Besten geben sollten, würde ich sie in ihren Übungskeller neben der Kegelbahn verbannen. Der Pastor wird gleich abgefüllt und der Fraktionschef mitsamt seiner Pappnase an den Tisch neben dem Klo verbannt. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht für einen Abend das Erbe von Joschi würdig übernehmen könnte. Doch wohin dann am Sonntag zum Frühschoppen? Etwa in die „Ilse“ oder den „Wilden Eber.” Unvorstellbar. Die Zukunft musste neu sortiert werden.

      Die Zeremonie hätte gut und gerne noch Stunden weitergehen können. Glücklicherweise war es jetzt ausgestanden. Irgendwie ist Joschi auch ein Ekel gewesen. Diese sinnlosen Intrigen, dieses aufreizende Schmatzen bei der letzten kalten Frikadelle am Abend und diese ewigen ominösen Verweise auf die totale Erfahrung des Alters und die dunklen Andeutungen über ihre Wirtschaft und die Notwendigkeit des Gleichgewichtes. Endlich war dies alles ausgestanden. Bei dem Gedanken an den Senf im Alten Krug überfuhr mich eine Gänsehaut. Würde ich ihn missen können? Woher hatte Joschi ihn bezogen? Momentan unwichtig. Siegel wurde vorahnungsvoll unruhig.

      Aufbruch. Das betretene Schweigen löste sich allmählich in leichtes Raunen auf, Lola hörte man schon am Friedhofstor kichern. Dies war unserer Joschi bestimmt recht. Stolz und Steil hielt ich den Schlüssel zum Alten Krug in meiner Rechten. Irgendwie bin ich der rechtmäßige Erbe, nicht die Stadt mit ihrem Vorkaufsrecht. Ruhe! Was soll dieser Quatsch. Hier wird jetzt etwas absolut zu Ende gebracht. Ich bin nur der Vollzugsbeamte. Basta.

      Demütig verbeugte sich der Pastor, als ich ihn mit einem höflichen, dennoch leicht angetäuschten ironischen Schlenker durch die Tür des Alten Kruges bat. Immer auf Seelenfang. Der Fraktionsvorsitzende und der Bürgermeister reichten mir unmotiviert, aber überzeugend fotoreif beim Eintreten die Hand. Immer auf Stimmenfang. Endlich bin ich wer. Zumindest heute – selbst für unseren galligen Besitzer der Molkerei. „Ausnutzen!,” schoss es mir durch den Kopf. Besonders bei dem adretten Töchterlein.

      Geschwind und etwas unsicher drehte ich den Zapfhahn um und zapfe ein Probebier. Unsere Joschi ist tot, aber das Bier läuft wie eh und je. Das wird über den ersten bizarren Schmerz retten. Schon nach einigen Probeschnäpsen schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Wie konnte ich denn jetzt auch schon ahnen, dass mir und der ganzen Trauergemeinde noch eine große Rede des Bürgermeisters, des Fraktionsvorsitzenden und des Notars drohten und einigen Trunkenbolden ein zukunftsweisender Plan offeriert würde? Ein Angebot mit apokalyptischen Folgen.

      Noch einmal das Frühschoppenritual. Gierig saugte ich die altbekannte abgestandene Luft und den angemufften Flair ein. Vor mir am Tresen hatten sich die üblichen Spezialisten aufgebaut. Zu erwähnen sind insbesondere der Forstsekretär Wilhelm von Schliepstein, der ewige Psychologiestudent Jonny Buchart, der Großmolkereibesitzer Theodor Klarmann und natürlich die ausufernde Lola.

      Die Reihenfolge an der Bar war rituell festgelegt. Lola stand in ihren engen Jeans und den unzähligen Ringen an ihren Fingern immer am Ende des Tresens und hatte stets ein halbvolles Glas mit süßem Landwein vor sich. Sie mochte so um die dreißig sein und arbeitete irgend etwas mit Alten Menschen. Solch einer war ihr Nachbar Wilhelm von Schliepstein. Auch heute trug er seine grüne Forstjacke mit etlichen Ehrennadeln