Christian Kuhnke

Der Alte Krug


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ehrwürdige Molkereibesitzer Klarmann. Er hatte ein ähnliches Alter wie der Forstwirt, war aber nicht so aus dem Leim gegangen. Stets gut gebräunt, trug er einen grauen Anzug und sprach sehr wenig. Ganz im Gegensatz zu seinem Nachbarn auf dem Barhocker direkt neben dem Zapfhahn, Jonny Buchart. Der sabbelte in der Regel unermüdlich, wobei er jeden zweiten Tag weitschweifig das gerade aktuelle Thema seiner anvisierten Examensarbeit im Fach Psychologie den Tresennachbarn auseinanderlegte.

      „Es ist doch wirklich fast wie immer. Man könnte denken, dass unsere Joschi gerade in der Küche neue Frikadellen zubereitet,” trällerte Lola gefasst frohgemut, um gleich darauf in gekonnter Manier das Pudergesicht in leidende Halbjungfalten zu legen.

      „Hätte sie mehr Milch getrunken statt diese ewigen Doppelkörnchen, würde sie bestimmt auch gleich aus der Küche kommen,” rückte der Kleinmolkereibesitzer Klarmann aus seiner Standessicht die Verhältnisse gleich wieder ins rechte Licht und schaute dabei bedeutsam in die Runde, während der bärtige Wilhelm von Schliepstein schon seine Gehirnschubladen emsig nach der forstpolitischen Dimension dieses Todes durchstöberte. „Der alte Strauß ist an der Ehrfurcht der Ärzte gestorben,” flüsterte der alternde Forstsekretär schließlich. „Als Franz-Josef dalag ist kein Quacksalber entschlossen hingesprungen und so erstickte er in seiner Größe an ordinärer Kotze. Er hätte doch noch so viel machen können, wie die Homo-Ehe verhindern und und ....”

      „Genau wie Jimmy Hendrix. Der Kerl spielte einfach zu gut Gitarre, kein Arzt hat sich an ihn rangetraut, es war aber auch gar keiner da,” fiel Jonny Buchart wie gewöhnlich dem trauernden Tattergreis ins Wort und holte schon Luft, um noch einen freudschen Psychologieklassiker draufzusetzen. Entschlossen griff ich nach einem hastigen Schluck Bier ein. „Aber unsere Joschi war doch einfach alt. Da hätte der Doktor“ – dabei nickte ich bedeutsam in Richtung Stammtisch, wo unser Kurpfuscher gerade sein zweites Körnchen an die Wulstlippen führte – „auch nichts machen können. Ihre Uhr war einfach abgelaufen.”

      Lola griente unmotiviert aber überzeugend, während der Molkereibesitzer expertenhaft seine abgekauten Fingernägel studierte.

      Hastig orderte unser Waldkenner Pils und Korn für den ganzen Tresen, um sich dann sogleich erneut an die frisch Gekauften zu wenden. „Das schon, aber sie hatte auch eine gewisse innere Größe. Nicht ganz so pompös wie Franz-Josef...“ - „Oder Jimmy Hendrix,” ergänzte der werdende Psychologe trotzig. „Ja, aber diese innere Größe lässt die Ärzte nun einmal in Ehrfurcht erstarren und das“ – bedrohlich reckte er seinen Zeigefinger gegen die Thekenfunzel – „ist der Nachteil des Genies,” beharrte der Altersstarrsinnige und forderte damit den Psychologenanwärter Buchart endgültig heraus.

      Na ja, das lief ja ganz wunschgemäß an. Beruhigt konnte ich den nun anstehenden Freudeneskapaden entfliehen und den Zapfhahn der inzwischen neben mir stehenden emsigen Michaela, der Tochter des Molkereibesitzers, überlassen. Keine schlechte Partie, dieser betörende Schmollmund. Ich müsste sie nur irgendwann irgendwo mal alleine stellen! Doch dazu später. Mich trieb es jetzt trotz der milchmolkeverlockenden Michaelanähe an den Stammtisch, wo die Stimmung nach der dritten oder vierten Runde schon ein erstes bedenkliches Hoch erreicht hatte. Es galt nichts Obszönes und Unwesentliches an diesem Gedenktag zu verpassen.

      Unser Medizinmann Samuel Trunkheim – nomen est omen – hatte schon erste rührige Schweißperlen auf seiner immensen brillenbestückten Nase, eine ideale Rutschbahn für das altertümliche Nasenfahrrad. Kaum sah er mich mit dem Tablett Bier nahen, unterbrach er seine Exegese über den natürlichen Tod der Wirtin Anna Magdalena Josephine Beuteler. „Wieso ist ein Vagabund und Possenreißer wie du hier der Schlüsselgewaltige?,” polterte er mich unvermittelt an, während seine rechte Fettflosse einladend auf den einzigen freien Platz neben sich zeigte. Seine Augen fixierten dabei entschlossen das Tablett. Kein Körnchen fürs Wohlergehen signalisierten seine kurz zusammenzuckenden Augen.

      Die Frage hatte ich befürchtet und sehnlichst erhofft. „Franz. Franz heißt die Canaille. Schillers Räuber. Haha. Schlimm sind die Schlüssel, die nur schließen auf, nicht zu,” prustete der frisch gebackene Oberstudienrat Heinz Döhlke in seinem cappuccinofarbigen Anzug, bevor ich antworten konnte, und lieferte die Quelle gleich nach: „Rückert, Weisheit der Brahmanen.“ Ich werde das mal nachprüfen, schwor ich mir. Wenn es stimmt, hat er seine Beförderung ja vielleicht sogar verdient.

      Übermäßig sorgsam und bedächtig verteilte ich die Biere. Da ich jetzt spontan die Zitate von Heinz Döhlke – gelernter Altphilologe - nicht nachprüfen konnte und Lehrern schon seit meiner Schulzeit misstraue, bekam er seine Trinkration zuletzt. Unser Doktor Trunkheim, der selbsternannte Kulturattaché und Zitatenhai Döhlke, der Hobbyschauspieler Breiheim und seine aufgedonnerte, aber wie auch er nicht speckfreie Gemahlin Mona und der blasse Computerhacker Giesbert Romanowski zogen an Zigaretten oder zerkauten Strohhalmen oder schlabberten aber einfach nackt an ihren Getränken und starrten mich neugierig irgendwie zwischen hinterhältig und unverhohlen an.

      In diesem Moment ging die Tür auf. Wie jeden Tag durchmaß Schimmelpfennig den Raum, ohne das Gesicht irgendwo hin zuwenden, noch jemanden zu grüßen. Eilig verschwand er im Mantel auf der Herrentoilette, durchquerte nach zwei Minuten im gleichen raumfassenden Schritt den Schankraum und verschwand wie er gekommen war.

      „Tja,” begann ich langsam. „Äh, unsere Joschi hat mir vor zehn Tagen ihren Hausschlüssel gegeben, weil sie sich nicht mehr so gut auf den Füßen fühlte und ich mich bereit erklärt hatte, Siegel für zwei Bier und einen Klaren dreimal am Tag um den Weiher zu führen.” Der gespannte Blick der Stammtischrunde löste sich in allgemeinem Desinteresse auf. Jetzt erst bemerkte ich, dass der Fraktionsvorsitzende mit seinem Bürgermeister gespannt meinen tiefschürfenden Ausführungen gelauscht hatte. Die Reaktion vom Katzentisch ließ nicht lange auf sich warten.

      In der Ecke brach ein ungeheuerliches Getöse los. Der Bürgermeister wurde vom Fraktionsvorsitzenden mit beiden Händen auf seinem Stuhl festgenagelt. Dieser zurgelte wild mit seinen Händen und stieß ein halbvolles Weizenbier um. Klassischer Fall von Alkoholmissbrauch.

      Schließlich konnte er sich doch aus den Hinterzimmerklauen des Fraktionsvorsitzenden befreien und stürzte in die Mitte des Schankraumes. Schnaufend nahm er die lang geübte Position des Stadtoberhauptes ein. „Liebe Freunde,” krächzte er wenig honorig, schon etwas debil und mächtig betrunken. „Unsere Joschi ist tot. Gott sei ihrer Seele gnädig. Heute trauern wir in würdigem Rahmen um sie, doch unsere Stadt lebt weiter und entwickelt sich – ich möchte nur an den neuen Gewerbepark erinnern. Zwar noch nicht vermietet, aber eine zukunftsträchtige Investition der ganz besonderen Art.”

      Die nun eintretende Zwangsbäuerchenpause nutzte der ewig uneinsichtige Opponent Buchart zu dem respektlosen Einwurf, was Müller denn nun wolle. Bisher wäre ja alles bekannt, und wir Steuerzahler müssten ja nun sowieso für den schwachsinnigen Gewerbepark einstehen. Das wäre ja eh allen klar. „Gut, gut!,” näselte der sichtlich ertappte Bürgermeister. Während der Fraktionsvorsitzende seine Stirn nervös massierte und die Mehrheit gelangweilt in ihre Gläser stierte, illuminierte plötzlich eine erschrockene, längst tot geglaubte Birne im Kronleuchter das Gesicht des Stadtoberhauptes.

      Bürgermeister Müller drückte entschlossen sein Rückgrat durch. „Also, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Der Alte Krug hat ja nun schon ein paar Jährchen auf dem Buckel und steht unter Denkmalschutz. So wichtig er für unsere Geschichte ist, so bedenklich ist sein Zustand. Hier muss etwas passieren. Gerade, wo Joschi keine Erben hinterlassen hat! Die Stadt steht somit in der Pflicht! Er ist keine Augenweide mehr für die reichlich strömenden Touristen. Allein im letzten Jahr hatten wir nach Mitteilung des Fremdenverkehrsvereins....”

      „Zum Thema, oder willst du uns jetzt etwas über die Übernachtungsrituale Jungverheirateter in unserer Stadt erzählen?,” johlte Doktor Trunkheim unter lautem Beifall der Trauergemeinde. Der Fraktionsvorsitzende lief grünlich an.

      Unruhe war inzwischen ausgebrochen und die schnarrende Stimme von Heinrich Müller konnte das überstürzte Getuschel nicht mehr zähmen. Wenn der Bürgermeister einen gehoben hatte, konnte er fast richtig formulieren und fabulieren. Doch diesmal waren die Menschen, die sonst seinen Reden zum Jahrestag des Kaninchenzüchterverbandes oder des Schützenvereines von 1642 ergeben