Stefanie Purle

Scarlett Taylor - Mitternacht


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nachdem ich dich angerufen habe. Eigentlich hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass du überhaupt abnimmst, aber…“, stammelt sie und ihr Schluchzen wird bei jedem Wort heftiger.

      Ich lege den Arm um ihre dünnen Schultern und beuge mich zu ihr hinab. „Hast du gedacht wir wären tot?“, hake ich leise flüsternd nach und sie nickt.

      „Ein Missverständnis“, geht Berny dazwischen. „Ein makabres Missverständnis.“

      Ich begegne seinem Blick. Er schüttelt unmerklich mit dem Kopf und gibt mir zu verstehen, dass ich die Wahrheit über unseren Tod jetzt besser für mich behalte. „Ja, ein Missverständnis“, sage ich nun ebenfalls.

      Chris, der aus einem kleinen Holzschuppen auf dem Grundstück noch weitere Gartenstühle geholt hat, schiebt mir einen rüber und ich nehme neben Elvira Platz. Immer wieder schnäuzt sie in ein bereits nasses Stofftaschentuch und zittert dabei am ganzen Körper. Naomi setzt sich auf ihre andere Seite und zieht Elviras Hand in ihre.

      „Ich bin so froh, dass ihr gekommen seid“, schnieft meine Tante und blickt von einem zum anderen. „Wo ist Kitty?“

      Ich blicke mich ebenfalls um, doch draußen ist sie nicht. „Ich schaue mal nach, wo sie sein könnte. Dann bringe ich auch noch ein paar Gläser für den Eistee mit, okay?“

      Elvira nickt. „Im Schrank neben dem Kühlschrank sind die Gläser. Und auf dem Herd steht noch Zitronenkuchen. Teller findest du ebenfalls da, wo die Gläser sind.“

      Es fühlt sich seltsam an, dass meine Tante mir erklären muss, wo ihre Gläser und Teller stehen. Ich ging bei ihr ein und aus, wusste manchmal besser wo ihre Sachen verstaut sind, als sie selbst. Doch jetzt bin ich eine Fremde in ihren vier Wänden, und wäre Mama nicht verschwunden, wären sicherlich noch Wochen vergangen, bis ich ihr neues Zuhause zum ersten Mal gesehen hätte.

      Ich gehe wieder hinein, durch die kleine Küche zurück ins Wohnzimmer und in den Flur. „Kitty?“, rufe ich alle paar Meter, bekomme jedoch keine Antwort. Vom Flur geht eine Tür ab, die in ein Gästebad führt. Ich zucke zusammen, als ich einen schwarzen Schatten dabei erwische, wie er sich im Inneren des Waschbeckens windet und dann durch den Abfluss verschwindet. Schnell ziehe ich die Tür wieder zu und gehe die mit Teppich ausgelegten Stufen nach oben. Das Geländer fühlt sich speckig und splitterig an, meine Schritte sind nur dumpf auf dem eingetretenen Fußbodenbelag zu hören. Oben angekommen habe ich die Wahl zwischen zwei Zimmertüren. Ich öffne die erste davon und entdecke ein Schlafzimmer. Das Bett in der Mitte des Raumes ist ordentlich gemacht und anhand des Sommerkleides, das auf einem Bügel an der Schranktür hängt, erkenne ich, dass es Elviras Schlafzimmer ist. Ich schließe die Tür wieder und mache mich darauf gefasst, im nächsten Zimmer das Schlafzimmer meiner Mutter zu sehen.

      „Kitty? Bist du hier oben?“, rufe ich, bevor ich die Tür öffne.

      Ich erhalte keine Antwort, doch ich sehe sie zwischen dem Bett meiner Mutter und dem geöffneten Fenster stehen. Wind bläst ins Zimmer, als ich in der offenen Tür stehenbleibe und sie betrachte. Ihr weißes Haar weht nach hinten, der Rock ihres elfenbeinfarbenen Kleides ebenfalls. Sie hat die Augen geschlossen, die Handflächen nach oben gerichtet, und lauscht auf das Echo meiner Mutter. Ich bleibe ganz still, versuche meine Gedanken ruhig zu halten, um ihr die Ruhe zu geben, die sie braucht.

      Nach wenigen Minuten öffnet sie die Augen und lässt die Hände sinken. „Nichts!“

      „Wie meinst du das? Nichts?“

      „Nothing! Nada! Niente! Hier ist nichts, rein gar nichts!“, sagt sie und lässt sich enttäuscht auf das gemachte Bett mit der Rosenbettwäsche plumpsen. „Kein Nachhall, keine Spur, kein Hauch ihrer Seele. Nichts!“

      Ich setze mich neben sie und schaue aus dem Fenster hinaus, welches über die Siedlung blickt. Möwen kreischen und das Gelächter von Kindern dringt von draußen zu uns hinauf. „Kitty, was wäre, wenn die Frau, die du als Ella kennst, gar nicht meine Mutter war? Was, wenn sie nur ein Double war? Dann würdest du doch keinen Nachhall ihrer Seele spüren, weil sie gar keine Seele hatte, oder?“

      Kitty dreht ihren Kopf langsam in meine Richtung und sieht mich aus großen Augen an. „Ein Double? Wie meinst du das? Ein magisches Double?“

      Ich nicke und starre weiter hinaus auf die vorbeiziehenden Wolken. „Genau. Ein mit Magie erschaffenes, seelenloses Double. Könntest du das auch mit deinen medialen Sinnen erspüren?“

      Sie lässt sich Zeit mit ihrer Antwort, doch ich lasse sie keine meiner Gedanken lesen, sondern konzentriere mich ganz auf die Wolkenfetzen am Himmel.

      „Soweit ich weiß, hat alles was lebt eine Seele. Aber ich habe auch schon Gegenstände aufspüren können, und die haben ja bekanntlich keine Seele.“

      „Ich glaube nämlich, dass die Frau mit der Elvira hierhergezogen ist, gar nicht meine Mutter war. Sie war ein Double, eine seelenlose, fleischliche Kopie meiner echten Mutter. Und dass du hier nichts von ihrer Seele spürst, bestätigt meinen Verdacht.“

      Wieder lässt sie mich auf ihre Reaktion warten. Ich nehme den Blick vom Fenster und schaue stattdessen sie an, als ich im Augenwinkel wieder einen dieser Schatten sehe. Offenbar hat er nur darauf gewartet, dass ich den Blick abwende und huscht somit nun aus der Zimmerecke hinaus auf meine Beine zu. Mit einem ängstlichen Quieken hebe ich meine Füße gerade noch rechtzeitig an, sodass der Schatten darunter hindurchgleitet und unter dem Bett verschwindet. Ich robbe rückwärts weiter in die Mitte des Bettes und keuche. „Oh man…“, ist alles, was ich sagen kann.

      Kitty erhebt sich, dreht sich zu mir und stemmt die Hände in die Hüfte. „Was war das?“, will sie wissen und sieht mich dabei finster an.

      „Nichts… Ich… Ähm“, stammle ich, obwohl ich weiß, dass es zwecklos ist.

      „Seit wann siehst du diese Schatten?“

      Ich verdrehe die Augen und setze mich zurück auf die Bettkante. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Außerdem geht es hier um meine Mutter! Wir sind hier, um meine Mutter wiederzufinden“, erinnere ich sie und unterdrücke das mulmige Gefühl, dass meine Füße genau dort stehen, wo sie gerade eben noch von einem Schatten attackiert wurden.

      „Du hast Angst“, schlussfolgert sie, doch ich schüttle mit dem Kopf. „Leugne es doch nicht, Scarlett! Du hast Angst vor den Schatten!“

      Ihr Grinsen wird immer breiter und ich fühle mich zunehmend unwohler.

      „Nein, so ein Quatsch! Aber darum geht es hier auch gar nicht, können wir uns nicht lieber wieder auf das Wesentliche konzentrieren?“

      Sie schüttelt mit dem Kopf. „Deine Mutter ist nicht hier und sie war auch nie hier, soviel ist klar. Also gibt es dazu auch nicht mehr viel zu sagen. Was aber hier ist, sind die Schattenwesen, die du plötzlich sehen kannst. Also lass uns doch darüber sprechen.“

      Es hat keinen Zweck mehr, es weiterhin zu leugnen. Seufzend nicke ich. „Ja, okay, ich kann seit Kurzem Schatten sehen und ja, sie machen mir Angst!“, gebe ich schließlich zu und erwarte bereits, von Kitty ausgelacht zu werden.

      Doch zu meiner Überraschung setzt sie sich wieder neben mich, ohne zu lachen. „Wie lange siehst du sie schon?“

      Ich presse die Lippen zusammen. Es fühlt sich noch immer falsch an, gerade jetzt darüber zu reden, wo wir doch wirklich Wichtigeres zu tun haben. „Seitdem ich gestorben bin. Allerdings nur in der realen Dimension. Als ich bei Roberta in der Zeitschleife war, habe ich keine Schatten gesehen.“

      Meine Gedanken reisen zu der Zeit, als ich nachts mit Chris´ schwebendem Körper über den Friedhof lief und als wir zusammen einige Zeit später dort waren, um die leeren Särge mit Double-Leichen zu füllen. Dieses Stöhnen aus den Gräbern überall auf dem Friedhof werde ich wohl niemals vergessen.

      Kitty nickt. „Das Stöhnen und Jammern ist wirklich unangenehm. Man braucht jede Menge Konzentration, um diese Geräusche auszublenden.“

      „Du hörst es auch?“, frage ich ein wenig verwundert.

      Jetzt