Stefanie Purle

Scarlett Taylor - Mitternacht


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den Schultern. „Ich weiß nicht… Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, den Dschinn um Hilfe zu bitten. Immerhin bist du ihn dann los und hättest deine Mutter wieder.“

      „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Hat man dir auf deiner Schamanenschule nicht beigebracht, wie Dschinns funktionieren?“, faucht Kitty sie an und schüttelt mit dem Kopf. „Dschinns haben nichts Gutes im Sinn! Drei Wünsche bei ihnen frei zu haben, ist ein Fluch und kein Segen! Denn jeder Wunsch geht kategorisch nach hinten los! Deshalb sollte man niemals, wirklich niemals, eine Dschinn-Lampe berühren!“

      „Was hast du dir gewünscht?“, will Naomi nun wissen, scheinbar unbeeindruckt von Kittys lautstarkem Ausbruch.

      Ich kann ihr nicht in die Augen sehen und blicke stattdessen auf meine Fingernägel. „Was ich mir gewünscht habe?“, wiederhole ich ihre Frage, um Zeit zu schinden.

      „Ja. Wozu hast du deinen ersten Wunsch verwendet, Scarlett?“, hakt Kitty nun ebenfalls nach.

      „Ich… Ich habe mir gewünscht, dass der schwarze König niemals Kontakt mit der Libelle aufgenommen hätte.“

      Nun ist es raus. Mit klopfendem Herzen warte ich ihre Reaktionen ab.

      „Hmm… Gar nicht mal so unklug“, sagt Kitty. „Und warum hast du dir gerade das gewünscht?“

      „Ebraxas´ Soldaten hatten Chris gefangen genommen und wollten uns beide hinrichten lassen. Irgendwie ist mir dann klargeworden, dass die Libelle nur zu diesem furchtbaren Ort geworden ist, weil mein Vater seine Finger mit im Spiel hatte. Er hat Ebraxas als Kind seine Magie gestohlen, von ihm stammen all die Folterinstrumente und viele ihrer schlimmsten Dämonen haben sie von ihm bekommen. Ich dachte, wenn er vielleicht nie dort gewesen wäre, wäre Ebraxas ganz anders aufgewachsen und hätte sich nie zu dem machthungrigen Mann entwickelt, der er letztendlich war.“

      „Hat es funktioniert?“, will Naomi wissen.

      „Ich glaube schon“, antworte ich. „Nachdem ich meinen Wunsch ausgesprochen habe, haben die Soldaten Chris und mich losgelassen. Es war, als erwachten sie aus einer Art Hypnose, oder so ähnlich. Alles Prunkvolle verschwand aus dem Inneren der Libelle und Ebraxas Magie kehrte zu ihm zurück. Von den unterirdischen Kerkern wusste plötzlich keiner mehr was…“

      Das Bild meiner am Boden hockenden Mutter überlagert meine Gedanken und lassen mich für einen Augenblick verstummen.

      „Deine Mutter war in diesem Kerker?“, ruft Kitty geschockt aus.

      „Was? Wie… Oh, hast du es in ihren Gedanken gesehen? Ella war im Kerker der Libelle?“ Naomi schlägt die Hand vor ihren Mund und reißt die Augen auf.

      „Ja, ich habe sie gesehen, wenn auch nur kurz. Aber sie war es, da bin ich mir ganz sicher.“

      Ich muss schlucken und kann meine Tränen nur mit Mühe zurückhalten.

      Kitty legt ihre zarte, kühle Hand auf meine Schulter. „Wir werden sie finden, Scarlett.“

      Kapitel 5

      Nach rund zwei Stunden haben wir endlich das Küstengebiet erreicht. Ich dirigiere Chris anhand einer auf meinem Handy aufgerufenen Karte durch das kleine Dorf, vorbei an zahlreichen Fischrestaurants und Backsteinhäuser, deren kleine Fenster so tief liegen, dass die Fensterbänke beinahe mit dem Fußgängerweg auf der gleichen Höhe sind.

      „Irgendwie urig hier“, stellt Naomi fest und blickt mit einem Lächeln hinaus. „Ich kann verstehen, dass Elvira und Ella hier wohnen wollten. Es ist wirklich bezaubernd!“

      Kitty ist wenig beeindruckt. „Bezaubernd? Die Straßen sind viel zu eng, und dieses holprige Kopfsteinpflaster ist so mittelalterlich! Außerdem stinkt es nach Fisch!“

      Chris gibt ein kehliges Kichern von sich und biegt links in eine Straße ein, die auf der rechten Seite von einem grasbewachsenen Deich begrenzt wird. „Was du riechst ist kein Fisch, sondern die frische Seeluft“, korrigiert er sie.

      „Was auch immer“, winkt Kitty ab und verzieht angewidert das Gesicht.

      „Auf dieser Straße muss es sein“, sage ich und betrachte jedes einzelne der sich aneinanderreihenden Häuser auf der linken Seite. „Hausnummer sechsundzwanzig.“

      Es ist kurz nach Mittag, die Sonne steht an ihrem höchsten Punkt und wirft kaum einen Schatten, doch ich sehe trotzdem welche. Manchmal sind sie in den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen, oder sie lauern hinter Hecken. Ein länglicher Schatten gleitet wie ein Aal über den Fußgängerweg und verschwindet dann im Gulli. Sie sind überall und ich frage mich, ob sie schon immer da waren und ich sie nur nicht gesehen habe, oder ob sie erst jetzt aufgetaucht sind. Doch niemand sonst scheint sie zu bemerken und deswegen ignoriere ich sie auch. Vielleicht habe ich auch einfach nur ein Problem mit den Augen, immerhin war ich vor Kurzem noch tot!

      „Da ist es, Nummer sechsundzwanzig“, ruft Naomi aus und zeigt nach vorne auf ein rotes Backsteinhaus mit kleiner, blauweißer Windmühle im Vorgarten.

      Chris blinkt und biegt auf die schmale, lange Einfahrt ein. Noch ehe wir alle dem Bulli entstiegen sind, öffnet sich die Haustür und Elvira kommt heraus.

      „Kinder, ihr hättet doch nicht alle herkommen brauchen!“, ruft sie und ihre rot geränderten Augen füllen sich mit Tränen. Sie breitet die Arme aus und läuft zuerst auf mich zu, um mich fest an sich zu drücken. Ihr Schluchzen wird stärker und ihre Tränen durchnässen den Stoff auf meiner Schulter.

      Ich tätschle ihren Rücken und versuche sie zu beruhigen. „Es wird alles wieder gut, Elvira. Glaube mir“, sage ich.

      Sie hebt den Kopf und sieht mich ein wenig verwirrt und fragend an, doch dann kommt Naomi und zieht sie in ihre Arme, gefolgt von Kitty. Zum Schluss ist Chris dran, der sie nach der Umarmung am Unterarm stützend zurück ins Haus begleitet. Mit Schrecken sehe ich, wie meine Tante nach dem Verlust ihrer Schwester scheinbar über Nacht um zwanzig Jahre gealtert ist. Ihrer Haltung fehlt jegliche Spannung, die Schultern sind vornübergebeugt, ihr Gang ist zittrig und ihr gräulicher Bob mit den weißen Strähnen wirkt nun nicht mehr schick und edel, sondern nur noch alt.

      Kitty stößt mir mit dem Ellenbogen in die Seite und sieht mich kopfschüttelnd und mahnend an.

      „Was?“, frage ich, obwohl mir bereits klar ist, dass sie meine Gedanken ein weiteres Mal gelesen hat.

      „Sie steht unter Schock, Scarlett! Da ist es doch wohl egal, wie sie aussieht!“, zischt sie und folgt Chris und Elvira hinein ins Haus.

      Ich habe keine Kraft um meine gedachten Gedanken zu verteidigen oder wieder darüber zu diskutieren, warum es falsch von ihr ist, anderleuts Gedanken überhaupt zu lesen. Deshalb seufze ich nur und warte auf Naomi, die ihren Rucksack aus dem hinteren Teil des Bullis holt, um mit ihr gemeinsam den anderen ins Innere des Hauses zu folgen.

      Ich schließe die alte, leicht verzogene Haustür hinter uns und laufe Naomi einen langen, dunklen, schmalen Flur hinterher, der in ein geräumiges Wohnzimmer führt. Hellgrüner Teppich bedeckt den Boden, beige Polstermöbel mit braunem Blumenmuster stehen an der einen Wand, eine drei Meter lange Fensterbank mit rund zwanzig Orchideen darauf nimmt die andere Wand ein. Das Fenster ist mit weißem Organza verhangen, doch dahinter sehe ich schemenhaft mehrere Leute hin und hergehen.

      Naomi zieht die Gardine zur Seite und schaut auf die Terrasse hinaus. „Jo und Berny sind ja auch hier!“, ruft sie freudig aus, lässt die Gardine wieder fallen und steuert auf die offenstehende Tür zu, die in die Küche führt.

      Ich gehe ihr hinterher und zusammen entdecken wir eine Glastür, die von der Küche auf eine kleine überdachte Terrasse hinausführt. Jo und Berny sitzen nebeneinander auf einer Bank und geben jedem die Hand. Vor ihnen stehen jeweils Gläser mit Eistee und leere Kuchenteller.

      „Seid ihr schon lange hier?“, frage ich ein wenig verwirrt, nachdem auch ich die beiden begrüßt habe.

      „Wir sind sofort losgefahren, als Elvira uns angerufen hat“, antwortet