gerade noch rechtzeitig auf den roten Knopf drückte, blieb der Bus mit quietschenden Reifen stehen. Einige Passagiere schüttelten den Kopf. Stolpernd stieg ich aus und bemühte mich, schnell außer Sichtweite zu kommen. Ich bog in die Kreuzstraße ein und atmete ein paar Mal tief durch.
So etwas war mir noch nie passiert, aber Stolz und Vorurteil war einfach so schön gewesen, dass ich alles um mich herum vergessen hatte. Zum Glück war es heute Vormittag doch noch geliefert worden. Viel hatte ich aber noch nicht darin lesen können, denn nachdem Hannah und ich vorerst keine Lust mehr darauf hatten, uns mit Satanismus zu befassen, waren wir in der Stadt gewesen. Hannah hatte unbedingt etwas Neues zum Anziehen kaufen wollen, und im Gegensatz zu mir war sie auch fündig geworden. Sie war der Meinung, ein Shopping-Tag ohne volle Einkaufstaschen war ein verlorener Tag, aber ich sah das nicht so. Außerdem hätte ich eh kein Geld für neue Klamotten gehabt. Ich hatte mir in diesem Monat schon so viele Bücher gekauft, dass mein ganzes Taschengeld dabei drauf gegangen war. Und jetzt freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen, um weiterlesen zu können. Wenigstens war ich nur eine Haltestelle zu weit gefahren. Zwar war es noch recht mild, aber es fing an, zu nieseln, und ich hatte meinen Regenschirm zu Hause liegen lassen. Ich hätte weiter geradeaus durch die Klappergasse nach Hause laufen können, doch es zog mich wie immer in Richtung der kleinen Straße Hostig. Ich beschleunigte meine Schritte, um zu Hause zu sein, bevor es richtig anfing, zu regnen und lief den kleinen, düsteren Pfad entlang. Hier wurde es besonders schnell dunkel, denn überall gab es Bäume und Büsche. Außerdem verlief rechter Hand eine hohe Mauer, die das Gelände meiner Schule vor neugierigen Blicken schützen sollte. Ich hatte aber keine Angst, denn wir wohnten in einer guten Gegend, hier war noch nie was passiert. Der Heidelberger Stadtteil Wieblingen war ein friedliches Örtchen, und bei meiner Schule handelte es sich um eine Privatschule. Schnell ging ich also den kleinen Pfad entlang und hatte fast den Spielplatz auf der linken Seite erreicht, als ich ein komisches Geräusch hörte. Ich blieb stehen. Was war das? Für einen Moment hielt ich unbewusst die Luft an, aber es war nichts mehr zu hören. Ich wollte weitergehen, als plötzlich jemand schrie. Mein Herz schlug wie wild, ich zuckte zusammen. Die Geräusche kamen vom Spielplatz, der nur noch ein paar Meter entfernt war. Ich schluckte schwer und überlegte fieberhaft. Was sollte ich machen? Am liebsten wäre ich einfach nach Hause gerannt, aber was, wenn hier jemand Hilfe brauchte? Ganz in der Nähe war eine Polizeiwache, die könnten also schnell jemanden herschicken. Aber zuerst musste ich wissen, was hier eigentlich los war. So leise wie möglich schlich ich den Weg weiter entlang Richtung Spielplatz. Die Geräusche wurden immer lauter und mir immer schlechter. Und da sah ich sie: die Umrisse von drei Männern, die miteinander kämpften. Ich ließ einen erstickten Schrei los und schlug mir die Hand vor den Mund, um mich nicht zu verraten. Mein Herz schlug wie wild, ich konnte kaum noch richtig atmen. Hastig griff ich in meine Tasche und suchte nach meinem Handy. Warum hatte ich es nicht schon vorher herausgeholt? Vor Angst und Nervosität zitterten meine Hände, und ich ließ die Tasche fallen. Ich erstarrte, doch die Männer schienen nichts zu bemerken. Schnell hockte ich mich hin, leerte den kompletten Inhalt der Tasche auf dem Boden aus. Mit schweißnassen Händen griff ich nach meinem Handy. Scheiße, wie war die Nummer der Polizeiwache? Egal, dann eben 110. Das Blut rauschte in meinen Ohren, während die Sekunden vergingen. »Notruf, was kann ich für Sie tun?«, fragte eine weibliche Stimme. »Bitte schicken Sie sofort die Polizei her«, flüsterte ich. Meine Stimme zitterte. »Sie müssen lauter sprechen, ich habe Sie nicht verstanden.« »Ich kann nicht lauter sprechen«, antwortete ich und kroch auf allen Vieren rückwärts, um von den Männern wegzukommen. »Sie müssen die Polizei herschicken, bitte. Da kämpfen drei Männer miteinander.« In diesem Moment entdeckten sie mich. Mein Herz setzte einen kurzen Moment aus und schlug dann noch schneller weiter. »Wo sind Sie denn?«, wollte die Frau wissen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Zwei der Männer hielten inne und sahen zu mir hinüber. Der dritte Mann nutzte die Gelegenheit, riss sich los und rannte weg. Er kam genau auf mich zu. Die anderen beiden Männer folgten ihm sofort. »Hallo, sind Sie noch da? Wo befinden Sie sich?« Ich schluckte und antwortete mit zitternder Stimme: »In Heidelberg, Wieblingen. Der Spielplatz beim Gymnasium. Bitte, kommen Sie schnell.« Die Männer waren gleich bei mir. Tränen stiegen mir in die Augen. Mittlerweile zitterte nicht nur meine Stimme. Ich zitterte am ganzen Körper. »Ich werde sofort einen Streifenwagen losschicken. Sagen Sie mir noch schnell Ihren Namen.« »Emmalyn Blum«, antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. »Es wird gleich jemand da sein. Haben Sie keine Angst, und verhalten Sie sich ruhig.« Dann legte die Frau auf. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst wie in diesem Moment. Ich ließ das Handy auf den Boden fallen und stand auf, wollte wegrennen. Doch ich stolperte und fiel hin. Der erste Mann hatte mich fast erreicht, als die beiden anderen Männer ihn einholten. Beide Verfolger hatten Schwerter dabei. Ich wollte schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus. Einer der Männer schlug mit dem Schwert zu und traf den ersten Mann von hinten. Er fiel zu Boden und direkt auf meine Beine. Ich versuchte, nach hinten zu rutschen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Der Mann war zu schwer. »Stirb«, hörte ich eine tiefe Stimme. Ich konnte nicht sehen, wer gesprochen hatte. »Bitte tun Sie mir nichts«, stammelte ich. Meine Stimme war vor Angst kaum zu hören. Tränen strömten mir über die Wangen, und ich zitterte immer noch. Ich starrte auf die Schwerter der Männer. »Emmalyn?«, fragte einer der beiden ungläubig.
Custos umbrarum
Ich sah auf und erkannte Gabriel. Neben ihm stand ein zweiter Junge. War das sein Bruder? »Gabriel? Aber ...«
Weiter kam ich nicht, denn plötzlich war da ein vierter Mann und stürzte sich auf Gabriel. Er war immer noch irritiert, mich hier zu sehen. Nur mit Mühe wich er aus. Daraufhin ging der Mann auf den zweiten Jungen los, der nicht darauf vorbereitet war. Er versuchte, den Mann mit seinem Schwert abzuwehren, war aber nicht schnell genug. Der Mann traf den Jungen am Bein. Ich konnte nicht erkennen womit, denn er hatte mir den Rücken zugedreht. Das Schwert landete klirrend auf dem Boden. Der Junge schrie und stürzte. Mit beiden Händen umklammerte er sein Bein. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
»Joshua, verdammt«, rief Gabriel und versetzte dem Mann einen Tritt, sodass dieser zurücktaumelte. Nun konnte ich ihn sehen. Das war kein Mann. Das war nur der Schatten eines Mannes, ohne Konturen.
»Nein, bitte nicht«, stammelte ich und versuchte, mich von dem Mann auf meinen Beinen zu befreien.
Mit aller Kraft konnte ich ihn schließlich wegschieben. Gabriel schlug wie besessen mit seinem Schwert auf den Schattenmann ein. Wieder und wieder traf er ihn. Alles, was ich hörte, war Gabriels schwerer Atem, ansonsten war es still. Zu still. Der Schattenmann musste jeden Moment blutüberströmt zusammenbrechen. Ich wollte wegsehen, konnte es aber nicht. Und da sah ich, dass der Schattenmann zwar wankte, aber nicht blutete. Wie konnte das sein?
Gabriel holte etwas aus seiner Tasche und richtete es auf seinen Gegner. Eine Stichflamme schoss hervor und setzte den Schattenmann in Brand. Gabriel warf sein Schwert beiseite und stürzte zu seinem Bruder. Ich sah entgeistert zu, wie das seltsame Wesen von oben nach unten abbrannte und schließlich nur noch ein Häufchen Asche zurückblieb. Meine Ohren rauschten. Nur wie aus weiter Ferne hörte ich, dass Gabriel und sein Bruder sich unterhielten.
»Emmalyn.« Gabriel musste mehrmals meinen Namen gerufen haben, doch erst jetzt hörte ich ihn.
Ich sah ihn an. »Was war das?«, fragte ich leise.
»Hast du 'nen Gürtel?«, wollte Gabriel wissen. »Joshua ist verletzt, ich muss sein Bein abbinden.«
Ein Gürtel. Ich fasste an meine Taille und spürte etwas aus Leder. Ich wollte aufstehen, aber meine Beine gaben gleich nach, also kroch ich hinüber zu Gabriel. Etwas umständlich zog ich den Gürtel aus meiner Hose und reichte ihn Gabriel. Er legte ihn um Joshuas Bein.
»Gib mir bitte das Schwert«, bat er und deutete neben mich.
Ich fühlte mich immer noch wie in Trance und fragte nicht, was Gabriel damit vorhatte. Stattdessen griff ich nach Joshuas Schwert, das neben mir auf dem Boden lag, und warf einen kurzen Blick darauf. Es war relativ klein und hatte eine schwarze Klinge. Der Griff war dunkelgrün und mit kleinen Steinen in einem helleren Grünton verziert. Außerdem waren die Worte Custos umbrarum eingraviert. Ich reichte Gabriel das Schwert. Er stach damit eine weitere Öffnung in den Gürtel und