Peter Maier

Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft


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diese auch damals war.

      Die Kindheit ist noch nicht ganz vorbei. Ich meine sogar, sie darf nie ganz vorbei sein. Mein Vater sagte mir dies vor meiner Abreise: „Du musst erwachsen werden, aber dennoch irgendwo Kind bleiben, denn nur dieses ist wirklich kreativ. Der Erwachsene dagegen ist rational!“ Mein Vater meinte damit womöglich, dass ich nie „erwachsen“ bezüglich meiner Kreativität werden sollte. Gibt es nicht ein Zitat von Jesus, wonach man nur ins Himmelreich, das heißt in einen glücklichen Zustand, kommen könne, wenn man wie ein Kind fühlt?{9}

      Ich glaube, man muss beides leben können: Das Erwachsensein in der Arbeit und bezüglich der Verantwortung; beim Umgang mit anderen Menschen sollte man aber durchaus das Kind rauslassen, das lieben und verspielt sein kann; dies sind echte Kind-Eigenschaften.

      24.

      Was gehört nach Deiner Meinung zum Erwachsensein? Bei welcher Gelegenheit hast Du Dein Erwachsensein erfahren dürfen?

      Dazu gehört vor allem, dass man Verantwortung übernimmt für sich. Außerdem ist es wichtig, auch mal „Nein“ sagen zu können und dann möglicherweise ganz allein dazustehen mit seiner Meinung. Dies möchte ich mit einem Bild ausdrücken: Man muss so etwas wie ein Büffel sein können, der den Jungen in sich schützt mit seinem Haupt im Wind. Man muss fähig sein, aus der eigenen Überzeugung heraus „Nein“ zu sagen und den Schneid zu haben, gegen den Mainstream zu handeln, denn vielleicht liegen ja alle anderen falsch.

      Schließlich gehört zum Erwachsensein eine kräftige Portion Autonomie; man muss auch alleine existieren können. Diese Autonomie habe ich in Kanada erfahren, vor allem deshalb, weil ich dort mein eigenes Geld verdient habe. Ich habe in Kanada gelernt, bewusster zu handeln, das heißt zuerst nachzudenken und erst anschließend zu handeln. Dies bedeutet für mich ebenfalls, erwachsen zu sein.

      Ich glaube, zum Erwachsensein gehört es, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Dies habe ich natürlich noch nicht gelebt, weil ich dazu noch kaum Möglichkeiten gehabt habe. Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass man sein eigenes Wohl als sekundär, das seiner Familie und seiner eigenen Kinder als primär betrachtet.

      25.

      Wenn Du zum Schluss einfach Deine Gedanken sprudeln lässt: Was kommt Dir hoch, wenn Du jetzt nochmals an Deine Zeit in Kanada denkst?

      Um das Leben zu erfahren, musst du vor die Türe gehen, denn „dahoam sterben die Leit“! Du kannst nicht drinnen sitzen bleiben und erwarten, dass das Leben auf dich zufliegt, höchstens ein Flugzeug kann in deine Wohnung krachen. Ich würde keine Minute mit jemandem tauschen wollen, der nur zu Hause sitzt. Mein Opa hat einmal gesagt: „Ihr Jungen gammelt doch nur im Wessobrunner Park herum!“{10} Damit hat er sicher recht gehabt. Aber dennoch meine ich, dass es viel besser ist, sich Zeit zu lassen als zu früh in den Arbeitsprozess zu gehen. Ich glaube, die jungen Leute tun schon das Richtige, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Ich war sicher ein Spätzünder, aber ich habe dennoch das für mich Richtige gemacht, auch gerade bezüglich meiner Reise nach Kanada.

      Ich habe noch viel vor im Leben. Und die Erweiterung meiner eigenen Perspektiven durch diese Reise haben erheblich dazu beigetragen, dass ich Pläne und Visionen habe.

      So weit der Erfahrungsbericht von Julian. Bleibt noch festzuhalten, dass Julian zum Zeitpunkt dieses Interviews soeben alle Prüfungen des 5. Semesters mit Erfolg bewältigt hatte. Ein Jahr später schaffte er den Bachelor mit Auszeichnung und spätestens 2013 will er den „Master“ in der Tasche haben.

       (2) Reise ins Erwachsensein?

      Die Reise ganz allein war eine starke Leistung. Ist Julian dadurch aber wirklich erwachsen geworden? Um dies beantworten zu können, möchte ich im Folgenden seine Reise und die dabei vor sich gehenden Veränderungen von Julian unter dem Blickwinkel der „acht Kriterien des Erwachsenwerdens“ näher betrachten, die im ersten Band{11} ausführlich beschrieben wurden. Dazu sollen diese Kriterien zunächst in Kurzform wiederholt werden:

       1. Kriterium: Erleben und Gestaltung der eigenen Sexualität – erste Ablösung von den Eltern.

       2. Kriterium: Fähigkeit, allein sein zu können.

       3. Kriterium: Bereitschaft, Entbehrung und Schmerz auf sich zu nehmen und sich seinen Ängsten zu stellen - Mutproben.

       4. Kriterium: Erfahrung der inneren und der „anderen“ Welt, Erkennen der eigenen Lebensspur.

       5. Kriterium: Kontakt zu den eigenen Ahnen und zur Geschichte.

       6. Kriterium: Erkennen der eigenen Lebensaufgabe – Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung.

       7. Kriterium: Bezeugung, Bestätigung und Anerkennung durch die Gemeinschaft – Initiationszeichen.

       8. Kriterium: (Endgültige) Ablösung von den Eltern.

      Fast alle Kriterien sind erfüllt

      Für Julian bedeutete die Kanada-Reise eine sehr deutliche Ablösung von seinen Eltern (1. und 8. Kriterium). Er musste dort ganz alleine zurecht kommen. Selbst im Falle einer schlimmen Krise hätte es einige Tage gedauert, bis er wieder in München gewesen wäre.

      Die Fähigkeit, alleine zu sein, hat er dabei wirklich deutlich unter Beweis stellen müssen. Die schwierigste Phase war die Weihnachtszeit, wo er sich etwa zehn Tage lang emotional fast mutterseelenallein durchschlagen musste. Aber auch während der ganzen Reise musste er immer wieder mit sich allein zurechtkommen. Gerade dadurch konnte er sich aber besser kennenlernen. Anscheinend war in ihm so viel Urvertrauen gespeichert, dass er sich diese lange Zeit des Alleinseins zumuten konnte, ohne psychisch einzubrechen, in Panik zu geraten oder in eine größere Depression zu verfallen (2. Kriterium).

      Die ganze Reise war eine einzige Mutprobe. Dies schloss die Bereitschaft ein, Entbehrungen auf sich zu nehmen, einsame Stunden und Tage auszuhalten, mit ziemlich wenig Geld und Komfort auszukommen und sich den eigenen Ängsten zu stellen. Die Visionssuche in den USA war dabei eine zusätzliche Herausforderung (3. Kriterium).

      Er lernte sich in den zehn Monaten in Kanada viel besser kennen.Während es in seiner Clique in München immer darum ging, sein Gesicht zu wahren, cool zu wirken und ja keine persönlichen Gefühle zu zeigen, war die Reise eine echte „Heldenfahrt“ zu sich selbst und in sein Inneres. Durch die extremen Umstände des ganzen Unternehmens lernte Julian nun erst Gefühle kennen, die ihm bis dahin unbekannt waren: besonders Existenzängste und Einsamkeitsgefühle. Zudem bestand die Notwendigkeit, sich vor allem auf dem Bau als körperlich kleiner junger Ausländer gegen große einheimische Mitarbeiterkollegen behaupten zu müssen. Außerdem musste Julian während seiner Reise mehrmals seine Fähigkeit unter Beweis stellen, sich immer wieder neu organisieren zu können. In Amerkia hatte er nämlich keinen Schutz mehr durch die Clique oder durch seine Eltern (4. Kriterium).

      Da er während seiner Kanadazeit auch noch eine Visionssuche bei der „School of Lost Borders“{12} in den USA machte, lernte er viel von der magischen, “anderen“ Welt in der Natur kennen, vor allem, als er während der Solozeit für vier Tage und Nächte ganz alleine und fastend draußen in der Wildnis weilte. Darüber wird später noch ausführlicher zu sprechen sein (4. Kriterium).

      Während seiner Visionssuche geschah noch etwas Verrücktes: Da er vier Tage und vier Nächte nichts essen durfte, glaubte er, diese Solozeit nicht mehr durchstehen zu können. Wie so viele Menschen war er es gewohnt, einfach einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen, sobald ein leichtes Hungergefühl auftaucht. Diese Gewohnheit konnte jetzt aber nicht befriedigt werden. Was tun? Er ging in die Phantasiewelt und malte sich dort mindestens 100 verschiedene Gerichte aus, die er alle kochen wollte, sobald er wieder in Deutschland war. Tatsächlich hat er danach in München einen Kurs bei einem bekannten Fernsehkoch absolviert und ist nun in der Lage, eine ganze Großfamilie alleine zu bekochen.

      In der Fremde erst wurde ihm bewusst, wie wichtig ihm seine eigene Familie ist. Er konnte