nach den Konzentrationslagern und nach Neonazis in Deutschland gefragt wurde. Daher musste er sich viel intensiver als zu Hause mit der eigenen Geschichte auseinander setzten, erlebte aber auch anerkennende Rückmeldungen als Deutscher (5. Kriterium).
In dieser Zeit, in der er Licht- und Schattenseiten bei den verschiedenen Arbeitsstellen kennen lernen musste, reifte in ihm der Entschluss heran, nach der Rückkehr ein Studium zu beginnen und sich diesem mit voller Kraft zu widmen. Aber auch ganz grundsätzlich durfte er in Kanada erfahren, dass es letztlich nur auf ihn alleine ankommt, wenn er im Leben etwas erreichen und für sich selbst sorgen will. Damit hatte er in sich einen vollkommenen Paradigmenwechsel vollzogen. Während seiner ganzen Schulzeit ging es in seiner Klasse und in seiner Clique ausschließlich darum, nichts zu lernen, sich mit den Lehrern anzulegen, sie für etwaige schlechte Noten verantwortlich zu machen, Partys zu feiern und mit Freunden zu saufen. Jetzt war er vollkommen bereit, die Verantwortung für sich und sein kommendes Studium zu übernehmen und dem Rat einiger Verwandten zu folgen, dieses von Anfang an mit voller Kraft zu beginnen (6. Kriterium).
Julian kehrte völlig verändert zurück: War er noch als wirklich „grüner“ Junge abgereist, so kam nun ein viel reiferer junger Mann wieder nach Hause. Dies hatten bereits seine Eltern feststellen können, die ihn ja in Kanada besuchten. Der Onkel aber, der ihm besonders zugetan war und sein ganzes Unternehmen von Anfang an begleitet hatte, konnte die Veränderung nach zehn Monaten wohl am deutlichsten wahrnehmen. Bei der bereits im Interview erwähnten Familienfeier oblag es ihm, Julian bei dieser Gelegenheit offiziell und mit voller Überzeugung als „erwachsen“ zu erklären. Dies wurde zusätzlich mit einem kleinen Geschenk ausgedrückt, das eine Erinnerung an und eine Würdigung der Reise sein sollte. Das alles war sehr wichtig für Julian. Denn erst dadurch war seine Heldenreise zu sich selbst – gleichsam in einem Ritual - zu einem gewissen Abschluss gekommen. Jetzt konnte er sich mit Mut und Kraft, sowie mit der Anerkennung durch seiner Verwandtschaft im Rücken, seiner neuen Aufgabe - dem Studium - zuwenden (7. Kriterium).
Ist Julian nun wirklich ganz erwachsen? Diese Frage kann nur mit einem „Jein“ beantwortet werden. Denn er wohnt noch zu Hause und ist finanziell noch von seinen Eltern abhängig. Dies wird sich erst ändern, wenn er sein eigenes Geld verdient (8. Kriterium). Dennoch hat Julian das an Eigenständigkeit und Erwachsensein herausgeholt, was in seinem Alter und in seiner Situation als Student möglich ist. Kanada ist für ihn zu einer Heldenfahrt zu sich selbst und in sein Erwachsensein geworden. Die Auslandsreise hat alles verändert und kann bei ihm mit gutem Recht als ein gelungener Prozess zum Erwachsenwerden bezeichnet werden.
Initiationsrituale fehlen in unserer Gesellschaft
Bedauerlicherweise fehlt diese Erfahrung so vielen jungen Leuten in unserer heutigen Gesellschaft, die den Mut und die Kraft nicht aufbringen, solch eine aufwendige „Erwachsenenprüfung“ wie Julian zu machen. Leider mangelt es bei vielen Jugendlichen und deren Eltern, ja in unserer Gesellschaft insgesamt, an der Einsicht in die Notwendigkeit einer bewussten Initiation und an dem Wissen von geeigneten Initiationsritualen, durch die das Erwachsenwerden erreicht werden könnte. Darüber wurde in Band I (ÜR) ausführlich geschrieben.
In diesem zweiten Band soll es darum gehen, wie, auf welche Weise und mit welchen Ritualen eine Initiation geschehen kann. Zu Beginn genauerer Überlegungen sollen dazu einige grundlegende Fragen gestellt werden:
Warum ist „Initiation“, also der bewusste und rituell gestaltete Übergang von der Jugendzeit ins Erwachsensein, denn so wichtig?
Welche Quellen haben wir in unserem westlichen Kulturkreis, auf die wir bei der Behandlung und Beantwortung dieser Thematik „Initiation“ zurückgreifen können?
Wie können heute geeignete Initiationsrituale, Prüfungen für das Erwachsenwerden, aussehen, damit sie sowohl von den Eltern als auch von den Jugendlichen selbst verstanden, ernst- und angenommen werden können?
„Wohinein“ sollen wir denn als verantwortliche Erwachsene unsere Jugendlichen heute initiieren? In welche Vorstellung von der Welt wollen wir die Heranwachsenden hineinführen?
Wie soll das Weltbild denn aussehen, das in unserer globalisierten und von Umweltkatastrophen bedrohten Welt Gültigkeit haben und den Heranwachsenden Sicherheit, Schutz, Klarheit, Glück und vor allem eine sinnvolle Zukunft vermitteln kann?
Wer kann unsere Jugendlichen eigentlich dazu anleiten, für sich und für die Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen?
Wer kann als Mentor diese wichtige Aufgabe leisten, die Heranwachsenden einfühlsam, verständnisvoll und doch mit der notwendigen Klarheit ins Erwachsensein hinein zu führen?
Die Beantwortung dieser Fragen gehört essentiell zu einer gelingenden Initiation dazu. Gleichzeitig geht es darum, ob es der Menschheit des beginnenden dritten Jahrtausends gelingt, auf all die drängenden Fragen wie etwa nach der Begrenztheit der Ressourcen, der Aufheizung des Weltklimas, der Eindämmung der Umweltverschmutzung und der Lösung des Energieproblems schlüssige und überzeugende Antworten zu finden. Davon hängt nicht weniger als die Zukunft für die nachdrängenden Generationen, ja für die ganze Welt ab. Heranwachsende brauchen überzeugende Antworten auf obige Fragen und Themen, wenn sie in ihr eigenes, verantwortliches Leben gehen sollen.
Aber zurück zu dem konkreten Fall von Julian: Er hat instinktiv eine Möglichkeit für sich entdeckt, wie er zu seiner Identität und Verantwortlichkeit, zu seinem Lebenssinn, zu seiner Berufswahl und letztlich zu sich selbst als erwachsenem jungen Mann in dieser Gesellschaft finden konnte. Dabei hat er – ohne sich darüber wirklich bewusst zu sein – den Archetypus der „Heldenreise“ in sich aktiviert und dadurch altes, kollektives, seit vielen Jahrtausenden bei allen Völkern der Welt tradiertes Wissen anzapfen können. Dies hat ihm die Kraft und die eigentliche Motivation dafür gegeben, sein „Abenteuer“ zu bestehen.
Seine Reise nach Kanada war eher nur der äußere Rahmen und Katalysator für seinen inneren Wunsch und für den Prozess, sich zu finden. Wenn wir in unserer westlichen Gesellschaft Rituale und Prüfungen für unsere Jugendlichen entwickeln wollen, durch die sie erwachsen werden können, sollten wir als nächstes einen genaueren Blick auf diesen bereits mehrfach erwähnten, uralten Mythos der „Heldenreise“ werfen. Denn er kann in seiner Grundidee exakt das liefern, was wir beim Thema „Erwachsenwerden“ suchen.
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