Thomas Helm

Ost-wärts


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über Land auf andere Standorte. Und überall passierte etwas, das man mit der Kamera festhalten musste.

      »Was gibt’s denn so Wichtiges zu knipsen? Hoffentlich keine nackten Mädels?«, fragte Kappner, wobei er sich hinter seinem Schreibtisch emporschraubte. »Da bekomme ich nämlich Ärger mit meiner Frau!«

      Faber räusperte sich, senkte Blick und Stimme. »Wir haben einen Toten! Er hat sich auf den ersten Blick besehen

      – erhängt.«

      Wenige Minuten später stapfte Kappner an Fabers Seite durch das Wohnlager. Die Füße in gefütterten Lederstiefeln, den Webpelzkragen der Wattejacke bis zu den Ohren geschlossen. Gleich, als sie hinaus ins Freie traten, hatte er die Ohrenklappen seiner Schapka herunter gezerrt. »Mann! Ist das heute wieder eine Dürre!«, maulte er und drängte aus dem langen Schatten eines der Gebäude heraus.

      »Na ja, in der Sonne kann man es aushalten. Es sind ja bloß fünfundzwanzig Nasse«, entgegnete Faber lapidar. Dabei deutete er auf den abgehenden Seitenweg. »Da links! Die vordere WUD in der ersten Reihe. Dort müssen wir hin!«

      »Zur Unterkunft von Knallgas?«, keuchte Kappner überrascht. Er wirkte einen Tick außer Puste vom raschen Gehen. Und obwohl er soeben etwas schnodderig übers Wetter sprach, kreisten seine Gedanken um Fabers Ankündigung. Die in ihm sogleich ein mulmiges Gefühl ausgelöst hatte.

      »Korrekt! Dort wohnen die Jungs von RIV«, bestätigte Faber seine Anfrage. Er grinste, da sich Kappners Atem bereits als zottiges Eis in dessen Schnauzer festgesetzt hatte.

      Also die RIV-Truppe«, dachte der Versorger, als sie auf den Eingang der Wohnunterkunft zu schlitterten. »Reinigen- Isolieren-Versenken« – eben RIV! Und von denen soll sich einer erhängt haben?

      Nun, einige von den Burschen kannte er vom Ansehen. Seit dem letzten Herbst hatte er draußen am Rohr bei seinen Kontrollfahrten zu den Stolowajas vom RIV mehrfach recht ordentliche Fotos gemacht. Zudem sah er diese eingeschworene Meute auch fast jeden Abend im Speisesaal. Er traf sie in der Kneipe und ebenso am »Brett«.

      Diese Sorte der »Schwarzen« gab sich recht umgänglich. Denn die hauten nicht so auf die Kacke, wie andere von »Knallgas«. Insbesondere wie jene, die ständig als die – wahren Trassenhelden aufführten. So, wie es auch in der »Jungen Welt« gern propagiert wurde.

      Den kleinen, dicken Brigadier mit dem zotteligen Vollbart, der ihn an Rübezahl erinnerte, kannte er noch von der »alten Trasse« her. Von einer Baustelle bei Spola in der Ukraine. Bisher war er mit dem Burschen immer zurechtgekommen.

      Sie hatten den Barackeneingang, wo sich beiderseits mannshoch der Schnee türmte schnell erreicht.

      Auf dem Lattenrost vor der Tür traten sie ihre Stiefel ab, um danach durch den halbdunklen Vorraum der Wohnunterkunft zu poltern.

      Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen dreckigen Stiefeln und Arbeitsschuhen hindurch die vor den Schuhregalen am Boden herumlagen.

      Die Dienstleister reinigten alle Baracken regelmäßig nach einem abgestimmten Plan. Doch das Stiefelputzen war dabei natürlich nicht mit drin!

      Der chaotische Anblick von verdrecktem Schuhwerk bot sich daher mehr oder minder ausgeprägt auch in fast allen anderen Wohnunterkünften vom Typ Dölbau.

      Dabei war es völlig egal, welches Gewerk dort gerade wohnte. Schlamm und Moder begleiteten alle gleichermaßen übers Jahr. Und wer putzt schon gerne jeden Tag seine versifften Stiefel?

      Ihre Sohlen lärmten auf dem blanken Kunststoffbelag der Raumzellen. Faber ging zielstrebig den Flur zum linken hinteren Zimmer voran. Als der Mann für die Sicherheit holte den passenden Schlüssel aus seiner Jackentasche. Mit einem bedeutungsvollen Blick auf den Versorgungschef schloss er die Tür auf.

      Zögerlich betrat Kappner nach ihm den Raum.

      Der gewohnte Dunst einer überheizten Unterkunft schlug ihnen entgegen. Diese edle Mischung aus ungewaschenen Socken, kaltem Zigarettenqualm, verschütteten Bier, Deo Spray und – Furz.

      Faber schob hastig die Vorhänge vor den beiden Fenstern beiseite. »Ich lass’ mal kurz frische Luft rein«, presste er zwischen den Zähnen heraus.

      Kappner machte einen weiteren Schritt in das Zimmer hinein. Er blieb jedoch wie gebannt stehen. »Es riecht nicht nach Tod!«, beruhigte er sich leise flüsternd. »Es ist nur der übliche Gestank eines voll belegten Quartiers!« Doch etwas Unfassbares schien in diesem Raum zu sein. Das ihm ein spürbares Unbehagen bereitete. Sein Blick wanderte langsam umher. Er registrierte jedes Detail, das sich seinen Augen anbot.

      Ebenso, wie in anderen Wohnunterkünften auch hatte man hier die Wände mit verschiedenen Postern bepflastert. Silly, Queen, Rennautos – ja sogar nackte Weiber aus alten Westzeitschriften boten sich dem Betrachter dar.

      Auf einem kleinen Wandregal wie auch auf dem Kasten von einem Klappbett stand das gewohnte Interieur. Krimskrams den man in fast allen Unterkünften antraf. Ein kitschiger Samowar, eine Pornolampe, ein Kassettenrekorder von »Sternradio« nebst bunten Kassettenboxen. Aber auch eine kleine sowjetische Kaffeemaschine mit angeschmortem Gehäuse.

      Die drei Betten waren am Morgen natürlich nicht gemacht worden!

      Auf dem Tisch mitten im Raum sah er neben zwei leeren Bierflaschen einen überquellenden Aschebecher auf der gemusterten Wachstuchdecke. Dazu eine halb geleerte Flasche mit edlem »Wilthener Weinbrand«. Einige bereits an den Rändern angetrocknete Bierlachen sowie jede Menge Zigarettenasche vollendeten das Stillleben.

      Doch nicht das fesselte letztlich seinen Blick.

      Bei dem hinteren der drei Schränke, die nebeneinander entlang der Wand standen, sperrte die rechte Tür weit auf.

      Einer der üblichen, blauen Wollschals hing, zu einer Schlaufe geschlungen, über der oberen Kante der geöffneten Schranktür.

      Solch ein Gestrick erhielt hier im Permer Bauabschnitt jeder gleich nach der Ersteinreise. Er gehörte zur »Permkleidung« für den Wintereinsatz.

      Der straff gespannte, dunkelblaue Schal führte schräg abwärts, wo er mit dem unteren Ende um den Hals eines jungen Mannes geknotet war.

      Der saß leicht nach vorn gebeugt vor dem offenen Schrank auf dem schmutzigen Fußboden. Seine Arme hingen schlaff herab. Die geöffneten Hände lagen mit den Handrücken auf dem Boden auf. Der Kopf neigte sich über der Schlinge etwas zur Seite.

      Der Tote trug einen modischen, weinroten Samtpullover zu den neu aussehenden Jeans.

      So, wie das ausschaut, hat er das alles aus dem Exquisitladen schoss es Kappner durch den Kopf.

      Die Füße des Toten steckten in halbhohen, teuren Wildlederstiefeletten mit Reißverschlüssen. Was die Vermutung des Versorgers noch bestärkte.

       Er schaltete den Blitz ein und schob das summende Gerät auf die Kamera. Hastig schoss er die ersten Fotos. Leise murmelnd kommentierte er dabei alles, was er sah.

       Faber reagierte darauf nicht, schaute nur stumm zu.

      »Seltsam! Er ist genauso angezogen, als ob er gleich in die Stadt ausgehen wollte«, sagte Kappner betont laut an den Sicherheitschef gewandt.

      Als er noch näher an den Toten herantrat, machte ihm unvermittelt sein Magen zu schaffen. Er schluckte heftig. Überdies bemerkte er, dass seine Hände die den Apparat umklammerten, leicht zitterten.

      Mit einiger Überwindung bückte er sich zu dem Toten herab. Aufmerksam blickte er in das bleiche jedoch entspannt wirkende Gesicht.

      Bei dem aber, was er dabei sah, verspürte er sofort ein unangenehmes Kribbeln im gesamten Körper.

      Denn die offenen Augen, die Spuren getrockneten Blutes unter der Nase und die aufeinander gepressten Lippen nahm er fast überdeutlich wahr.

      Plötzlich erschrak er.

      Sicherlich wegen der Wärme im Zimmer bedingt begannen die seit Stunden geöffneten Augen des Toten, bereits einzutrocknen.

      Solches war