Thomas Helm

Ost-wärts


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ließen sofort die offenen Bierflaschen vom Tisch verschwinden, als sie ihres Chefs ansichtig wurden.

      Kappner reagierte abgesehen von einem missbilligenden Kopfschütteln im Moment nicht auf diesen Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin. Das konnte er später nachholen.

      »Bloß ein Bierchen zum Mittagessen!« Kretzschinski, der Techniker, versuchte sich in einer etwas hilflos wirkenden Erklärung.

      »Noch so ’n Ding und es rappelt im Karton!«, entgegnete Kappner mit grimmiger Miene. Dann jedoch fragte er die beiden noch rasch über den Fortgang ihrer Vorbereitungen ab. Den Technikern oblagen die Anbringung der Faschingsdekoration im Speisesaal und der Aufbau einiger anderer Dinge. Schließlich wollte der HAN-Versorgung auch heute bei der Faschingsfeier der Baustelle, mit dem Fest-Büfett glänzen. Und nicht durch irgendwelche Pannen negativ auffallen!

      Letztlich informierte er die Schluckspechte darüber, dass er sicherlich noch einige Zeit im Labor zu tun haben würde.

      Der Buschfunk hatte bereits gearbeitet. Die beiden wollten daher unbedingt etwas über den Todesfall in Erfahrung bringen. Über den schon heftig gemunkelt wurde.

      Der Versorgungschef winkte aber nur ab. Mit seiner Kamera in der Hand lief er festen Schrittes in Richtung Fotolabor. Das befand sich in einem toten Verbindungsteil zwischen den beiden Speiseräumen.

      Es war kurz nach dem Aufbau der Raumzellenküche entstanden. Auch durch Kappners Initiative, seiner Hände Arbeit und nach Feierabend. Deshalb konnte er das Labor jederzeit für seine privaten Fotoarbeiten nutzen.

      Doch momentan stand er vor verschlossener Tür. In der Dunkelkammer werkelte irgendjemand herum.

      Ungeduldig hämmerte Kappner mit der Faust gegen die Hartfaserplatten. Wenig später hörte er von drinnen die empörte Stimme des Kulturniks.

      Offiziell bezeichneten sich »Beethoven« und seine Leute als »Mitarbeiter des Hauptauftragnehmers für Kultur«. Doch auf allen Baustellen rief man diese Jungs und Mädels nur kurz – »die Kulturniks«. Und das schon seit der Drushba-Trasse!

      Nach langen Minuten steckte der Kulturschaffende den brünetten, wirren Wuschelkopf, dem er seinen Spitznamen verdankte, aus der Tür heraus. Etwas irritiert blinzelte er ins helle Licht.

      Kappner erklärte ihm kurz die dringliche Sachlage. Aber Beethoven war sowieso mit seiner Arbeit fertig.

      Der Versorgungschef übernahm das Fotolabor. Er entwickelte den Film und trocknete ihn anschließend über dem elektrischen Heizstrahler. Von allen Bildern, die ihm gelungen waren, machte er Abzüge. Dabei bemerkte er einige Merkwürdigkeiten. Woraufhin er zusätzlich noch mehrere Ausschnitte vergrößerte.

      Während die Trockenpresse ihre Arbeit tat, sichtete er. Auf einem der großformatigen Fotos entdeckte er im Nacken des Toten einen schmalen, dunklen Streifen. Den die Schlinge des Schals aber weitestgehend verdeckte. Kappner, wahrlich kein Fachmann auf diesem Gebiet, vermutete dort einen Bluterguss. Als wahrscheinlich anzunehmende Folge eines Schlages. Auch der fest zusammengepresste Mund des Toten und das Blut an seiner Nase gaben ihm zu denken.

      Sollte der Bursche bei einer Strangulation seine Zunge nicht wenigstens ein Stück weit herausstrecken, wie man es von Erhängten gemeinhin kannte? Plötzlich ergriff Kappner die vage Ahnung, dass es bei diesem Selbstmord einige Unstimmigkeiten zu geben schien. Aber was verstand er von solchen Dingen und war das alles sein Problem?

      Ohne sich weitere Gedanken zu machen, übergab er am frühen Nachmittag wunschgemäß die normalen Abzüge im Postkartenformat an Faber.

      In einem extra Umschlag steckten die Bilder für die Sowjets. Auch die Filmbüchse mit dem Negativfilm stellte er vor ihm auf den Schreibtisch. Mehrere spezielle Vergrößerungen hatte er zudem in ein größeres Kuvert gepackt.

      Diesen Umschlag drückte er dem Sicherheitschef mit dem bedeutungsvollen Hinweis auf »einig erkennbare Merkwürdigkeiten« persönlich in die Hand.

      Justus Faber schaute überrascht zu Kappner auf und bedankte sich kurz. Sein Blick blieb jedoch fragend auf den Versorger gerichtet.

      Doch der tat so, als ob er es nicht bemerkte, und verließ rasch das Büro.

       Austausch von Neuigkeiten

      Den gesamten Nachmittag über brannte im Büro vom Leiter für Sicherheit die Luft. Wie man so sagt.

      Fast der Verzweiflung nahe, kämpfte Justus Faber mit den Tücken der sowjetischen Fernmeldetechnik. Ebenso mit den betrieblichen Vorschriften des Generallieferanten.

      Dazu kam, dass der Baustellenleiter und der Parteisekretär vom FGLB unangemeldet bei ihm aufschlugen.

      Sie verlangten einen Bericht über das Vorkommnis und den aktuellen Sachstand der Abarbeitung.

      Endlich, nach drei Zigarettenlängen und ebenso vielen Tassen Kaffee, verschwanden sie.

      Das alles passierte bereits, bevor Kappner die Fotos bei ihm ablieferte.

      Wenig später polterte rotgesichtig und durchfroren der Verantwortliche des MfS für den Bauabschnitt herein. Der Genosse Zernick.

      Vom Standort Karamorka kommend, wo Faber ihn am frühen Vormittag telefonisch erreicht hatte, war er mit seinem weißen NIVA augenscheinlich soeben erst im Wohnlager eingetroffen.

      Während er die Tür hinter sich schloss, rief er witziger weise seinen Gruß auf Russisch aus. »Priwjet!«

      Faber indes blieb ihm vorerst eine Erwiderung schuldig. Er Verdrehte nur genervt die Augen und atmete tief durch.

      Zernick, der perfekt und akzentfrei die russische Sprache beherrschte, warf seine rotbraune Fuchs-Schapka oben auf den Kleiderständer. Danach schälte er sich aus der gesteppten Jacke. Er deutete auf seinen dunkelgrünen Pullover, den quer über die Brust ein Norwegermuster zierte. »Von meiner Lydia eigenhändig gestrickt! Hättest du das für möglich gehalten?«

      Faber schaute von seinem Schreibtisch aus zu Zernick hoch und schüttelte nachsichtig den Kopf. »Nee, das sicherlich nicht!« Er kannte den Major bereits seit Vierundachtzig. Damals hatten sie zusammen mit knapp hundert Bauarbeitern im Sporthotel unten in der Stadt Prokowski vorübergehend Quartier genommen.

      Zu dieser Zeit gab es das Wohnlager im Walde noch nicht. Aber Zernick war längst hier vor Ort gewesen. Als einer der Ersten kam er bereits Dreiundachtzig auf diesen Bauabschnitt. Mit Lydia war er zu dieser Zeit schon verheiratet. Eine Russin aus Perm. Ein junges, hübsches Ding, Mitte der Zwanzig.

      Der Major hingegen hatte die Vierzig überschritten und eine Scheidung hinter sich gebracht.

      Im Gegensatz zu Faber zeigte der Major nicht einmal einen kleinen Bauchansatz. Der Berliner war zudem überzeugter Nichtraucher. Mit über einsachtzig Körperhöhe wirkte er kräftig und sportlich. Er trug kurzes, brünettes Kopfhaar, das an den Schläfen bereits etwas grau schimmerte.

      Zernick putzte gelassen seine schmalrandige Brille, die von der feuchten Wärme im Raum rasch beschlagen wurde.

      Schließlich ließ er sich auf den Stuhl vor Fabers Schreibtisch fallen. Er starrte den Sicherheitschef aus hellblauen Augen bohrend an und hob fragend die dichten Brauen. »Na, dann schieß mal los, Justus! Was ist hier passiert?« Auf etwas knurrige Art eröffnete der Major die Befragung.

      Gelassen zündete sich Faber eine Zigarette an. Obwohl er Zernicks Abneigung gegen das Rauchen kannte. Die vor ihm liegenden Notizen dienten ihm als Basis für seinen Bericht. Als er am Ende die zusätzlichen Vergrößerungen erwähnte, die ihm Kappner gesondert mit den anderen Fotos übergeben hatte, legte Zernick die Stirn in Falten. Rasch schob ihm Faber die Abzüge über den Schreibtisch hin.

      Der für den Bauabschnitt verantwortliche Mitarbeiter der Staatssicherheit zeigte sich überrascht von dem, was er zu sehen bekam. »Sag mal, Genosse Faber«, fragte er, nachdem er alle Bilder eingehend gemustert hatte. »Den jungen Mann hier, der mit dem Schal um den Hals auf dem Fußboden herumsitzt, den kenne ich doch? Kann es sein, dass ich den öfters mit eurem DSF-Vorsitzenden zusammen gesehen habe?